# taz.de -- Lammert über Merkels Russlandpolitik: „Kein ewiges Schweigegelübde“
       
       > Wird sich Angela Merkel bald zur eigenen Russlandpolitik äußern?
       > Ex-Bundestagspräsident Lammert glaubt das – und kritisiert die
       > Kommunikation des amtierenden Kanzlers.
       
 (IMG) Bild: „So etwas wie die Personalisierung eines Zeitgeistes“, sagt Lammert über Merkels Kanzlerschaft
       
       taz: Herr Lammert, Deutschland war bei Kriegseinsätzen des Westens eher
       zurückhaltend. Muss sich die deutsche Rolle in EU und Nato nach [1][dem
       russischen Überfall auf die Ukraine] ändern? 
       
       Norbert Lammert: Die in Politik und Medien erklärte Zeitenwende erschüttert
       die traditionell ausgeprägte deutsche Neigung zum Pazifismus stark. Vieles
       spricht dafür, dass diese Veränderung längerfristig sein wird. Die
       notwendigen Veränderungen werden für das Selbstverständnis Europas und der
       EU als verfasster Staatengemeinschaft beinahe noch wichtiger sein als die
       Veränderungen in Deutschland. Allerdings werden diese Veränderungen in
       Europa gar nicht zustande kommen können, wenn sie nicht mit Veränderungen
       in Deutschland verbunden sind.
       
       Was heißt das konkret? 
       
       Dass eine europäische Sicherheitsarchitektur erforderlich ist – nicht
       anstelle der Nato, aber als eigenständiger Bestandteil der Nato. Und ohne
       besonderen Beitrag Deutschlands und Frankreichs wird es dazu nicht kommen.
       Das setzt in beiden Ländern eine ungemütliche Diskussion über zwei
       festgefügte Tabus voraus. Auf französischer Seite, was die nationale
       Verfügungsgewalt über das einzige in der EU verfügbare nukleare
       Waffenpotenzial anbelangt. Und auf deutscher Seite, was die Parlamentsarmee
       betrifft.
       
       Deutschland muss sich von der Parlamentsarmee verabschieden? 
       
       Nein, aber für eine europäische Sicherheitsarchitektur müssen wir darüber
       nachdenken, wie die bewährte Mitwirkung des Parlaments an der Entscheidung
       über Einsätze mit der notwendigen Supranationalität der Einsatzfähigkeit
       einer neuen Struktur verbunden werden kann.
       
       Das Kanzleramt hat mit dem Argument, dass die Gefahr eines Atomkriegs
       größer würde, lange gegen die Lieferung von schweren Waffen argumentiert.
       Wie beurteilen Sie das? 
       
       Abstrakt betrachtet, sind beide Annahmen über die Wirkungen des Einsatzes
       oder Nichteinsatzes bestimmter Waffensysteme plausible Annahmen, die aber
       jeweils nicht beweisfähig sind. Da auf der russischen Seite offenkundig
       alles nur von einem Kommando abhängt, kann niemand die Frage schlüssig
       beantworten, welches dieser beiden Szenarien wirklichkeitsnäher ist.
       
       Sie verstehen die Argumentation von Olaf Scholz? 
       
       Seine Besorgnisse sind ja nicht frei erfunden. Aber ich finde
       problematisch, dass er diese nicht offensiv begründet. Die Bereitschaft und
       Fähigkeit zur Kommunikation ist inzwischen vielleicht die wichtigste
       Qualifikation von Spitzenpolitikern. Ob bei Gesundheitsfragen, beim Klima
       oder beim Militär: Patentlösungen gibt es nicht mehr. Deshalb ist es
       notwendig, die Öffentlichkeit an dem Abwägungsprozess teilnehmen zu lassen.
       [2][Olaf Scholz gelingt das leider nicht gut], und er vermittelt auch nicht
       den Eindruck, als sei ihm das besonders wichtig.
       
       Wie bei seiner Vorgängerin. 
       
       Ja, wenn auch nicht in einer vergleichbar dramatischen Situation. Robert
       Habeck dagegen kommuniziert seine Abwägungen. Darauf kommt es im Augenblick
       entscheidend an.
       
       Olaf Scholz hat sich, nach langer Zurückhaltung, im Spiegel-Interview
       erklärt und mehrere Argumentationen angeboten, warum Deutschland keine
       Panzer an die Ukraine liefern sollte – um drei Tage später das Gegenteil zu
       tun. 
       
       Vielleicht stand nur noch nicht fest, woher die Munition für die Gepards
       kommen sollte. Aber ihm gelingt leider auch in der internationalen
       Wahrnehmung nicht, seine Zögerlichkeit nachvollziehbar zu machen.
       
       Klingt nach angewandtem Merkelismus. 
       
       Es gibt erstaunliche Parallelen. 2015 gab es angesichts der massiv
       gestiegenen Flüchtlingszahlen nach der Ansage „Wir schaffen das“ eine
       spontan breite Bereitschaft der Bevölkerung zu helfen. Je länger der
       Zustand andauerte, desto mehr erodierte diese Bereitschaft und desto größer
       wurde der Erklärungsbedarf. Der wurde nicht befriedigt, das ist auch ein
       Grund, warum die AfD heute im Bundestag sitzt.
       
       Nach dem Angriff auf die Ukraine und Scholz’ denkwürdiger
       Regierungserklärung sagten 52 Prozent der Bevölkerung Ja zu Positionen, die
       vorher tabuisiert waren: 100 Milliarden für Nachrüstung, mindestens 2
       Prozent des Sozialproduktes dauerhaft für Sicherheit und Waffenlieferungen
       in Kriegsgebiete. Und weitere 26 Prozent meinen sogar, das reiche nicht
       aus.
       
       Meine Erfahrung sagt mir, das wird sich ähnlich entwickeln wie beim Thema
       Flüchtlinge: Je länger der Zustand andauert, desto größer wird der
       Erklärungsbedarf. Und wenn keine Erklärungen geliefert werden, wird die
       Akzeptanz immer geringer und die Erosion der Autorität parallel dazu
       größer.
       
       Derzeit wird die SPD wegen ihres Verhältnisses zu Russland stark
       kritisiert. Aber aufseiten der Union gab es auch viele Versäumnisse. Wie
       wird Ihre Partei das aufarbeiten? 
       
       Die gerade begonnene Programmdiskussion bietet einen guten Rahmen für eine
       solche Selbstverständigung. Sie kann Rückfragen an frühere
       Positionierungen nicht ausweichen. Und der neue Parteivorsitzende
       tabuisiert das nicht. Das halte ich auch für richtig.
       
       Muss die Ära Merkel wegen der Folgen auch ihrer Russlandpolitik neu
       bewertet werden? 
       
       Hat es eine abgeschlossene Bewertung der Ära gegeben?
       
       Als Merkel gegangen ist, gab es ein geradezu wehmütiges Verhältnis zu ihr. 
       
       Angela Merkel war weit über die Parteipräferenzen hinaus so etwas wie die
       Personalisierung eines Zeitgeistes, zu dem auch das Festhalten an
       Errungenschaften und die Vermeidung unnötiger Auseinandersetzungen gehörte.
       Wenn sich aber vermeintliche Selbstverständlichkeiten im Lichte neuer
       Entwicklungen als fragwürdig darstellen, dann muss eine Partei die
       Erfahrungen der jüngeren Vergangenheit aufarbeiten.
       
       Konkret? 
       
       Das Festhalten an bestimmten Energieversorgungsstrukturen und die damit
       verbundene Abhängigkeit von einem einzelnen Lieferanten fossiler Energien
       und die Klimapolitik.
       
       Frank-Walter Steinmeier hat im Nachhinein noch einmal erklärt, warum er
       Minsk I und II so verhandelt hat. Von Angela Merkel gibt es bislang nur
       einen dürren Satz zu der Frage des Nato-Beitritts der Ukraine und Georgien
       2008. Reicht das? 
       
       Natürlich nicht. Sie hatte bei ihrem Ausscheiden aus dem Amt gesagt, sie
       werde sich ein halbes Jahr lang überhaupt nicht äußern. Ich glaube nicht,
       dass sie jetzt ein ewiges Schweigegelübde einhält.
       
       Sie gehen davon aus, dass sie sich noch erklärt? 
       
       Man würde die Ernsthaftigkeit ihres Politikverständnisses maßlos
       unterschätzen, wenn man ihr unterstellte, sie interessiere diese Frage
       nicht oder sie lasse sie nicht an sich heran.
       
       Das nehmen wir mal als Ja. Gibt es eine Art moralische oder politische
       Verpflichtung der Ex-Bundeskanzlerin, darüber zu reflektieren? 
       
       Jedenfalls eine begründete Erwartung. Und diese Erwartung ist umso
       seriöser, je ernsthafter man bereit ist, sich mit den Argumenten
       auseinanderzusetzen, die zur Erläuterung vorgetragen werden.
       
       Ihre Partei ist gerade in einer schwierigen Situation: Sie muss sich in der
       Opposition profilieren, aber gleichzeitig mit Blick auf den russischen
       Angriffskrieg an der Seite der Regierung stehen. Ein Ergebnis ist ein
       gemeinsam beschlossener Antrag von Ampel und Opposition zur Unterstützung
       der Ukraine, der auch die Lieferung schwerer Waffen beinhaltet. Ist das der
       richtige Weg? 
       
       Mich persönlich hat das überzeugt. Eine Partei, die über Jahrzehnte das
       Land regiert hat und nun zur eigenen Überraschung in der Opposition ist,
       kann sich weder auf diese neue Rolle zurückziehen noch sollte sie so tun,
       als sei sie noch Bestandteil der Regierung. Ich fand die Reaktion von
       Friedrich Merz auf die Regierungserklärung von Scholz am 27. Februar
       wohltemperiert. Er hat die Bereitschaft der Opposition erklärt, das
       mitzutragen, und den Anspruch, auch an der Ausgestaltung beteiligt zu
       werden. Das finde ich plausibel – schon gar mit Blick auf
       Grundgesetzänderungen, die es ohne die Union nicht gibt.
       
       Finden Sie die Ansage von Herrn Merz, die Union würde bei der
       Grundgesetzänderung für das 100-Milliarden-Sondervermögen nur so viele
       Stimmen liefern, wie es bei geschlossener Zustimmung der Ampel bis zur
       Zweidrittelmehrheit bedarf, auch plausibel? 
       
       Da würde ich jetzt zwischen oppositioneller Rhetorik und operativem Handeln
       unterscheiden. Bei einer namentlichen Abstimmung über einen Militäreinsatz
       in der Regierungszeit von Gerhard Schröder 2003 haben die erklärten
       Dissidenten ausgewürfelt, wer zustimmen musste, damit Rot-Grün eine
       Mehrheit hatte. Eine ähnliche namentliche Aussortierung von Mitgliedern der
       CDU/CSU-Bundestagsfraktion kann ich mir nicht vorstellen.
       
       Wäre es den Unionsanhängern zu vermitteln, dass die
       CDU/CSU-Bundestagsfraktion eine 100-Milliarden-Spritze für die Bundeswehr
       scheitern lässt? 
       
       Nein, wäre es nicht. Jedenfalls dann nicht, wenn klar ist, dass dies
       tatsächlich ausschließlich für diesen Zweck verwendet wird. Aber das ist ja
       genau einer der Streitgegenstände.
       
       4 May 2022
       
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