# taz.de -- Politologe zu Putins Eskalation: „Das Angebot hat nicht gereicht“
       
       > Johannes Varwick hat lange für Entspannungspolitik geworben. Und jetzt?
       > Seinen Ansatz hält er nicht für gescheitert, Sanktionen für wirkungslos.
       
 (IMG) Bild: Vor dem Einmarsch: gemeinsame Militärübung von Russland und Belarus am vergangenen Wochenende
       
       taz: Herr Varwick, in den vergangenen Wochen haben Sie Zugeständnisse
       gegenüber Russland gefordert. In einem [1][Aufruf unter dem Titel „Raus aus
       der Eskalationsspirale“] warben Sie für Entspannung. Lagen Sie falsch? 
       
       Johannes Varwick: Auch wenn jetzt alles dafür spricht, dass mit Putin kein
       Interessenausgleich möglich war, war der Versuch durchaus vernünftig. Der
       Westen hätte die Frage der Nato-Mitgliedschaft der Ukraine klarer
       ausschließen müssen. Versäumnisse gibt es auf allen Seiten und im Ergebnis
       sehen wir ein Versagen der Diplomatie.
       
       Erst vergangene Woche hatte Olaf Scholz in Moskau klargestellt, dass ein
       ukrainischer Nato-Beitritt nicht auf der Tagesordnung stehe. Am Sonntag
       vereinbarte Emanuel Macron mit Putin weitere Gespräche. Warum dann gerade
       jetzt die Eskalation? 
       
       Offenkundig hat das Angebot nicht gereicht, um Moskau eine Brücke zu bauen.
       Man kann jetzt natürlich sagen, es habe ein Drehbuch gegeben, das von
       vornherein feststand. In dem Sinne sei die Annahme naiv gewesen, dass man
       noch Einfluss auf die russische Positionierung hatte. Ich glaube aber, dass
       es ein Fenster gab, in dem man einen Interessenausgleich hätte hinbekommen
       können. Es kam jetzt anders und die Historiker werden entscheiden, wer
       welche Verantwortung trägt.
       
       [2][In Putins Rede am Montag wurde klar], dass es ihm nicht nur um
       Sicherheitsgarantien geht, sondern vor allem um imperiale Interessen: Er
       sieht die Ukraine als Teil Russlands an. Warum sind Sie sich auch
       rückblickend so sicher, dass ihn stärkere Zugeständnisse der Nato vom
       Einmarsch abgehalten hätten? 
       
       Zunächst sind Identitätsfragen in der internationalen Politik immer die
       gefährlichsten und die am schwierigsten zu lösenden. Das ist gar keine
       Frage. Aber unterschiedliche Ordnungsvorstellungen sind in der
       internationalen Politik eben keine Ausnahme, sondern eher die Regel. Das
       sollte man einfach illusionslos zur Kenntnis nehmen. Was gewesen wäre, wenn
       wir klüger verhandelt hätten, wissen wir nicht. Aber im Ergebnis sehen wir
       ein Versagen auf allen Ebenen und wir sollten den Fehler jetzt nicht nur
       bei den Anderen suchen. Wir sollten auch selbstkritisch sein. Der böse Bube
       ist Russland, das ist überhaupt keine Frage. Aber wir hätten die Brücken,
       die es sicherlich hätte geben können, besser ausloten müssen.
       
       Das russische Verhalten erleichtert Selbstkritik nicht gerade. Nehmen wir
       mal den Vorwurf, die Nato-Erweiterungen der letzten 25 Jahren seien ein
       Fehler gewesen: Wurden Putins imperiale Bestrebungen denn erst dadurch
       provoziert? Oder waren sie nicht schon immer vorhanden und osteuropäische
       Staaten lagen richtig, als sie den Schutz der Nato gesucht haben? 
       
       Das ist sicher richtig, dieses imperiale Bestreben war immer da. Wir hätten
       es aber besser einhegen müssen. Es wurde zu wenig erkannt, dass die Ukraine
       ein Sonderfall ist. Sie ist nicht Polen und auch nicht das Baltikum,
       sondern stellt für die russische Identität eine Kernfrage von vitalem
       Interesse dar. Das hätten eigentlich alle sehen können, und dann hätte es
       nur zwei Möglichkeiten gegeben.
       
       Entweder hätte man die Ukraine radikal schützen müssen und sie ins
       westliche Camp ziehen, so wie die Amerikaner es 2008 wollten: eine
       Nato-Mitgliedschaft und die Bereitschaft, für die Ukraine zu kämpfen. Dann
       hätte man einen harten Kalten Krieg gehabt, der mit einer relativ großen
       Wahrscheinlichkeit heiß geworden wäre. Die zweite Möglichkeit wäre gewesen,
       dass man eine Pufferzone oder eine neutrale Ukraine als Schlüssel zur
       Lösung akzeptiert. Diesen Weg war man nicht bereit auszuloten.
       
       Der Mittelweg war zum Scheitern verurteilt? 
       
       Es war ein hilfloser Versuch und wir müssen ganz nüchtern konstatieren,
       dass er nicht erfolgreich war.
       
       Eine andere Deutung wäre, dass der gewählte Weg richtig war und die
       Angebote an Russland ausreichend – aber die Drohung mit enormen Sanktionen
       nicht glaubwürdig genug. 
       
       Doch. Ich glaube, sie war und ist glaubwürdig. Es werden jetzt Sanktionen
       kommen, die Russland hart treffen. Aber solange Russland glaubt, dass es in
       der Ukraine ein vitales Interesse verfolgt, werden Sanktionen nicht wirken.
       Sie sind trotzdem alternativlos, weil man jetzt nicht einfach
       kopfschüttelnd daneben stehen kann. Aber man sollte nicht die Hoffnung
       haben, dass man Russland mit den Sanktion in seinem Risikokalkül
       beeinflusst. Und man sollte jetzt aufpassen, dass man Russland nicht noch
       mehr in die Enge drängt.
       
       Inwiefern? 
       
       Was wird jetzt passieren? Russland wird für die Sanktionen einen harten
       Preis zahlen und sich innenpolitisch weiter radikalisieren. Jetzt ist also
       die Stunde, um darüber nachzudenken, wie wir von diesem Baum wieder
       runterkommen. Eine dauerhafte Eskalation kann ja nicht die Lösung sein. Ich
       würde vielmehr dafür plädieren, über so was wie Minsk III nachzudenken. Die
       Abkommen Minsk I und Minsk II zur Lösung des Ostukraine-Konflikts sind
       gescheitert. Aber wir müssen versuchen, jetzt wieder Diplomatie ins Spiel
       zu bringen, und mit Russland über den Donbass und die Einhegung dieses
       Konflikts reden. Das wäre alle Mühen wert. Nichts wird davon besser, dass
       man die Dinge treiben lässt.
       
       Wie sollte so ein Minsk-III-Abkommen denn aussehen? 
       
       Man bräuchte eine Lösung des Konflikts im Donbass, die für Russland und für
       den Westen akzeptabel ist. Nur zu sagen, dass wir den neuen Stand niemals
       anerkennen, wird die Situation am Boden ja nicht verändern. Wir müssen den
       Konflikt also einfrieren, dadurch die Lage stabilisieren und bessere Zeiten
       intellektuell vorbereiten. Das passiert in der westlichen Politik im Moment
       überhaupt nicht. Man tut so, als ob Sanktionen das Problem lösen würden.
       Aber das Problem fängt damit erst an, weil ein Staat, der in seinem Kern
       getroffen ist, nicht nach unseren Regeln spielen wird.
       
       Das Vertrauen in Zusagen aus Moskau hat mit dem Einmarsch stark gelitten.
       Wie soll man in dieser Situation Gespräche über ein neues Abkommen in Gang
       bringen? 
       
       Das wird jetzt auch stark davon abhängen, wie sich die Dinge am Boden
       entwickeln. Wenn es Russland beim Einmarsch in den Donbass belässt, wäre
       das eine andere Basis, als wenn es entscheiden würde, einen Regime Change
       in Kiew zu initiieren – auf welchem Weg auch immer. An die russische
       Strategie müssen wir unsere dann anpassen. Daraus kann man auch folgern,
       dass wir bei den Sanktionen noch was im Köcher behalten sollten für den
       Fall, dass Russland noch weiter eskaliert. Man muss unterscheiden zwischen
       Wirtschaftssanktionen, die jetzt kommen werden, und Finanzsanktionen, die
       Russland noch härter treffen würden. Stichwort: Swift.
       
       Selbst wenn ihr Ansatz Erfolg hätte und es vorerst zu einer
       Verhandlungslösung käme: Woher hätte Kiew die Garantie, dass Russland seine
       Zusagen nicht erneut bricht und irgendwann einen Angriff über den Donbass
       hinaus startet? 
       
       Man muss bei der Wahl seiner Strategie davon ausgehen, welche Möglichkeiten
       man selber hat und welche Mittel man bereit ist einzusetzen. Wie man es
       auch dreht und wendet: Die Ukraine ist im russischen Einflussgebiet,
       solange wir nicht bereit sind, für sie in den Krieg zu ziehen, sie jetzt
       also schnell in die Nato aufzunehmen und dann daraus einen Bündnisfall zu
       machen. Im Übrigen auch zu Recht, weil dann eine nukleare Eskalation drohen
       würde. Es bleiben also nur sanftere Mittel. Die sind alle nicht schön für
       die Ukraine, gar keine Frage. Aber von allen Varianten wäre eine
       Stabilisierung durch einen Neutralitätsstatus noch die beste, letztlich
       auch für die Ukraine.
       
       [3][Waffenlieferungen wären ein Mittelweg] ohne direkte militärische
       Beteiligung des Westens. 
       
       Bei einem so eindeutigen Gefälle wie im Verhältnis zwischen der Ukraine und
       Russland – zwei Millionen Soldaten gegen 200.000 Soldaten – wird man durch
       Waffenlieferungen nie ein militärisches Gleichgewicht hinbekommen, das
       stabilisiert. Wenn Russland entschlossen ist, militärische Lösungen zu
       suchen, dann wird es die machen können. Waffenlieferungen würden den
       Konflikt nur blutiger, länger und schmerzhafter machen. Wenn ich der
       Meinung wäre, die Ukraine könnte sich mit Waffenlieferungen gegen Russland
       verteidigen, dann wäre ich sofort dafür. Aber das ist ein falsches Bild der
       Lage.
       
       Wie sicher sind Sie, dass Sie richtig liegen und der Krieg nicht weiter
       eskaliert, wenn der Westen Russland so entgegenkommt, wie Sie es gerade
       skizziert haben? 
       
       Ich bin mir nicht sicher. Aber ich bin mir sehr sicher, dass es zu einem
       offenen Krieg kommt, wenn wir es nicht machen. So zu tun, als ob der
       westliche Weg bisher Erfolg hätte, ist genauso blauäugig wie der Vorwurf,
       dass meine Position letztlich naiv wäre. Wir sollten nicht in diesen
       Extrempositionen denken, sondern nüchtern schauen, was wir aus dieser sehr
       unschönen Lage noch machen können.
       
       23 Feb 2022
       
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