# taz.de -- Berlin wählt Seniorenvertretung: Alle Alten an die Urnen
       
       > Ab Montag werden die bezirklichen Senior*innenvertretungen
       > gewählt. Migrant*innen beteiligen sich daran wenig. Woran liegt das?
       
 (IMG) Bild: Eleni Werth-Mavridou ist schon seit fünf Jahren in der Senior*innenvertretung und tritt wieder an
       
       berlin taz | „Was bist du denn für eine? Hast du überhaupt einen deutschen
       Pass?“, fragt ein Mann aus dem Publikum. Es ist Anfang Februar, das
       Bezirksamt Tempelhof-Schöneberg hat in eine Freizeitstätte im Kiez
       eingeladen. Der Saal ist voll, auf der Bühne sitzen die Kandidat*innen
       für die diesjährige Seniorenvertretungswahl. „Ich bin Griechin, Berlinerin
       und Europäerin“, entgegnet Eleni Werth-Mavridou dem Mann in den hinteren
       Reihen. Seit fünf Jahren ist sie schon Mitglied der Senior*innenvertretung,
       heute will sie für ihre Wiederwahl werben. Als sie den Frager später noch
       einmal ansprechen will, ist er schon weg.
       
       So erinnert sich die 72-Jährige wenige Wochen später an die Veranstaltung.
       Eleni Werth-Mavridou sitzt am Esstisch in ihrer Wohnung in Mariendorf.
       Neben ihr stapeln sich Unterlagen: Eine alte Dame sucht eine griechische
       Frauenärztin, Werth-Mavridou soll vermitteln. Einer griechischen Seniorin
       droht die Obdachlosigkeit, Werth-Mavridou kümmert sich um eine Wohnung. Ein
       Sterbefall in der Gemeinde, Werth-Mavridou organisiert die Bestattung.
       
       Eleni Werth-Mavridou gehört zur ersten Generation der damals [1][so
       genannten Gastarbeiter*innen.] 1969 kam sie mit 19 Jahren nach Deutschland,
       arbeitete in einer Bäckerei, später bei einem Bestatter. Weil ihre Rente
       gering ist, ist sie dort noch immer angestellt. Im Neuköllner Bezirksamt
       macht sie Sozialberatung, außerdem engagiert sie sich bei To-Spiti, einem
       interkulturellen Frauen- und Familienzentrum in Neukölln, beim
       Bundesfreiwilligendienst und in der griechischen Gemeinde in Steglitz. 2012
       hat der Berliner Senat ihr die Ehrennadel für besonderes soziales
       Engagement überreicht. Und dann fragt trotzdem wieder jemand, wo sie
       eigentlich herkommt. Eleni Werth-Mavridou scheint das wenig zu überraschen:
       „Dass du eine Ausländerin bist, merkst du jeden Tag.“
       
       Was der Mann aus dem Publikum nicht weiß: Um Seniorenvertreter*in zu
       werden, braucht es keine deutsche Staatsangehörigkeit. Vom 14. bis zum 18.
       März dürfen alle 943.000 Berliner*innen über 60 Jahre wählen und
       gewählt werden. 200.000 von ihnen haben Migrationsgeschichte, 90.000 davon
       keinen deutschen Pass.
       
       ## Sprachbarrieren als Hürden
       
       Die Aufgaben der Seniorenvertretungen regelt das Seniorenmitwirkungsgesetz:
       Sie haben ein Rederecht in den Ausschüssen der
       Bezirksverordnetenversammlungen, halten Bürger*innensprechstunden ab
       und übernehmen die Öffentlichkeitsarbeit für die Interessen ihrer
       Wähler*innen. So sollen die Anliegen der Berliner Rentner*innen in der
       Politik Gehör finden – auch derjenigen, die ansonsten keine politischen
       Vertreter*innen wählen dürfen.
       
       Die Berliner Sozialsenatorin Katja Kipping spricht vom „progressivsten und
       inklusivsten Wahlrecht, das es in Deutschland gibt“. Dennoch haben laut
       Sozialverwaltung aktuell nur fünf Prozent der
       Seniorenvertreter*innen aller Berliner Bezirke einen
       Migrationshintergrund. Woran liegt das?
       
       „Die Griechen sind gar nicht so gut integriert, wie alle immer denken“,
       sagt Eleni Werth-Mavridou. Das läge vor allem an Sprachbarrieren. Die, die
       mit der deutschen Bürokratie überfordert sind, kommen zu ihr: mit
       Rechnungen und Mahnungen, Rentenbescheiden und Grundsicherungsanträgen. Von
       Altersarmut sind migrantische Senior*innen besonders stark betroffen,
       Grund dafür sind vor allem die niedrigeren Löhne der ehemaligen
       Gastarbeiter*innen. „Den da“, Werth-Mavridou zeigt auf einen Stuhl neben
       sich, „habe ich in der Pandemie vor die Wohnungstür gestellt. Da haben
       meine Griechen dann ihre Unterlagen abgelegt und ein paar Tage später
       wieder abgeholt.“
       
       Auch wenn der Bedarf groß ist: Dass sie Vertreter*innen wählen können,
       die sich für ihre Belange einsetzen, wüssten in der griechischen Community
       nur wenige, so die 72-Jährige. Und für eine eigene Kandidatur fehle vielen
       schlicht der Mut: „Unter Migranten ist die Sorge, etwas falsch zu machen,
       oft besonders groß.“
       
       ## Rhetoriktrainings für Senioren
       
       Dessen ist man sich auch im Kompetenzzentrum Interkulturelle Öffnung der
       Altenhilfe (KomZen) bewusst. Das KomZen hat es sich zum Auftrag gemacht,
       [2][ältere Menschen mit Migrationsgeschichte in die Berliner
       Pflegestrukturen] einzubinden und ihr politisches Engagement zu fördern.
       „Wir schlagen Kandidat*innen vor und gehen in die verschiedenen
       Communities, um über die Wahl zu informieren“, erzählt Cristina Peirón
       Baehr, Kultur- und Sprachwissenschaftlerin beim KomZen. In den vergangenen
       Wochen und Monaten haben sie und ihre Kolleg*innen Infoveranstaltungen
       organisiert, interessierte Senior*innen zur Kandidatur ermutigt und
       ihnen mit Rhetoriktrainings dabei geholfen, sich und ihren Anliegen Gehör
       zu verschaffen. Auch Eleni Werth-Mavridou wurde damals erst durch das
       KomZen auf die Seniorenvertretung aufmerksam, heute unterstützt sie
       migrantische Bewerber*innen bei der Kandidatur.
       
       Dass Dritte solche Aufgaben übernehmen müssten, zeige, wie groß die
       Defizite bei der interkulturellen Öffnung der Berliner Verwaltung noch
       immer sind, heißt es von Ehrenamtlichen und Organisationen wie KomZen. Ein
       Beispiel dafür seien die Wahlbenachrichtigungen: Das Schreiben wird nur auf
       Deutsch verschickt, bei vielen Senior*innen mit Migrationshintergrund
       kämen die Informationen daher erst gar nicht an. „Viele Griechen haben den
       Brief einfach weggeschmissen“, erzählt Eleni Werth-Mavridou, für ältere
       Menschen sei der Prozess außerdem oft zu kompliziert.
       
       Die Zahlen bestätigen das. Auch unabhängig von der Beteiligung
       migrantischer Senior*innen haben die Bezirke bei der vergangenen
       Seniorenvertretungswahl nur wenige Menschen erreicht: 2017 lag die
       Wahlbeteiligung insgesamt bei nur 5,56 Prozent. In diesem Jahr sorgten
       Wahlpannen zusätzlich für Verdruss: Rund 70.000 Wahlberechtigten aus den
       Bezirken Friedrichshain-Kreuzberg, Pankow und Charlottenburg-Wilmersdorf
       wurden fälschlicherweise die Wahlunterlagen für den Bezirk Reinickendorf
       zugeschickt.
       
       Es ist der 14. Februar 2022, genau einen Monat vor der Wahl. 17 Frauen und
       Männer aus Friedrichshain-Kreuzberg erscheinen in kleinen rechteckigen
       Kacheln, sie alle wollen sich in die bezirkliche Seniorenvertretung wählen
       lassen. Eigentlich sollte die Veranstaltung im Stadtteilzentrum
       stattfinden, doch die Inzidenz in Berlin liegt bei 1.275,4 und das Publikum
       gehört zur Risikogruppe. Also findet der Wahlkampf via Videokonferenz
       statt. Davon scheint jedoch fast niemand etwas mitbekommen zu haben: Eine
       einzige Anwohnerin hat sich zu der Veranstaltung zugeschaltet, für die man
       sich erst mal ein Programm für Videokonferenzen herunterladen musste.
       
       ## Senioren leben isoliert in den Communities
       
       Der Bezirksamtsmitarbeiter muss sich Kritik gefallen lassen: Ob man nicht
       besser über die Online-Veranstaltung hätte informieren können? Warum man
       nicht hybride Veranstaltungen organisiere, an denen auch Senior*innen
       ohne Computer teilnehmen können? Doch weil jetzt eh alle da sind, findet
       der Termin trotzdem statt: Zwei Stunden lang stellen sich 17
       Kandidat*innen einer einzigen Wählerin vor.
       
       „Wenigstens habe ich mal gesehen, mit wem ich es zu tun habe“, zieht Kyung
       Jarman zwei Wochen später Bilanz. Sie ist eine der Kandidat*innen im
       Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg. Die 60-Jährige kam 1983 aus Südkorea nach
       Deutschland, arbeitete als medizinisch-technische Angestellte in Hannover.
       Vor acht Jahren zog Yarman nach Berlin, um näher bei ihren Kindern zu sein.
       „Da habe ich gemerkt, dass Berlin zwar multikulturell ist, aber die
       Senioren trotzdem isoliert in ihren Communities leben.“
       
       Wenn man Yarman fragt, wie sie das ändern möchte, folgt ein Stakkato
       politischer Forderungen: Günstigere ÖPNV-Tickets für mehr gesellschaftliche
       Teilhabe, Stärkung des Zugehörigkeitsgefühls durch Stadtführungen,
       interkulturelle Kreativ- und Kochkurse. Kyung Jarman sitzt in einem
       indischen Restaurant in Friedrichshain, sie ist mit Kim Chi Vu verabredet.
       Es gibt Fladenbrot und Minztee. Vu ist Projektkoordinatorin bei der
       Gesellschaft für Psychosoziale Gesundheitsförderung bei Migrantengruppen
       (GePGeMi e. V) und Jarmans Wahlkampfhelferin, auch wenn die beiden das
       nicht so nennen. Ähnlich wie das KomZen will sich der Verein für die
       gesellschaftliche und politische Teilhabe von Senior*innen mit
       Einwanderungsgeschichte einsetzen. Die Mitarbeiter*innen von GePGeMi
       sprechen dafür gezielt asiatische Communities an.
       
       „Die Seniorenvertretungswahl ist für viele noch zu abstrakt“, sagt Vu. „Die
       fragen sich: Was bringt das für mich?“ Viele ältere Menschen aus
       asiatischen Communities hätten sich noch gar nicht damit beschäftigt,
       [3][dass sie in Deutschland alt werden], so ihr Eindruck. „Auch die nicht,
       die schon längst alt sind.“ Mit ihrem Verein hat Vu Flyer in verschiedenen
       Sprachen gedruckt – von Japanisch bis Vietnamesisch –, der die
       migrantischen Senior*innen über ihre Möglichkeiten politischer
       Beteiligung informiert. Eine Prognose, wie hoch die Wahlbeteiligung und der
       Anteil migrantischer Seniorenvertreter*innen sein wird, wagt noch
       niemand abzugeben. „Aber Kandidat*innen wie Frau Werth-Mavridou und
       Frau Jarman können eine Vorbildfunktion haben“, sagt Vu. Ganz egal, wie die
       Wahl im März ausgeht.
       
       10 Mar 2022
       
       ## LINKS
       
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