# taz.de -- Unterwegs in Kiew: Tag für Tag Ungewissheit
       
       > In der ukrainischen Hauptstadt macht das stete russische Kriegsgetöse die
       > Menschen mürbe. Bislang blieben die Angriffe aus – doch wie lange noch?
       
 (IMG) Bild: Bangen, hoffen, Nachrichten checken: U-Bahn-Szene in Kiew, 15. Februar 2022
       
       Kiew taz | Es bröselt und bröckelt an der Wand in der Wohnung unweit des
       Sewastopol-Platzes in Kiew. Die Wand muss dringend saniert werden, mit dem
       Vermieter gibt es deshalb seit Wochen Stress. Immer wieder findet dieser
       dem Mieter gegenüber andere Gründe, die Reparatur aufzuschieben.
       
       Mal ist der kalte Winter schuld, dann wieder „macht es kurz vor Neujahr
       auch keinen Sinn“. Wenig später ist es dann der Frühling, auf den man
       warten müsse, dann seien die Arbeitsbedingungen besser. Immer scheint der
       falsche Zeitpunkt für Reparaturen zu sein.
       
       Die ganze Ukraine verharrt derzeit in einem Wartezustand. Westliche
       Politiker, Geheimdienste und Medien [1][hatten für Mittwoch dieser Woche
       einen russischen Überfall prognostiziert]. Der blieb aus. Doch kann man
       deshalb wieder zur Tagesordnung übergehen? Mitnichten. Die wenigsten
       Ukrainer haben geglaubt, dass Russland exakt am 16. Februar einmarschieren
       würde, als ließen sich Kriege mit genauem Datum Wochen vorher planen.
       
       Aber prinzipiell schließt hier kaum einer einen Angriff aus. Der 16.
       Februar ist verstrichen, doch Entwarnung bedeutet das für die Menschen
       sicher nicht. Wer Geld hat, Verwandte im Ausland oder beides, setzt sich
       ins Flugzeug und fliegt erst mal weg.
       
       Die [2][ständigen Ankündigungen] eines Luftangriffs und einer
       anschließenden Intervention haben bei den Menschen Spuren hinterlassen, sie
       ein weiteres Mal traumatisiert. Es bedurfte eines im Fernsehen übertragenen
       öffentlichen Appells von Präsident Wolodimir Selenski, um ukrainische
       Oligarchen, die sich auf und davon machen wollten, von ihrem Vorhaben
       abzuhalten.
       
       ## In Babyn Jar
       
       Andere wollen bleiben, hoffen auf eine Wende im Konflikt. Dariia Hirna und
       Wlad Krylewski, beide 27, hätten genug Kontakte und Möglichkeiten, um sich
       für ein paar Monate ins Ausland zurückzuziehen. Sie ist Journalistin und
       stammt aus dem westukrainischen Lwiw, er aus dem ostukrainischen Gorliwka.
       Gorliwka wird derzeit von den von Russland unterstützten Separatisten
       kontrolliert.
       
       Kurz nach dem Beginn der Kämpfe 2014 ist Krylewski mit seiner Familie von
       dort geflohen. Krylewski arbeitet in der Medienbranche, produziert Videos.
       Das Paar will bleiben. Sie wollen heiraten, eine Familie gründen. „Wir
       können doch nicht einfach unsere Freunde und Familie im Stich lassen“, sagt
       Hirna. Sollte Kiew wirklich brennen, werde man vielleicht nach Lwiw zu
       Verwandten gehen.
       
       Nachdenklich spazieren die beiden [3][durch den Gedächtnispark Babyn Jar].
       Hier sind am 29. und 30. September 1941 über 33.000 jüdische Frauen, Männer
       und Kinder erschossen worden. Hirna und Krylewski bleiben einen Augenblick
       stehen. „Wenn man heute die Rhetorik einiger deutscher Regierungsbeamter
       hört, entsteht der Eindruck, als sei nur Russland Opfer des
       Hitlerfaschismus gewesen“, sagt Dariia Hirna. Es ist der 16. Februar, der
       Tag, für den der Einmarsch vorhergesagt worden war.
       
       „Dieses Gefühl, Russland könnte uns angreifen, haben wir schon seit
       mehreren Jahren. Und seit Dezember vergangenen Jahres denken wir praktisch
       jeden Tag daran“, sagt Krylewski. „Viele von uns schaffen es, die
       Kriegsgefahr zu verdrängen. Tagsüber informiert man sich über den
       Zivilschutz, abends geht man in die Bars und vergisst alles, was mit Krieg
       zu tun hat“, sagt er.
       
       Seine Freundin fügt hinzu: „Die ständige Ankündigung eines Krieges gegen
       uns hat mich mürbe gemacht. Ich bin so ausgebrannt, ich kann nicht einmal
       mehr richtig Angst haben. Ich kann mich auch nicht darüber freuen, dass
       heute alles ruhig war.“
       
       ## Enttäuscht von Deutschland
       
       Solange Russland bei seiner Tagesordnung bleibe, so lange werde auch der
       psychologische Druck weiter auf den Menschen lasten. Eigentlich glaubt
       Dariia Hirna nicht, dass Russland die Ukraine angreifen werde.
       
       Die ukrainische Armee sei heute viel schlagkräftiger als 2014 und die
       überwiegende Mehrheit der Gesellschaft unterstütze den Kurs Richtung Nato
       und Mitgliedschaft in der Europäischen Union. „Russland kann zwar
       angreifen, aber wenn die Bevölkerung mit den Besatzern nicht
       zusammenarbeitet“, so Hirna, „kann sich der Besatzer nicht lange halten“.
       Gleichwohl ist sie sich nicht ganz sicher. „Auch 2014 dachte ich, dass es
       keine bewaffneten Kämpfe geben würde.“
       
       Von Deutschland sind beide enttäuscht. „Sicher, Deutschland ist der Ukraine
       nichts schuldig. Aber als eine führende Nation der EU ist Deutschland nicht
       nur inaktiv, sondern verhindert sogar Waffenlieferungen aus anderen Ländern
       an die Ukraine“, sagt Hirna. Und Krylewski findet es „merkwürdig“, dass
       Deutschland, das eine grüne Energiepolitik angekündigt hat, an einer
       Gaspipeline mit Russland festhalte, das eine „aggressive Besatzungspolitik
       gegenüber der Ukraine“ betreibe.
       
       Das sei eine Politik doppelter Standards. Gerade nach den Erfahrungen des
       Zweiten Weltkrieges, sagt Hirna, müsse Deutschland entschlossener und
       härter auftreten, um eine Wiederholung der Geschichte zu vermeiden.
       
       ## Show must go on
       
       Der Tag, an dem wir durch den Gedächtnispark gehen, ist kurzfristig zum
       Feiertag geworden. Denn Wolodimir Selenski, vor seiner Präsidentschaft im
       Showgeschäft aktiv, weiß, wie Inszenierung geht – er bestimmte den Tag, an
       dem eigentlich die Ukraine hätte angegriffen werden sollen, kurzerhand zum
       „Tag der Einheit“.
       
       In allen Städten wird die ukrainische Nationalflagge gehisst, im Parlament
       stehen an diesem Tag die Abgeordneten einige Minuten mit der Flagge in der
       Hand. In den Schulen singen Kinder die Nationalhymne, in der Hafenstadt
       Mariupol, die Selenski an diesem Tag besucht, wird am höchsten Gebäude der
       Stadt die alte zerrissene Nationalflagge durch eine neue ersetzt.
       
       Nicht überall stößt diese Art von Feiern und Show auf Gegenliebe. [4][In
       einem Beitrag für das Portal gordonua.com] macht sich der Redakteur der
       „Europäischen Prawda“, Serhij Sydorenko, über die Idee lustig, den
       möglichen Tag eines russischen Angriffs zum Feiertag zu erklären. Ihm
       erscheint dieser neue Feiertag sehr künstlich und aufgesetzt. „Patriotismus
       um zehn Uhr morgens, von oben angeordnet, das kann nicht klappen“ so
       Sydorenko.
       
       All die, die trotz des ausgebliebenen russischen Angriffs nicht erleichtert
       aufatmen, scheinen leider recht zu bekommen. Die Nachrichtenlage spricht
       nicht für eine Entspannung. Verteidigungsminister Olexi Resnikow und
       Präsident Selenski erklärten, sie können nicht erkennen, dass sich die
       russischen Truppen von der Grenznähe zurückziehen würden.
       
       Gleichzeitig eskalieren die Kämpfe wieder an der „Kontaktlinie“ im Donbass.
       [5][So berichtet das russische Portal gazeta.ru] unter Berufung auf Quellen
       in den „Volksrepubliken“ von Donezk und Lugansk, die ukrainische Seite
       haben am frühen Donnerstag zivile Ziele in den von den „Volksrepubliken“
       kontrollierten Ortschaften Kominternowo, Oktjabr, Nowolaspa, Solotoe-5,
       Nischnee Losowoje und Sokolniki beschossen.
       
       ## Der Plan mit Donezk und Lugansk
       
       Ukrainische Einheiten würden aus Granatwerfern und Mörsern zivile Ziele
       beschießen. Dagegen berichtet das ukrainische Portal nv.ua, am
       Donnerstagmorgen hätten die „russischen Besatzungskräfte“ die von Kiew
       kontrollierte Ortschaft Staniza Lugansk beschossen und dabei auch einen
       Kindergarten getroffen. Zwei Lehrkräfte seien leicht verletzt worden.
       
       Am Freitag trat Verteidigungsminister Olexi Resnikow [6][Gerüchten
       entgegen], die Ukraine würde versuchen, die von den Separatisten
       kontrollierten Gebiete mit Gewalt zurückzuerobern. Sorgen machen der
       Ukraine Gebietsansprüche der „Volksrepubliken“ auf weitere Teile des
       Donbass. Denn die Verwaltungsgebiete Donezk und Lugansk sind größer als die
       Gebiete, die die „Volksrepubliken“ Donezk und Lugansk kontrollieren.
       
       Doch der Plan ist, die beiden Verwaltungsgebiete komplett an sich zu
       reißen. 2019 verabschiedeten beide „Republiken“ Gesetze, in denen sie ihren
       Anspruch auf die gesamten Verwaltungsgebiete beanspruchen. Dies bedeutet,
       dass zum Beispiel die Industriestadt Mariupol nach Lesart der Separatisten
       ebenfalls zur „Volksrepublik Donezk“ gehören müsse.
       
       Und mit ihrer Bestimmung der „Unverletzlichkeit der Grenzen“ in diesen
       Gesetzen machen sie deutlich, dass sie notfalls auch bereit sind, jene
       Grenzen mit militärischer Gewalt festzusetzen.
       
       Im Lauf des Freitags spitzte sich die Lage fast minütlich zu. [7][Moskau
       kündigte zunächst eine Militärübung für Samstag an], Russland zog immer
       weiter Soldaten zusammen. Von nun schon bis zu 190.000 russischen
       Militärangehörigen an den Grenzen sprach der US-Botschafter bei der
       Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), Michael
       Carpenter. Für die Ostukraine bewertet die OSZE die Kämpfe als die
       schwersten seit 2015.
       
       Der Wartezustand geht weiter, auch in der Wohnung am Sewastopol-Platz. Die
       Sache mit dem bröckelnden Putz will der eingangs erwähnte Vermieter erst
       mal nicht angehen. „Wozu soll man jetzt diese Stellen nachbessern? Wenn
       Putin in zwei Wochen kommt, dann ist vielleicht die ganze Wand weg“, sagt
       er, ehe er die Miete einstreicht und von dannen zieht.
       
       18 Feb 2022
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Konflikt-zwischen-Russland-und-Ukraine/!5831196
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 (DIR) [4] https://gordonua.com/blogs/sergey-sidorenko/chtoby-pridumat-takoy-den-edineniya-nuzhno-bylo-ne-uchastvovat-ni-v-odnoy-iz-revolyuciy-i-voobshche-ne-chuvstvovat-sobstvennuyu-stranu-1595694.html
 (DIR) [5] https://www.gazeta.ru/politics/2022/02/17/14545057.shtml
 (DIR) [6] https://detector.media/infospace/article/196627/2022-02-18-reznikov-zaklykav-ne-viryty-feykam-kremlya-pro-ukrainskyy-nastup/
 (DIR) [7] /Nachrichten-in-der-Ukraine-Krise/!5836254
       
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