# taz.de -- Parteitag der Grünen: Ganz oben wirds prekär
       
       > Interessant, wie persönliche Armutserfahrungen vom neuen Grünen-Vorstand
       > thematisiert wurden. Aufschlussreich auch, dass es kaum um Boni ging.
       
 (IMG) Bild: Farbenfroh ins Amt: Der neue Co-Vorstand Omid Nouripour, hier mit Muhterem Aras
       
       Der neue [1][Grünen-Vorstand] hat Ahnung von Armut. Die neue Vorsitzende
       Ricarda Lang erzählte auf ihrer Bewerbungstour bei jeder Gelegenheit von
       ihrer alleinerziehenden und zwischendurch arbeitslosen Mutter. Die Eltern
       ihres Co-Vorsitzenden [2][Omid Nouripour] haben nach ihrer Flucht aus dem
       Iran einen sozialen Abstieg erlebt. Und der neue Parteivize Heiko Knopf aus
       Jena sprach auf dem Parteitag am Wochenende von seiner Kindheit in der
       Nachwendezeit, als seine Mutter 50 Bewerbungen pro Woche schrieb und
       trotzdem höchstens prekäre Jobs fand.
       
       Solche Perspektiven sind weder eine notwendige noch eine hinreichende
       Bedingung für engagierte Sozialpolitik; die Geschichte der Bundesrepublik
       kennt schließlich sowohl Sozialrevolutionäre aus reichem Haus als auch
       Aufsteiger, die den Sozialstaat zersägt haben. Interessant war aber doch,
       welchen Raum die Armutserfahrungen rund um die Neuwahl des Vorstands
       einnahmen. Ob sie in den nächsten Jahren dazu beitragen können, dass die
       Grünen dort neue Anhängerinnen finden, wo sie bislang kaum punkten – unter
       Arbeiter*innen, Arbeitslosen und gering Qualifizierten?
       
       Nun, es wird schwierig. Der Koalitionsvertrag der Ampel sieht in
       Verteilungsfragen punktuell durchaus Fortschritte vor. Aber nachdem die SPD
       in Großen Koalitionen jahrelang zusehen musste, wie sozialpolitische
       Erfolge bei Angela Merkel einzahlten, wird jetzt wohl erst mal sie
       profitieren.
       
       Mit dem Sozialstaat als Markenkern kann die SPD fast 20 Jahre nach der
       Agenda-Politik wieder Wahlen gewinnen. Programmatisch bleibt sie nicht
       hinter Forderungen der Grünen. Und Vorhaben wie die Mindestlohnerhöhung
       darf der sozialdemokratische Minister für Arbeit und Soziales verkünden.
       Manchmal, etwa bei der Kindergrundsicherung, wird wohl die grüne
       Familienministerin Anne Spiegel neben ihm stehen. Zum sozialen Gesicht der
       Ampel wird sie damit allein aber nicht werden.
       
       Und dann ist da ja auch noch die Klimapolitik, die durchaus den Grünen
       zugeschrieben wird, das aber oft in Verbindung mit kurzfristig steigenden
       Preisen. Was Ricarda Lang am Samstag in ihrer Bewerbungsrede sagte, stimmt
       zwar: Klima- und Sozialpolitik müssen nicht im Widerspruch zueinander
       stehen. Können sie aber. Der soziale Kompensationsmechanismus namens
       Klimageld ist im Koalitionsvertrag nur angedeutet.
       
       Die Grünen müssten die SPD im Regierungshandeln und in der Programmatik
       schon übertrumpfen, um das Gutverdiener-Image hinter sich zu lassen. Das
       wiederum würde aber bei denen auf Widerstand stoßen, die die Partei in eine
       andere Richtung vergrößern wollen. „Wir müssen wirtschaftsfreundlich sein“,
       erinnerte Winfried Kretschmann auf dem Parteitag. Dank seiner
       Wahlergebnisse steht er dabei nicht ohne Argumente da. Wie gesagt: Es wird
       schwierig.
       
       Eine notwendige Bedingung gibt es dann aber doch, die vergleichsweise
       einfach zu erfüllen ist: Nebenverdienste nicht angeben und [3][Boni
       kassieren] – das sollte sich der neue Grünen-Vorstand nicht leisten, wenn
       er sozialpolitische Glaubwürdigkeit aufbauen will. Auf dem Parteitag war
       wenig Raum für die Aufarbeitung von Fehlern des letzten Jahres. Wichtiger
       waren gut inszenierte Abschieds- und Einführungsrituale, weitgehend frei
       von Selbstkritik. Hinter den Kulissen muss sich der neue Vorstand mit der
       angekündigten Aufarbeitung aber beeilen.
       
       30 Jan 2022
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Bundesparteitag-der-Gruenen/!5832468
 (DIR) [2] /Gruenen-Duo-ueber-seine-Kandidatur/!5827984
 (DIR) [3] /Staatsanwaltschaft-ermittelt/!5829223
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Tobias Schulze
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Bündnis 90/Die Grünen
 (DIR) Ricarda Lang
 (DIR) Omid Nouripour
 (DIR) Ampel-Koalition
 (DIR) Ricarda Lang
 (DIR) Parteitag
 (DIR) Bündnis 90/Die Grünen
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Kritik an geplanten Entlastungen: „Ein schlechter Witz“
       
       Die Ampelkoalition will Bürger:innen wegen der hohen Energiekosten
       finanziell entlasten. Sozialverbände kritisieren, die Pläne reichten lange
       nicht aus.
       
 (DIR) Bundesparteitag der Grünen: Besondere Umstände
       
       Die Grünen haben eine neue Parteispitze: Omid Nouripour und Ricarda Lang
       übernehmen den Vorsitz. Mit was für einer Partei bekommen sie es zu tun?
       
 (DIR) Doppelspitze der Grünen: Lang und Nouripour sind gewählt
       
       Die Grünen haben zwei neue Parteivorstände. Ricarda Lang und Omid Nouripour
       werden zukünftig an der Spitze der Partei stehen.
       
 (DIR) Grünen-Duo über seine Kandidatur: „Vielfältiger als unser Ruf“
       
       Ricarda Lang und Omid Nouripour wollen Grünen-Chefs werden. Ein Gespräch
       über Streit, sozial verträgliche Klimapolitik – und den vermasselten
       Wahlkampf.