# taz.de -- Neuer Roman von Hanya Yanagihara: Menschliches Unglück hoch drei
       
       > „Ein wenig Leben“ machte Hanya Yanagihara zum Star. Im neuen Roman „Zum
       > Paradies“ geht es allen wieder schlecht. Fragt sich nur: warum
       > eigentlich?
       
 (IMG) Bild: Schreibt Romane im Oversize-Format: Hanya Yanagihara
       
       Wohin geht hier die Reise? In „Zum Paradies“ sind viele der Figuren in
       Hanya Yanagiharas neuem Oversize-Roman unterwegs, doch wie die
       Richtungsangabe des Titels schon andeutet, kommen sie dort nicht an. „Zum
       Paradies“ ist (auch) ein Roman der unerfüllten Sehnsüchte, genauer gesagt:
       Er ist drei Romane.
       
       Von diesen nehmen die ersten beiden zusammengenommen die erste Hälfte des
       900-Seiters ein, der dritte ganz allein die zweite. Der erste handelt von
       einer fehlgeleiteten Sehnsucht, der zweite von einer scheiternden Utopie,
       der dritte von [1][einer vollendeten Dystopie.] Man könnte feststellen,
       dass sich der Fokus damit zunehmend vom Privaten ins
       Gesamtgesellschaftliche, vielleicht auch ins Politische weitet – falls man
       annehmen will, dass dieser Roman tatsächlich eine ernst zu nehmende
       gesellschaftspolitische Grundierung hat.
       
       Der erste Teil spielt im Jahr 1893, der zweite 1993 sowie dreißig Jahre
       zuvor, der dritte 2093. Gemeinsam ist allen ein gewisser Bezug zu ein und
       demselben Haus am New Yorker Washington Square, und als sei das
       Romanschreiben eine Art Gesellschaftsspiel mit bestimmten Regeln, gibt es
       ein begrenztes Set von Namen, die für alle Figuren in allen drei Romanen
       verwendet werden.
       
       Häufig tragen zusätzlich auch innerhalb eines der Teilromane mehrere
       Figuren denselben Namen, denn viel Dynastisches wird hier verhandelt. Es
       geht um Familien, Traditionen, Erbfolgen; Söhne bekommen die Namen der
       Väter. Wir lernen also etliche, und dabei durchaus verschiedene, Davids,
       Edwards, Williamse und Charlese kennen, dazu in Teil 3 eine weibliche
       Charlie, die einzige weibliche Hauptfigur, die aber insofern keine
       „richtige“, soll heißen normal entwickelte, erwachsene Frau ist, als sie
       aufgrund einer schweren Erkrankung im Kindesalter eine mentale
       Beeinträchtigung davongetragen hat, die sie auf ewig zu einem seltsam
       indirekten Verhältnis zur Umwelt verdammt.
       
       ## All das Elend
       
       Dieses Defizit allerdings trägt Charlie in diesem Roman nicht als Einzige,
       wobei sie von allen Hauptfiguren diejenige ist, für die Empathie
       aufzubringen am leichtesten fällt – unter anderem deshalb, da ihr
       eigenartiges Wesen hinreichend erklärt wird.
       
       Auch die Hauptfiguren aus Teil 1 und Teil 2 sind Charaktere, die mit der
       Welt als solcher nicht zurechtkommen; aber bei beiden ist nicht wirklich
       einzusehen, warum das der Fall ist – und eigentlich ebenso wenig, warum
       mensch ihnen als LeserIn so lange folgen soll in ihrem nicht aufzulösenden
       Elend.
       
       Die Hauptfigur von Teil 1 (einer der Davids) ist ein reicher Erbe in einem
       fiktiv-utopistischen New York von 1893, in dem sowohl die
       gleichgeschlechtliche Ehe legal und üblich ist als auch Frauen längst das
       Wahlrecht besitzen und gesellschaftlich wichtige Rollen spielen.
       (Allerdings offenbar längst nicht so sehr wie die Männer; wie überhaupt
       Frauen in Yanagiharas Romanen fast ausschließlich Nebenrollen abkriegen.)
       Dieser David, sozial unbeholfen und in der Jeunesse dorée New Yorks ein
       absoluter Außenseiter, verfällt einem suspekten jungen Musiker (einer der
       Edwards) und bricht für diesen mit seiner Familie, um in ein neues Leben
       voller Unsicherheit und Gefahren zu entschwinden.
       
       ## Prinz von Hawaii
       
       Teil 2 wiederum hat zwei Hauptfiguren namens David und eine recht
       überflüssige Rahmenhandlung, die wieder am Washington Square spielt. Die
       eigentliche Handlung findet auf Hawaii statt und kreist um David den
       Älteren, der ein Prinz aus der ehemaligen hawaiianischen Königsfamilie ist.
       Diese Erzählung spielt mit der historisch realen Phase des wiedererstarkten
       hawaiianischen Nationalbewusstseins, die wohl auch in der Realität manch
       extreme Randerscheinung hervorbrachte.
       
       Eine solche Randerscheinung, ein nationalistischer Extremist („Edward“),
       instrumentalisiert in „Zum Paradies“ den potenziellen Thronfolger, den
       völlig willenlosen, handlungsunfähigen, sozial unsichtbaren David, der wie
       Wachs in den Händen des anderen ist. Auch wenn das Setting, das Yanagihara
       für diese Romanpassage wählt, ins Surrealistische tendiert, so ist doch
       die Hawaii-Erzählung näher an der gesellschaftlichen Wirklichkeit als
       irgend etwas anderes im Roman. Es gibt (aber nicht nur deswegen) Gründe,
       diesen Part von Roman 2 als eine der gelungensten Passagen im Buch zu
       betrachten.
       
       Man könnte denken, dass es der dritte, längste Teilroman ist, der sich am
       unmittelbarsten auf unsere aktuelle Wirklichkeit bezieht. Immerhin handelt
       er von einer Gesellschaft, die im Zuge der Bekämpfung immer neu
       aufflammender Pandemien zu einem totalitären Überwachungsstaat geworden
       ist. Yanagihara hat in Interviews betont, dass die Recherche dazu
       abgeschlossen und ein Teil dieses längsten Romandrittels schon geschrieben
       gewesen sei, als die Welt im Frühjahr 2020 in den ersten Lockdown ging. Die
       politischen Implikationen, die sich aus dem orwellesk anmutenden Szenario
       ergeben, sind dennoch zumindest fragwürdig.
       
       ## Hochgradig toxisch
       
       Doch aus der Gesamtanlage des Romans ist offensichtlich, dass es Yanagihara
       um eine politische Aus- oder Ansage nicht geht. Was sie hinter aufwendig
       erstellten dystopischen Kulissen in diesem Roman verhandelt, ist die
       soziale Dysfunktionalität des Menschen und seiner Beziehungen. Soziale und
       emotionale Harmonie gibt es nur bei Nebenfiguren, glücklichen Paaren und
       Passanten, angesichts deren offenbar (oder etwa auch nur scheinbar?)
       erfüllter Beziehungen die lebensuntüchtigen Hauptfiguren umso elender
       wirken in ihrer existenziellen Einsamkeit.
       
       Und wenn dann doch Menschen auftauchen, mit denen ein Zusammensein möglich
       scheint, so sind diese Figuren entweder hochgradig toxisch, wie der
       Extremist in Roman 2; oder sie sind nicht, was sie zu sein scheinen, wie
       der mit Geheimauftrag zu Charlie geschickte David in Roman 3; oder beides
       zugleich, wie der luziferische Edward in Roman 1.
       
       Als Mensch zu leben ist in diesem Roman immer aufs Neue eine Qual. Seine
       Hauptfiguren sind damit enge Psychoverwandte des ewig leidenden Jude aus
       Yanagiharas großem Erfolgsroman „Ein wenig Leben“ aus dem Jahr 2017. Dessen
       Siegeszug durch die Bestsellerlisten lag auch darin begründet, dass die
       Autorin einen gewaltigen Spannungsbogen aufbaute und kunstvoll die
       Lesererwartung schürte, der Quelle der rätselhaften Seelenqualen ihrer
       Hauptfigur doch noch auf die Spur kommen zu können – eine Erwartung, die
       durch eine [2][sadomasochistisch durchwirkte Vorgeschichte] auf letztlich
       eher banale Weise und damit nur halb eingelöst wurde.
       
       ## Leben ist Leiden
       
       Einen solchen Erklär- und Auflöseaufwand spart Yanagihara sich in „Zum
       Paradies“ fast ganz. Ihre Figuren sind – abgesehen von Charlie aus Teil 3 –
       so, wie sie sind, weil sie nach dem Willen ihrer Autorin eben so sein
       sollen: der Welt fremd, ohne Eigenschaften, ohne Interessen oder
       Leidenschaften, unfähig zu sozialem Miteinander, nicht liebenswert für
       andere; also unendlich einsam. Ihr Leiden an der Welt und an den anderen
       Menschen aber ist nicht nur ihr eigenes Leid, sondern wird auf langer
       Strecke zur großen Quälerei für die oder den LeserIn.
       
       Dabei braucht es nicht annähernd die lange Strecke, um die zentralen Punkte
       dieser Unglücksnarration zu verstehen: Leben ist Leiden, die Hölle sind die
       anderen, und falls es das Paradies gibt, so werden wir Menschen es
       jedenfalls nie erreichen. Das mag schon alles stimmen. Aber der Verdacht
       ist nicht von der Hand zu weisen, dass es das geheime Ziel dieses Romans
       ist, das Leiden am Dasein für seine LeserInnen noch zusätzlich zu
       verschärfen.
       
       25 Jan 2022
       
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