# taz.de -- Werkschau Tomi Ungerer in Hamburg: Traumata überwinden
       
       > Seine Kinderbücher sind bevölkert von schaurigen Wesen. Doch die
       > Werkschau von Tomi Ungerer in Hamburg erzählt von einem glücklichen
       > Menschen.
       
 (IMG) Bild: Tomi Ungerer: With no eyes to cry with, Zeichnung für Slow Agony, 1971-1983, Ausschnitt
       
       Zu seinem 90. Geburtstag eröffnete eine Werkschau des Zeichners,
       Illustrators und [1][Kinderbuchautors Tomi Ungerer (1931–2019)] in der
       Sammlung Falckenberg, der im Stadtteil Harburg gelegenen Abteilung der
       Hamburger Deichtorhallen. „It’s All About Freedom“ zeigt auf drei Etagen
       der ehemaligen Fabrikhalle, wie sich Ungerers Freiheitsliebe in all seinen
       Werken und Lebenslagen stets durchsetzte. Frei heraus zeichnete er seine
       Sicht der Dinge, frei wählte er Techniken und Materialien.
       
       Seine Skulpturen komponierte er aus Fundstücken, wie das Dreirad mit den
       Sägeblatträdern, Assemblagen aus mumifizierten Tieren oder einen halbierten
       Teddy, dem man in sein Innenleben schauen kann. Ein einzelnes Ölgemälde
       zeigt einen Kerl im Anzug, der anstelle des Kopfes eine Bombe mit lodernder
       Lunte trägt. Zusammengetragen wurden diese rund 400 Werke – unter anderem
       aus dem Centre de l’Illustration Strasbourg, dazu private Leihgaben und
       neue Funde aus seinem Straßburger Haus – von Ungerers Tochter Aria. Einiges
       ist also bislang nicht öffentlich gezeigt worden.
       
       Im Erdgeschoss geht es ansatzweise chronologisch mit seinen
       Kinderzeichnungen los, dann kann man thematisch verwandte Cluster
       betrachten und Zusammenhänge zwischen dem Erwachsenenwerk und dem Werk als
       Kinderbuchautor und -illustrator erkennen. Dazu werden filmische
       Dokumentationen gezeigt. Und – im obersten Stock – Arbeiten anderer
       Künstler, die einen deutlichen Bezug zu seinem Werk aufweisen. Eine Fläche
       im Tiefparterre steht für ergänzende Aktionen zur Ausstellung, besonders
       für Kinder, bereit.
       
       „Ohne Verzweiflung kein Humor“, wusste Ungerer. Aber auch, dass er trotz
       allem eine glückliche Kindheit gehabt habe, an der deutsch-elsässischen
       Grenze im Hin und Her der Besatzungsmächte. Dort wuchs der Straßburger ab
       dem vierten Lebensjahr bei seiner Helikopter-Mutter auf, nachdem sein Vater
       verstorben war.
       
       ## Die Einsamkeit, die erfinderisch macht
       
       Der kleine Jean-Thomas durfte kaum raus und nicht mit den anderen Kindern
       spielen, verbrachte also viel Zeit zu Hause – mit Zeichnen. Maman hob alles
       auf. Unter anderen Konditionen hätte er wohl die bedeutende
       Uhrmacher-Dynastie der Familie beerbt. Aber so beschäftigte sich der
       Sechsjährige mit zeichnerischen Details und verarbeitete den Input im
       Uhrwerk seines Gehirns zu überraschenden, oft provokanten Ergebnissen, die
       er direkt durch den Stift meist auf die Rückseiten bedruckten Papiers
       übertrug.
       
       Eine frühe Kinderzeichnung ist die abgezeichnete Mickey Mouse. Im
       Stil-Adaptieren war er gut, aber dabei blieb es nie. Sie ist mit kleinen
       Kommentaren versehen, das macht er später immer noch. Im Stil anderer
       Künstler versuchte er als Jugendlicher, den Krieg einzufangen: Soldat mit
       Krücken, Frau mit Kindern.
       
       Und gleich dahinter zeigen uns die schattenrissartigen Hüte der
       [2][berühmten „Drei Räuber“ von 1961], dass doch Heiterkeit und Witz einen
       bedeutenden Teil seines Seins ausmachten. Während es das Buch vom Pocket-
       bis zum Makro-Format gibt, können wir hier feststellen, dass das Original
       etwa DIN A4 groß ist und wie ökonomisch der Meister mit Material umging:
       Die große schwarze Fläche besteht aus aufgeklebten Tonpapier, gemalt hat er
       nur den Teil, in dem etwas „passiert“.
       
       ## Der Pastor und seine „Schäfchen“
       
       Es folgen Aufgaben aus seiner Studienzeit: lustige Physiker, Brause-Werbung
       mit weißer Katze, früh Satirisches, im Stil fast wie Saul Steinberg,
       inhaltlich aktuell geblieben: Pastor sitzt zwischen Kindern auf einer Bank,
       seine Hände ruhen im Schoß der „Schäfchen“. Auch sind einige sehr
       ausgemalte Sexbomben zu sehen, doch im Hintergrund tummeln sich die
       typischen witzigen Figuren.
       
       Eine unbekannte Serie schildert die Abenteuer einiger Animierdamen an einem
       Straßencafé. In den 1960er Jahren begann Ungerers Erfolg, unter anderem in
       New York. Viel Spaß macht der entlarvende Blick auf die Gesellschaft, in
       die seine erste New Yorker Frau ihn brachte. „The Party“ von 1966 stellt
       erkennbare Individuen der damaligen High Society, etwa Rockefeller, von
       ihrer abgründigen Seite dar. Ihm, dem Star, gewährten der Artdirector von
       Sports Illustrated oder der Times die Freiheit, die eigentlichen Absichten
       der Werbung umzukehren, die Kehrseite der schönen Oberfläche zu zeigen.
       
       Noch böser sind Zeichnungen aus den 1970er und 80er Jahren, in denen er
       kranke gesellschaftliche Zustände überspitzt. Das Wahre, aber Hässliche,
       der Sex und der Tod sind seine Themen. Entweder in provozierender
       Übertreibung oder ruhig dokumentiert, wie in Skizzen zu „Schutzengel der
       Hölle“, seiner Sadomaso-Dokumentation aus der Hamburger Herbertstraße, oder
       über das Leben auf seiner Farm: Tiere schlachten, tote Tiere.
       
       ## Düster rotzige Collagen
       
       Ein Raum der Ruhe ist den großen Porträts von Häusern der Serie „Slow
       Agony“ vorbehalten, die in seiner ehemaligen Nachbarschaft in Nova Scotia
       verfielen. Schöne Tristesse in sanften Farben.
       
       Nach drei Schlaganfällen in Folge konnte er eine Weile nicht mehr zeichnen,
       so nutze er die Technik der Collage, zu sehen in düster-rotzigen Werken.
       Ende der 90er ging es wieder, wir sehen seine Arbeit am Kinderbuch „Otto“,
       in dem er Eindrücke der Nazizeit aufarbeitet. Nie schien er dem Leben
       auszuweichen, sondern setzte sich mit dem auseinander, womit es ihn
       konfrontierte. „Don’t hope, cope!“ war einer seiner Leitsprüche. Er, der
       „den Krieg aus der Nähe“ gesehen hatte, war dennoch ein glücklicher Mensch.
       Seine Kinderbücher sind zwar durchsetzt von drastischen Situationen und
       bevölkert von schaurigen Wesen, was ihm sowohl Konflikte wie auch
       Anerkennung eintrug. Seine Absicht war es aber, den Kindern zu zeigen, dass
       sie Traumata überwinden können.
       
       Vielleicht könnte man ihn als produktiven Querdenker bezeichnen, wäre das
       Wort nicht in den letzten beiden Jahren so unrettbar verhunzt worden. Ein
       Freigeist war er allemal.
       
       18 Jan 2022
       
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