# taz.de -- Leben als weiblich gelesene Person: Ewig fruchtbar bis ins hohe Alter
       
       > Bei männlich gelesenen Personen wird mehr gelesen als ihr Äußeres, zum
       > Beispiel ihre Artikel zu brennenden Fragen der Zeit oder ihr Kontoauszug.
       
 (IMG) Bild: Haare färben bis ins hohe Alter oder in Ruhe grau und schrumpelig werden?
       
       „Erzähl das deiner Friseurin“, sagte der Vater meiner Kinder manchmal zu
       mir, wenn er keine Lust hatte, sich etwas anzuhören über drohenden
       Zehennagelkrebs oder den jüngsten Streit mit meinem Kollegen oder meiner
       Mutter, und dann sagte ich oft, „das habe ich schon“. Jedenfalls dann, wenn
       gerade der turnusgemäße Friseurbesuch hinter mir lag.
       
       Fast mein ganzes Erwachsenenleben habe ich kurze Haare getragen, das sieht
       erstens gut aus und verlangt zweitens weder Föhn noch Styling oder
       irgendeine andere Art zeitfressender Aufmerksamkeit. Nur kann man sie nicht
       wie andere aus der Form geratene Frisuren zu einem Zopf zusammentüdeln, sie
       müssen regelmäßig gestutzt werden wie ein englischer Rasen oder ein
       Königspudel.
       
       Seit fast 25 Jahren gehe ich daher alle sechs bis acht Wochen zu Jessi. So
       heißt meine Friseurin, und sie hat mich durch alle Lebenslagen begleitet
       und weiß mehr über mich als viele andere, aber das wird sich jetzt ändern,
       denn von nun an teile ich das, was ich ihr erzähle, mit allen, die solch
       Text gewordenes Oversharing lesen.
       
       Das stimmt so natürlich nicht, denn ich spare hier die blutigsten Details
       aus. Jessi kann das ab, sie ist vom Fach und hört täglich Geschichten über
       Operationen, Geburtsverletzungen, untreue Ehemänner und gescheiterte Käufe
       von Designerküchen. Dazu möchte ich sagen, dass ich seit einer Polypen-OP
       als Kind unter mäßig gelungener Narkose Krankenhäuser meide, bei der einen
       Geburt nur eine geschürfte Schamlippe hatte, mein Mann und ich uns
       glücklich getrennt haben ohne das Zutun Dritter (glaube ich jedenfalls) und
       die einzige Küche, die ich bisher gekauft habe, von Ikea war.
       
       Aber an der geschürften Schamlippe sollte deutlich werden, dass es in
       dieser Kolumne schon mal zur Sache gehen wird, und die Sache hat mit
       Körpern zu tun, genauer mit [1][Frauenkörpern], denn so einen habe ich,
       auch wenn die jungen Menschen heutzutage sagen, ich sei eine Person, deren
       Körper weiblich gelesen werde (außer von vielen Kindern, die lesen mich
       männlich, wegen der kurzen Haare). Die Tochter von Freund:innen erzählte,
       dass eine Uni-Dozentin jede Woche aufs Neue abfrage, mit welchem Pronomen
       die Seminar-Teilnehmer:innen gerade bezeichnet werden wollen. Das sind
       Momente, in denen ich mich sehr, sehr alt fühle.
       
       Aber gut, man muss mit der Zeit gehen, und viele Probleme würden sich von
       alleine erledigen, [2][wenn es nur noch Personen gäbe] – oder Menschen. Zum
       Beispiel müsste ich seltener zum Friseur gehen, weil bei männlich gelesenen
       Personen mehr gelesen wird als ihr Äußeres, zum Beispiel ihre Artikel zu
       brennenden Fragen der Zeit oder ihr Kontoauszug. Da fallen fehlende
       Konturen des Kopfhaars nicht so auf und die anderen Haare dürfen auch
       wachsen, wie sie wollen.
       
       Am Donnerstag sehe ich Jessi und dann frage ich sie, ob sie glaubt, dass
       ich jetzt meine Wangen waxen muss, denn dort wächst neuerdings ein feiner
       Flaum. Das kommt, weil sich mit Ende 40 aufgrund des Östrogenmangels
       „Vermännlichungserscheinungen“ einstellen, wie es so überaus charmant auf
       [3][frauenaerzte-im-netz.de] heißt.
       
       Das darf aber niemand wissen! Angezogen und von hinten soll ich bis ins
       hohe Alter aussehen, als wäre ich eine geeignete Sexualpartnerin für den
       Arterhalt. Um so zu tun, als wäre ich noch fruchtbar, wollte ich das Grau
       in meinen Haaren verschwinden lassen, aber Jessi hat sich geweigert. „Nä,
       das bist du nicht.“ Erst war ich sauer, genau wie damals, als sie mir die
       Haare nicht bordeauxrot färben wollte, sondern orange und ein paar Jahre
       später anders herum, aber jetzt denke ich: Jessi hatte recht, wie immer.
       Ich will in Ruhe grau und schrumpelig werden.
       
       2 Nov 2021
       
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