# taz.de -- Energieexperte über Gas aus Russland: „Die Europäer werden nicht frieren“
       
       > Russlands Präsident Putin versucht die europäische Energiewende durch die
       > Kontrolle von Gas aufzuhalten, sagt Energieexperte Michail Krutichin.
       
 (IMG) Bild: Putin hält den Vorwurf, Gas als Waffe einzusetzen, für „politisches Geschwätz“
       
       taz: Herr Krutichin, Russlands Präsident Wladimir Putin will nun doch, dass
       Gazprom die Speicher in Europa befüllt. Warum dieser Schritt? 
       
       Michail Krutichin: Es ist eine vorgetäuschte freundliche Geste in Richtung
       Europa. Und es ist die Demonstration dessen, dass Putin das Kommando über
       Gazprom hat. Wie auch bereits in den vergangenen Wochen, Monaten, Jahren
       benutzt er Gazprom als politisches Instrument. Die Wunden, also die
       Verluste, die Gazprom zuletzt erfahren hat, wird es damit nicht decken
       können.
       
       Hätte Europa ohne diese „Rettung“ im Winter sonst frieren müssen? 
       
       Die Panik in Europa ist groß. Sie wird durchaus von Gazprom selbst
       geschürt. Und von Putin, der gar aus russischen Volksmärchen so etwas wie
       „frier, frier, du Wolfsschwanz“ zitiert und offenbar zeigen will, dass
       Russland für alles gewappnet ist. Das, was Gazprom sagt und tut, wirkt sich
       auf die Futures-Preise aus, die immer sensibel reagieren. Es wirkt sich
       ebenfalls auf die Spekulationen auf den Finanzmärkten aus, wo diese Futures
       gehandelt werden.
       
       Futures, das sind Termingeschäfte, bei denen sich mit einem relativ hohem
       Risiko hohe Renditen erzielen lassen. Wieso wirken sich die Aussagen
       Gazproms auf diese aus? 
       
       Mit Panikmache lässt sich immer gut Geld machen. Die Speicher aber sind
       bereits jetzt ausreichend gefüllt, damit ein normaler Winter normal hinter
       sich gebracht wird. Außer dem Gas von Gazprom gibt es in manchen
       europäischen Ländern eigenes Gas, man könnte auch Erdgas aus Norwegen
       kaufen, zudem gibt es die Möglichkeit, Flüssiggas zu bekommen. Die Europäer
       werden nicht frieren.
       
       Gazprom erfüllt alle seine Verträge. Wo liegt das Problem? 
       
       Gazprom und die russische Regierung sagen geradezu bei jedem Schritt, dass
       sie alles erfüllen. Und es stimmt, da gibt es wirklich nichts zu
       beanstanden. Doch man macht lediglich „Dienst nach Vorschrift“, neue
       Verträge werden kaum abgeschlossen. Dabei hat Gazprom für gewöhnlich immer
       etwa 20 Prozent mehr Gas geliefert als in langfristigen Verträgen
       ausgemacht worden war. Denn Gazprom hat gut auf dem Spotmarkt verkauft, wo
       Gas direkt gehandelt wird. Plötzlich und unerwartet erklärte es allerdings,
       dass es den Handel auf dem Spotmarkt im vierten Quartal dieses Jahres und
       das ganze kommende Jahr einstellen wird. Und das, obwohl die Preise
       momentan sehr hoch sind. Es lässt sich lukrative Geschäfte entgehen. Mit
       Absicht.
       
       Warum? 
       
       Weil es sich nicht wie ein kommerzielles Unternehmen verhält. Gazprom
       schadet sich bewusst selbst. Der Grund ist ein politischer. Denn Gas ist
       vorhanden, man könnte problemlos mehr liefern. Erst vor Kurzem erklärte
       Putin, dass zehn Prozent mehr Gas drin wären. Das Gas aber müsste durch
       Nord Stream 2 fließen. Das ist die Bedingung. Das Kalkül des Kreml ist:
       Wenn die Europäer wollen, dass wir nachgeben, sollen die Europäer erst
       selbst nachgeben und die Zertifizierung der Ostseepipeline beschleunigen.
       Das ist Erpressung. Damit setzt Russland Gazprom als politisches Instrument
       ein.
       
       Nicht zum ersten Mal … 
       
       In der Tat. Lassen Sie uns zum Beispiel auf den Winter 2014/2015 schauen,
       in dem Gazprom die Gaslieferungen nach Europa um 50 Prozent drosselte, weil
       die Europäer damit angefangen hatten, Gas an die Ukraine zu liefern. Das
       gefiel dem Kreml freilich nicht. Bei diesem politischen Spiel verlor
       Gazprom viereinhalb Milliarden Euro. Die Politik kommt Gazprom stets teuer
       zu stehen.
       
       Wie auch bei den neuen Gasverträgen mit Ungarn? 
       
       Zweifellos geht es auch bei den Verträgen mit Ungarn vor allem darum, die
       Ukraine zu bestrafen. Bekamen die Ungarn ihr Gas früher durch die Ukraine,
       wird jetzt Gas von der Jamal-Halbinsel ganz im Norden Russlands bis
       hinunter in den russischen Süden transportiert, dann weiter über das
       Schwarze Meer in die Türkei, über Bulgarien und Serbien nach Ungarn. Das
       ist ein Umweg, der Gazprom vier Mal mehr kostet als der Transport durch die
       Ukraine. Auch dieser Vertrag verfolgt geopolitische Ziele Russlands.
       
       Nimmt Russland dabei vor allem Deutschland als Geisel? 
       
       Als Deutschland sich dazu bereit erklärte, Nord Stream 2 haben zu wollen
       und bis heute nicht davon abrückt, es als rein wirtschaftliches Projekt zu
       bezeichnen, hat es das Fenster für russische Erpressungsversuche noch
       weiter geöffnet. Nord Stream 2 eignet sich dazu, die Ukraine zu bestrafen
       und einen Keil zwischen die EU-Länder zu treiben.
       
       Dass Russland Gas als Waffe einsetze, bezeichnet Putin als „politisch
       motiviertes Geschwätz“. Worin liegt die Motivation Moskaus? 
       
       Wir müssen da breiter denken. Es geht nicht nur um ein Projekt. Nord Stream
       2 ist lediglich eine Schlacht in einem großen Krieg. Dieser heißt: „Stoppt
       mal, Leute! Ihr prescht zu schnell mit eurem Green Deal vor.“ Erst vor
       Kurzem hat die russische Führung verstanden, dass die europäische Abwendung
       von fossilen Energieträgern eine Herausforderung für Russland darstellt, ja
       eine Gefahr. Früher schien das alles in sehr weiter Ferne zu liegen. Nun
       aber erkennt der Kreml: Die Europäer meinen es ernst, sie schaffen konkrete
       Arbeitspläne, sorgen für die Finanzierung ihrer Vorhaben. Widerwillig fängt
       man in Moskau an, sich an den Kopf zu fassen. Russland hat für den Export
       nichts anderes anzubieten als Öl und Gas.
       
       Wie reagiert Putin? 
       
       Die jüngsten Auftritte Putins enthielten eben die Aufforderung: Drosselt
       euer Tempo! Und wenn ihr euch doch beeilt, lassen wir euch frieren. Das ist
       das Denken in diesem Krieg zwischen dem Anbieter schmutziger Energie und
       den Ländern, die auf saubere Energie umstellen wollen. Das wird sich noch
       verschärfen. Welche Methoden Gazprom und der Kreml verwenden werden, kann
       ich nicht sagen, aber er wird mit aller Macht zeigen: Ohne russisches Gas
       wird Europa nicht klarkommen!
       
       28 Oct 2021
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Inna Hartwich
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Russland
 (DIR) Gazprom
 (DIR) Green New Deal
 (DIR) Nord Stream 2
 (DIR) Nord Stream 2
 (DIR) Schwerpunkt Klimawandel
 (DIR) Russland
 (DIR) Pipeline
 (DIR) North-Stream-Pipeline
 (DIR) Klimakommission
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Zertifizierung von Nord Stream 2: Gazprom schaut in die Röhre
       
       Die Bundesnetzagentur stoppt die Inbetriebnahme von Nord Stream 2 aus
       formalen Gründen. Zudem klagt die Deutsche Umwelthilfe gegen das Projekt.
       
 (DIR) Keine Freigabe der Netzagentur: Nord Stream 2 vorerst gestoppt
       
       Rückschlag für Nord Stream 2: Die Pipeline ist fertig, aber die
       Bundesnetzagentur setzt das Zertifizierungsverfahren vorerst aus.
       
 (DIR) Konflikt in der Ostukraine: Russisches Säbelrasseln
       
       Nach mehrtägigen Militärmanövern verlegt Moskau zusätzliche Einheiten an
       die Grenze zur Ukraine. Dort stehen jetzt rund 90.000 Soldaten.
       
 (DIR) Umstrittene Pipeline Nord Stream 2: Das Gas könnte bald fließen
       
       Zwar sind noch nicht alle Vorgaben für die umstrittene Pipeline Nord Stream
       2 erfüllt. Aber etwaige Bußgelder dürften den Start kaum verhindern.
       
 (DIR) Kompromiss zu Nord Stream 2: Die Ukraine guckt in die Röhre
       
       Realpolitisch verhindert der Deal um die umstrittene Pipeline Nord Stream 2
       größeren Schaden. Doch Kiew könnte am Ende mit leeren Händen dastehen.
       
 (DIR) Green Deal der EU: Die Revolution der Eurokraten
       
       Die EU-Kommission hat Vorschläge für den Green Deal präsentiert. Der Kampf
       um das Ende des fossilen Regimes wird die nächsten Jahre prägen.