# taz.de -- Trauer in der Pandemie: „Dann hab ich Papa einfach umarmt“
       
       > Rund 80.000 Coronatote werden inzwischen gezählt. Abschied zu nehmen ist
       > schwer, wenn Menschen sich nicht nah sein dürfen. Vier Angehörige
       > erzählen.
       
 (IMG) Bild: Trauer im Dezember in Berlin
       
       Ein oder zweimal wurde mir in dieser Zeit der Trauer gesagt: „Na, du weißt
       ja, wie's geht.“ Das war schon verletzend. Ich bin im Bistum Speyer
       Referentin für Hospiz- und Trauerseelsorge. Mein Mann ist Diakon und macht
       auch Beerdigungen. Im Dezember haben wir beide innerhalb von wenigen Tagen
       unsere Väter verloren. Obwohl wir diesen professionellen Zugang haben, ist
       mir wichtig: Wir dürfen auch einfach als Menschen trauern.
       
       Am 11. Dezember haben wir die Nachricht aus dem Seniorenheim bekommen, mein
       Schwiegervater sei positiv. Er lebte dort nach einem Schlaganfall. Der
       Herbert hatte Fieber, nach kurzer Zeit schien es ihm besser zu gehen. Dann
       aber rief eine Schwester an: Er sehe gar nicht gut aus. Wir bekamen die
       Erlaubnis, ihn zu besuchen.
       
       Ich habe geweint, weil ich Sorge hatte, dass ich, wenn ich jetzt dorthin
       gehe, möglicherweise nicht zu meinem eigenen kranken Vater kann, wenn dort
       etwas ist. Die Pflegedienstleiterin hat mir dann angeboten, mich alle zwei
       Tage zu testen, damit ich kommen kann. So ein Geschenk!
       
       Wir hatten Visier, Mundschutz, Kittel und doppelte Handschuhe an und
       durften eine halbe Stunde bleiben. Als erstes bin ich ans Bett und habe
       gesagt: „Herbert, wir sehen schon komisch aus, so hast du uns auch noch
       nicht gesehen.“ Da hat er geschmunzelt.
       
       Wir haben gleich gemerkt, dass es Zeit für einen Sterbesegen ist. Wir haben
       ihn gesalbt, ihm gedankt und es war klar: Wir nehmen voneinander Abschied.
       
       Er wollte etwas antworten und konnte nicht. Da habe ich das formuliert: „Du
       wolltest uns vielleicht sagen, dass du uns auch lieb hast.“ Er hat genickt
       und unsere Hände fest gedrückt.
       
       Für meinen Mann war es am Tag darauf sehr schwer, dass sein Vater fünf
       Kilometer weiter im Sterben liegt und er nicht an seiner Seite ist. Dass
       niemand an dem Bett war und seinem Vater die Hand hielt. Unter normalen
       Umständen hätten wir uns Tag und Nacht abgewechselt.
       
       Dann kam auch noch die Nachricht, dass mein Vater mit Corona infiziert ist.
       Er war im Krankenhaus, weil er gestürzt war, kurze Zeit vorher war er schon
       mal in der Klinik gewesen, möglicherweise hat er sich da infiziert. Er
       hatte vielen Baustellen: Diabetes, Fußamputation, das Herz schwach,
       Aneurysma.
       
       Einen Tag nach der Nachricht, dass mein Vater positiv ist, ist mein
       Schwiegervater gestorben. Er war 81 Jahre alt.
       
       Am Morgen nach dem Tod von Herbert, als wir mit der Bestatterin da saßen,
       kam die Nachricht, dass mein Vater intubiert worden war. Manchmal frage ich
       mich im Nachhinein, wie wir diese Tage geschafft haben.
       
       Mein Gefühl damals war: Wenn ich jetzt von meinem Vater nicht Abschied
       nehme, dann kann ich meinen Beruf als Trauerbegleiterin an den Nagel
       hängen. Ins Krankenhaus durfte eigentlich niemand rein. Das war das erste
       Mal in meinem Leben, dass ich die Karte ausgespielt habe, Seelsorgerin zu
       sein. Als ich ans Bett kam, hat mein Vater als erstes nach Herbert gefragt,
       und ich musste ihm sagen, dass der gestorben ist. Ich habe gemerkt: Mein
       Vater möchte leben.
       
       Bei Herbert wollten wir nochmal als Familie Abschied nehmen. Bei einem
       Corona-Infizierten ist das am offenen Sarg nicht möglich, aber am
       geschlossenen. Wir haben zwei Tage nach seinem Tod eine kleine Feier
       gemacht, Holzherzen mit Gedanken beschrieben und Gegenstände, die wir mit
       ihm verbinden, auf den Sarg geklebt. Und wir haben gemeinsam auch die Urne
       bemalt.
       
       Das war am 19. Dezember und ich ging weiter alle zwei Tage zum Testen. Am
       22. war ich negativ und fragte, ob am 24. auch mein Mann und Sohn mit zum
       Testen kommen könnten wegen Weihnachten. Am 24. Dezember waren wir dann
       alle positiv.
       
       Ich bekam Gliederschmerzen, mein Mann Markus Husten, Fieber und
       Schüttelfrost. Ich habe mir wirklich Sorgen um ihn gemacht und irgendwann
       eine Tasche gepackt, weil ich dachte, er muss ins Krankenhaus.
       
       Zur gleichen Zeit ging es meinem Vater immer schlechter. Er hatte immer
       lustige Bilder per Whatsapp geschickt, aber nun kam gar nichts mehr. Auf
       der Intensivstation hat er zum Oberarzt gesagt: „Ich möchte nur noch meine
       Frau sehen.“ Und der Arzt hat eine Ausnahme gemacht und meine Mutter
       tatsächlich reingelassen. Noch so ein Geschenk. Sich nicht verabschieden zu
       können, da muss man nicht drumherumreden: Das ist scheiße. Sechs Stunden
       danach ist mein Vater gestorben. Er wurde 73 Jahre alt.
       
       Ich sage, mein Schwiegervater ist an Corona und mein Vater ist mit Corona
       verstorben. Mein Schwiegervater würde noch leben, wenn es Corona nicht
       gebe. 14 Tage später wurde in dem Heim geimpft.
       
       In einer Trauerkarte stand: „Corona hat ja auch was Gutes, jetzt habt ihr
       Zeit zu trauern“, Da haben wir gesagt: „Nee. Corona hat uns diesen Menschen
       genommen.“
       
       Die Erfahrung von mir und meinen Kollegen in dieser Zeit ist: Je höher die
       Zahlen steigen, je gravierender Corona wütet, desto mehr tauchen Trauernde
       ab. Sie sind dann im Krisenmodus. Erst wenn es wieder besser wird, so wie
       vorigen Sommer, melden sich ganz viele. Trauer schafft Abstand und Distanz.
       Ich sage immer, Trauer ist ein Geschenk. Aber viele wollen sie loswerden.
       Deswegen macht Trauer oft einsam. Und Corona auch – das ist die
       Herausforderung.
       
       Kerstin Fleischer, 44, Referentin für Hospiz- und Trauerseelsorge, Speyer 
       
       ## Nach Corona fällt auf, wer fehlt
       
       Am 23. Dezember hat sich meine Oma infiziert, im Altersheim. Es war absurd:
       Am 24. saß ich mit meinem Bruder und meinem Vater dann vor Skype, alle in
       Quarantäne, alle allein in unseren Zimmern, und wir haben Weihnachten
       gefeiert.
       
       Am Anfang zeigte meine Oma keine Symptome und es war so gut, wie es eben
       sein kann. Aber dann ging es total schnell, am 28. ist sie ins Krankenhaus
       gekommen, weil sie kurzatmig wurde. In der Nacht vom 30. auf den 31.
       Dezember ist sie gestorben.
       
       Die Beerdigung war drei oder vier Wochen später. Wir haben lange überlegt,
       ob wir uns vorher isolieren sollen, damit wir Zeit miteinander verbringen
       können. Aber keiner hat sich damit sicher gefühlt, weil wir wussten, wie
       schnell es gehen kann und wie unberechenbar das Virus einfach ist. Man ist
       in so einem komischen Angstmodus.
       
       Es durften dann nur 15 Leute in die Kirche. Und auch das war komisch, weil
       die Stühle mit viel Abstand herumstanden. Keiner umarmt sich, also
       streichelt man nur gegenseitig die Arme, aber kommt sich nicht zu nahe …
       
       Am Morgen der Beerdigung kam meine Tante ins Krankenhaus. Es hatte sich
       herausgestellt, dass sie total mit Krebs durchfressen war. Deswegen haben
       wir gar nicht so wirklich um Oma getrauert und trotzdem alle geweint. Man
       wusste schon: Es sieht nicht gut aus.
       
       Meine Tante hatte sich viel um meine Oma gekümmert, das war ihre
       Hauptaufgabe, jahrelang. Die Ärzte meinten, meine Tante muss schon
       Ewigkeiten Schmerzen gehabt haben. Nach dem Tod meiner Oma hat sich der
       Krebs bemerkbar gemacht, als wäre jetzt Platz dafür.
       
       Sie kam wenig später ins Hospiz. Ohne Corona hätte man sie besuchen können,
       man hätte diesen Abschiedsmoment gehabt. Aber so ging das nicht. Mein Vater
       telefonierte mit ihr, mein Bruder und ich nicht. Man redet sich ein, man
       hat noch Zeit, und wir beide haben das aufgeschoben. Ich hatte das Gefühl:
       Das ist das letzte Gespräch, dann legt man auf und hört die Stimme nie
       wieder.
       
       Die Beerdigung meiner Tante war ganz anders. Wir sind alle mit Maske
       hingegangen und haben uns erstmal nicht umarmt. Sie war viel jünger, es kam
       viel plötzlicher, sie war nicht mal 70 und das ist ja heute kein Alter
       mehr. Sie spielte in der Familie eine wichtige Rolle, war wie ein sicherer
       Hafen. Mein Vater hat mich in der Kirche gefragt, ob ich mit dem Stuhl ein
       bisschen näher rücken kann. Dann haben wir Händchen gehalten. Was aber
       trotzdem komisch war, weil man sich Gedanken gemacht hat, ob das sicher
       ist. Mein Vater gehört zu einer Risikogruppe.
       
       Mein Onkel verliert seine Frau und man gibt sich die Faust. Wie absurd. Wir
       Jüngeren haben uns dann einfach umarmt. Und meinen Vater habe ich auch in
       den Arm genommen, mit dem Kopf weggestreckt und der Maske noch auf dem
       Gesicht …
       
       Mein Onkel meinte dann: Kommt vorbei, es gibt Kaffee und Kuchen. Aber wir
       wollten natürlich nicht, dass es zu einer Beerdigungskette wird, aus diesem
       Bedürfnis heraus, sich nahe sein zu wollen. Ich habe gesagt: Es tut mir
       leid, aber ich traue mich gerade nicht. Ich will nicht das Gefühl haben,
       ich sei wie ein Todesengel.
       
       Weil es so normal ist, dass man seine Familie gerade nicht sieht, fällt es
       wahrscheinlich erst nach Corona wirklich auf, wer fehlt. Ich glaube, danach
       wird das für alle nochmal richtig hart. Man sitzt dann mit der Familie,
       aber die Tante ist nicht mehr da, und Oma kann man nicht mehr im Altersheim
       besuchen.
       
       Worüber ich viel nachgedacht habe, ist der Umgang mit Trauer generell. Das
       hat mich wütend gemacht. Ich habe das Gefühl, Trauer spielt bei uns keine
       Rolle, erst wenn es so weit ist. Mein Bruder und ich haben beide drei Tage
       gebraucht, bis wir unserem Onkel eine Nachricht geschrieben haben, was
       eigentlich viel zu lange ist. Wir wussten nicht, was. Ich habe irgendwann
       angefangen zu googlen, was sich total albern angefühlt hat.
       
       Oder auch dieser Mechanismus, zu arbeiten, damit man nicht mehr darüber
       nachdenkt. Das war bei meinem Vater so, und ich habe das auch gemacht,
       meine Oma und meine Tante starben kurz vor der wichtigsten Prüfung in
       meinem Studium. Ich habe bis zum Limit weiter gelernt, bis es gar nicht
       mehr ging. Und als ich die Prüfung dann hinter mir hatte, sind mir
       unkontrolliert Tränen gekommen und ich wusste gar nicht so wirklich warum.
       Ich glaube, dass es manchmal gar nicht so schlecht wäre, wenn man den
       Anspruch an sich ablegen würde, immer funktionieren zu müssen. Man fühlt
       sich so allein, man stößt gerade ständig an Grenzen, weil man noch nie mit
       einer Einsamkeit auf dieser Ebene konfrontiert gewesen ist.
       
       Ann-Franziska Mai, Studentin, 23 Jahre alt, aus Köln 
       
       ## Der Vater klagte nicht
       
       Mein Vater wohnte in Witebsk. Die Stadt war von Corona schlimm betroffen,
       am stärksten in ganz Belarus. Fast alle meine Freunde im Land waren
       infiziert. In Belarus wird wenig getestet, es gibt kaum Schutzmaßnahmen und
       Einschränkungen. Jeder muss sich um sich selbst kümmern.
       
       Ich hatte Sorgen um meine Familie dort. In dem Mehrfamilienhaus, in dem
       mein Vater lebte, waren schon drei Männer an Covid gestorben. Er hatte auch
       große Angst, das hat mir meine Schwester erzählt. Mein Vater war kein
       Mensch, der viel spricht. Er klagte nicht.
       
       Anfang Dezember dann bekam mein Vater Fieber. Die Hausärztin sagte nur, er
       solle Zuhause bleiben. Als seine Frau den Notarzt rufen wollte, kam der
       nicht – es sei schließlich nur Fieber.
       
       Über Bekannte schaffte seine Frau es dann, dass er getestet wurde. Er war
       positiv. Es ging ihm überhaupt nicht gut und er kam ins Krankenhaus. Drei
       Wochen konnte ihn dort niemand besuchen. Man konnte ihn nur per Handy
       erreichen.
       
       Er hat Sauerstoff bekommen und wurde schließlich Anfang Januar entlassen –
       in einem Zustand, in dem er eigentlich kaum gehen konnte. Da habe ich mit
       ihm telefoniert, es war das letzte Mal, dass wir gesprochen haben. Ich habe
       schon am Telefon gehört, wie schlecht er Luft bekommt. Aber mein Vater war
       immer Optimist, er war überzeugt, dass er gesund wird.
       
       Schon Dinge wie auf die Toilette zu gehen, kosteten ihn Kraft. Wieder durch
       Bekannte ist er dann noch mal in eine große Klinik gekommen. Dort sagte die
       Oberärztin nach einer Computertomografie: „Da ist keine Lunge mehr“. So
       einen schweren Fall habe sie noch nicht gesehen.
       
       Für Belarus war das ein sehr gutes Krankenhaus. Mein Vater hatte ein
       eigenes Zimmer mit Dusche und Toilette. Die Ärztin, das Pflegepersonal –
       alle waren sehr gut zu ihm. Ich freue mich, dass er am Ende gut versorgt
       wurde. „Mir geht es so gut hier, ich möchte gar nicht nach Hause“, hat er
       mal zu seiner Frau gesagt.
       
       Er war schon stabil und brauchte keinen Sauerstoff mehr, da hat er sich im
       Krankenhaus einen Infekt geholt. Seine Lunge war durch Covid so schwach und
       auch das Immunsystem, da ging alles ganz schnell. Er kam auf die
       Intensivstation, sollte wieder an die künstliche Beatmung kommen. Aber er
       hat den Ärzten gesagt: Ich will selber atmen. Die hatten alle Respekt. Ein
       Bettnachbar, 36 Jahre alt, war intubiert und ist gestorben, das hat meinen
       Vater mitgenommen. Er war ja wach und bekam alles mit.
       
       Ich stand so unter Spannung. Ich hatte Angst vor dem Handy, weil ich nicht
       wusste, was da kommt, wenn es klingelt.
       
       Als ich von meiner Schwester gehört habe, wie schlecht es ihm geht, habe
       ich sofort einen Brief geschrieben, eine Karte. Für alle Fälle habe ich sie
       abfotografiert. Er wäre 73 geworden am 1. März. Am 10. Februar ist er
       gestorben.
       
       Ohne Corona hätte ich meinen Vater im Krankenhaus besuchen dürfen, da hätte
       ich mich sicher auf den Weg gemacht. Aber jetzt? Selbst wenn ich geflogen
       wäre, hätte ich nach der Einreise in Quarantäne gehen müssen. Und dann noch
       einmal nach der Rückreise nach Deutschland. Ich kann mir das finanziell
       nicht leisten: zwei Wochen Quarantäne.
       
       Eigentlich wollte ich voriges Jahr nach Belarus und hatte schon
       Flugtickets. Aber dann wurden die Grenzen dicht gemacht und alle Flüge
       gecancelt.
       
       In den letzten Tagen, bevor mein Vater starb, bekam seine Frau eine
       Sondererlaubnis, sie durfte vormittags und nachmittags für eine Minute zu
       ihm gehen. In Schutzkleidung, auf eigene Verantwortung. „Schau mal, wieviel
       Kraft ich habe“, hat er ihr anfangs noch gesagt.
       
       Als er die Maske nicht mehr halten konnte, wurde er doch intubiert. „Helfen
       Sie mir!“, das war das letzte, was er gesagt hat. Er hatte wohl Panik
       bekommen, als sie ihm die Sauerstoffmaske abnahmen, um ihn zu intubieren.
       
       Um 2 Uhr nachts ist er gestorben. Seine Frau hat es um 7 Uhr morgens
       erfahren. Mich hat dann meine Schwester angerufen. Ich habe mich
       krankgemeldet.
       
       In Belarus wird man am nächsten Tag beerdigt. Es gibt dort auch kaum
       Beschränkungen für Trauerfeiern. Papa wurde in einer orthodoxen Kirche
       aufgebahrt und dort wurden ganze Nacht Gebete gesprochen und viele Menschen
       kamen, um sich zu verabschieden. Nur manche blieben aus Angst weg.
       
       Ich konnte nicht Abschied nehmen. Meine Schwester habe ich gebeten, dass
       sie für mich ein paar Fotos macht. Sie sagte mir, zu welcher Zeit sie in
       der Kirche sein würde, so dass ich hier auch zur selben Zeit eine Kirche
       ging.
       
       Es war eine katholische Kirche, ich habe Kerzen aufgestellt und gebetet. In
       der orthodoxen Kirche gibt es ein besonderes Gebet für den verstorbenen
       Vater, das wird vierzig Tage jeden Tag gebetet. Das habe ich gemacht. Ich
       habe zu Hause Fotos von uns auf den Tisch gestellt, Kerzen, Blumen.
       
       Den letzten Brief, den ich meinem Vater geschrieben hatte, hat meine
       Schwester ihm am offenen Sarg vorgelesen und mit ins Grab gelegt. Das war
       für mich ein gutes Gefühl, dass ihn die Worte noch erreicht haben.
       
       Jeanne Adamowitsch, Kunsttherapeutin, 50 Jahre alt, aus Mönchengladbach 
       
       ## Da war Trauer, aber vor allem Wut
       
       Ich kann nur mit angezogener Handbremse erzählen, das muss ich gleich
       sagen. Es fällt mir noch sehr schwer. Ich habe meinen Vater verloren, er
       war erst Mitte 60.
       
       Ende letzten Jahres ist es passiert, der zweite Lockdown war gerade
       losgegangen. Als mich mein Bruder anrief, an einem Donnerstag, wusste ich
       komischerweise sofort: Es ist etwas mit dem Vati. Mein Bruder sagte, dass
       er in der Nacht verstorben sei. Das war erst einmal die Information, die
       ich aufnehmen musste.
       
       Man hat ihn zuhause gefunden, er muss schon Stunden tot gewesen sein. Sein
       Zustand war sehr schlimm. Und dann der Zusammenhang mit Corona. Seine
       Lebenspartnerin war positiv getestet, ihr ging es sehr schlecht. Sie hatte
       hohes Fieber, war ins Bett gegangen und hatte ihn deshalb erst in der Nacht
       gefunden. Auch mein Vater hatte schon starke Symptome. Der Notarzt ging
       aufgrund der Schilderung davon aus, dass er Corona hatte. Also haben sie
       ihn nicht einmal angefasst, sondern er wurde in eine Tüte gesteckt und
       mitgenommen. Ich bin direkt hingefahren, aber auch wir durften ihn nicht
       noch einmal sehen. Diese erste Woche, das Bewusstsein, dass er irgendwo in
       einer Tüte liegt …
       
       Wir hatten das Thema Corona immer wieder. Mein Vater gehörte zur
       Risikogruppe, hatte Vorerkrankungen. Ich habe ihn angefleht, dass er
       aufpassen soll.
       
       Man muss dazu sagen, dass er aus einer Gegend kommt, in der Corona lange
       Zeit nicht angekommen ist, viele Leute haben sich nicht an die Regeln
       gehalten, das Ganze abgetan. Mein Vater hatte zwar Respekt vor der Sache,
       aber er war auch immer schon in Richtung Verschwörungstheorien unterwegs
       gewesen, hat allen möglichen Sachen aus dem Internet geglaubt. Es gibt
       Verwandte, die bis heute leugnen, dass mein Vater mit Corona gestorben ist.
       
       Ich habe den Bestatter dann angefleht, dass ich wenigstens den Sarg noch
       einmal sehen darf, bevor er verbrannt wird. Immer wieder habe ich ihn
       angerufen, schließlich konnten mein Bruder und ich tatsächlich in einer
       Trauerhalle am Sarg zusammenkommen und positive Erinnerungen an unseren
       Vater teilen. Bis zur Beerdigung zogen sich dann Monate hin und bis zuletzt
       war nicht klar, wann es möglich sein wird, uns in einem Rahmen zu
       verabschieden, der für mich und meine Geschwister angemessen ist. Diese
       offene Stelle, der fehlende Abschied, das hat mir Schmerzen bereitet.
       
       Da war Trauer, aber vor allem Wut. Ich bin mehrmals in den Heimatort meines
       Vaters gefahren. Ich habe im Auto nur geschrien. Ich habe mit ihm
       geschimpft. Ich war so wütend auf ihn, weil er nicht aufgepasst hat, weil
       er sich doch mit Menschen getroffen hat, weil er es am Ende nicht ernst
       genommen hat. Ich denke, er wusste, dass er Corona hatte. Aber er wollte es
       einfach nicht wahrhaben, weil dann hätten die anderen ja doch recht gehabt.
       
       Ich war so wütend und das war am Anfang gepaart mit ganz schlimmer Angst.
       Mein Bruder und ich hatten den Ort gereinigt, an dem er mehrere Stunden
       gelegen hatte, das war sehr traumatisch. „Warum hast du das denn gemacht“,
       haben viele Leute gefragt. Aber wer hätte es denn machen sollen? Es traute
       sich doch keiner mehr, das Haus zu betreten. Und auch ich hatte Angst, ob
       ich mich angesteckt haben könnte. Furchtbare Angst. Mit dem Bild vor Augen,
       was passieren kann.
       
       Dann folgte Weihnachten und das neue Jahr und ich hatte Probleme, das
       überhaupt zu begreifen. Ich hatte immer wieder Momente, wo ich das Telefon
       nehmen wollte, ihm was erzählen, Weihnachten planen. Die Momente gibt es
       immer noch. Und dann muss ich mir sagen, halt, er ist jetzt nicht mehr da.
       Er ist nicht mehr da.
       
       Trauer im Lockdown war superschwierig. Mit kleinen Kindern zuhause. Man hat
       keine Möglichkeit, sich mal zurückzuziehen. Mal richtig zu weinen, es
       rauszulassen. Man konnte nirgendwohin, es konnte niemand kommen. Ich hatte
       meine Kinder da und ich wollte ihnen auch keine Angst machen. Und dann
       erzählst du Leuten, dass dein Vater gestorben ist und sofort kommt die
       Frage: An Corona? Irgendwie verständlich, aber das war wie so eine
       Attraktion. Was? Wirklich Corona? Da ging es mehr um Neugier, als darum,
       wie es mir damit geht. Das hat mich wütend gemacht.
       
       Eigentlich bin ich gar nicht diejenige, die Trauer oder Schmerz teilt. Aber
       hier habe ich mich irgendwann entschieden, genau das zu tun. Ich habe
       Freunde angerufen und gesagt, hey, mein Vati ist gestorben. Ich habe auch
       über die schlimmen Details geredet, die mich so belasteten. Am Anfang hatte
       ich deswegen ein schlechtes Gewissen. Aber genau das hat mir gut getan. Und
       auch meine Freunde haben gesagt, ja lass das raus, friss das nicht in dich
       rein. Ich habe die Trauer mit vielen geteilt, das hätte ich sonst
       vielleicht nicht gemacht. Aber in diesem Lockdown, in dieser Isolation: es
       hätte ja nicht mal jemand gemerkt, was mir passiert ist.
       
       Die Frage, ob das mit meinem Vater passieren musste, ist eine, die ich
       beginne auszublenden. Es wurde an vielen Stellen zu spät reagiert, es gab
       viel Verantwortungslosigkeit. Und es gibt sie immer noch. Aber ich kann
       mich damit nicht auseinandersetzen, ich will die Wut darauf nicht
       weitertragen. Ich meide diese Gedanken, aber weg sind sie nicht. Das ist
       nur eine ganz dünne Schicht.
       
       Christiane Zimmer (Name geändert), Mitte 30
       
       18 Apr 2021
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Luise Strothmann
 (DIR) Marius Ochs
 (DIR) Manuela Heim
       
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       Am Dienstag wird Katharina Schwarzbauer im Bayerischen Wald 101 Jahre alt.
       Ihre Zwillingsschwester starb Ende Januar an Covid-19.
       
 (DIR) Lockdown, K-Frage und Hertha BSC: Zurück in die Zukunft
       
       Der Berliner Mietendeckel ist Geschichte, das Gerangel um die K-Frage
       erschüttert. Und dann muss Hertha BSC auch noch in Quarantäne.
       
 (DIR) Gedenken an Coronatote: „Coronatote sind unsichtbar“
       
       Gedenken, aber wie? Der Autor Christian Y. Schmidt fordert von politischen
       Entscheider:innen, sich bei den Angehörigen zu entschuldigen.
       
 (DIR) Aktuelle Nachrichten in der Coronakrise: Gedenken, Sucht und Armut
       
       Die Gefahr von Obdachlosigkeit für Kinder steigt in der Pandemie. In Berlin
       gedenken Menschen der Verstorbenen. Weltweit steigen die Infektionszahlen
       auf Rekordniveau.
       
 (DIR) Gedenken an Coronatote in Italien: „Ein Symbol des Schmerzes“
       
       Ein Jahr, nachdem die Bilder von Leichentransporten aus Bergamo um die Welt
       gingen, erinnert Italiens Regierungschef Mario Draghi an die Toten.
       
 (DIR) Alternative Bestattungskultur: Der Tod wird ausgeklammert
       
       Abschied ist ein Prozess, der Akt des Beisetzens ist nur ein Teil, sagt
       Eric Wrede. Er ist Bestatter und hat ein Buch über das Sterben geschrieben.