# taz.de -- Grünen-Politikerin über Frauengesundheit: „Als hätten Frauen keine Nieren“
       
       > Das Gesundheitssystem müsse geschlechtergerecht werden, sagt Kirsten
       > Kappert-Gonther. Die Medizinerin und Abgeordnete will Frauengesundheit
       > fördern.
       
 (IMG) Bild: Kirsten Kappert-Gonther: Fachärztin für Psychiatrie und seit 2017 für die Grünen im Bundestag
       
       taz: Frau Kappert-Gonther, zeigt sich an [1][Covid-19], dass Geschlecht
       eine Rolle in Fragen von Krankheit und Gesundheit spielt? 
       
       Kirsten Kappert-Gonther: Männer haben in der Regel einen schwereren Verlauf
       von Covid-19 als Frauen, aber mehr Frauen erkranken. Zwar scheinen Alter
       und männliches Geschlecht oder Sozialisierung also ein Risikofaktor zu sein
       – aber weil Frauen in den risikoreichen Berufen wie Pflege und Einzelhandel
       arbeiten, sind sie stärker betroffen.
       
       Die Hirnvenenthrombosen, [2][die nach der Impfung mit AstraZeneca
       auftraten], betreffen zudem vor allem Frauen zwischen 30 und 50 Jahren. 
       
       Ja, und viele junge Frauen lassen sich nicht nur zum Eigenschutz, sondern
       auch aus Solidarität impfen. Nicht jede sehr seltene Nebenwirkung kann
       durch Studien präzise abgebildet werden. Aber nur knapp 17 Prozent der
       registrierten klinischen Studien zu Prävention und Therapie von Covid-19
       gehen auf Geschlecht als Kriterium überhaupt ein. Es wäre ganz
       offensichtlich dringend nötig, das umfassend zu tun und zu fragen: Wen
       betrifft was?
       
       Um geschlechtsspezifisch reagieren zu können? 
       
       Inzwischen wurde die Impfempfehlung zu Recht geändert. Da die Thrombosen
       nach der Impfung mit AstraZeneca zwar sehr selten, aber dann bei Personen
       unter 60 und hier vor allem bei Frauen auftreten, wird der Impfstoff nun
       für die Über-60-Jährigen empfohlen. Das zeigt, wie wichtig es ist, solche
       Daten genau zu erfassen.
       
       Jenseits von Covid-19 aber werden Frauen in der zweiten Zyklushälfte sogar
       gelegentlich aus klinischen Studien herausgenommen – weil die
       Hormonschwankungen innerhalb des Zyklus die Ergebnisse verfälschen. Nun
       nehmen Frauen aber nun mal auch während ihrer zweiten Zyklushälfte
       Medikamente ein.
       
       Tausende von Arzneimitteln wurden vor der Zulassung außerdem gar nicht an
       Frauen getestet. Sie werden weiter benutzt, und es gibt für sie keine
       geschlechtsspezifische Verschreibungsempfehlung. Da sagt uns schon der
       gesunde Menschenverstand, dass diese einseitige Forschung Frauen schaden
       kann.
       
       Sie fordern mit der grünen Fraktion im Bundestag nun geschlechtersensible
       Qualitätsstandards im Gesundheitswesen. Was heißt das? 
       
       Geschlechtersensibilität ist die Grundlage für eine gute
       Gesundheitsforschung-, -lehre und -versorgung. All das geht derzeit in der
       Regel von einem männlichen Normkörper aus. Andere Körper werden als
       Abweichung betrachtet. In den Anatomieatlanten sind überproportional viele
       Männer abgebildet – und Frauen fast nur da, wo es um Uterus und Brüste
       geht, als hätten sie keine Leber oder Nieren.
       
       Welche Auswirkungen hat das? 
       
       Bei der Entwicklung von künstlichen Knien oder Hüften heißt das zum
       Beispiel, dass Frauen Gefahr laufen, dass ihnen die Prothesen nicht gut
       passen. Wenn Frauen einen Herzinfarkt haben, sterben sie daran häufiger als
       Männer – weil sie andere Symptome haben und die Infarkte deshalb entweder
       zu spät oder gar nicht diagnostiziert werden. Dann heißt es, das seien
       untypische Symptome, aber das stimmt nicht. Das sind typische Symptome für
       Frauen.
       
       Sie schreiben, dass Frauen im reproduktiven Alter besonders betroffen
       seien. Inwiefern? 
       
       In den Versorgungsbereichen, die speziell Frauen angehen, gibt es eklatante
       Lücken. Die Kassen übernehmen zum Beispiel Kosten für
       verschreibungspflichtige Verhütungsmittel nur für Versicherte bis zum
       vollendeten 22. Lebensjahr – und das, obwohl Frauen mit geringem Einkommen
       aus Kostengründen unregelmäßiger oder gar nicht verhüten.
       
       Wir brauchen zudem einen Kulturwandel in der Geburtshilfe, der Mutter und
       Kind in den Mittelpunkt stellt. Wir haben viel zu wenige Hebammen. Und noch
       immer werden Schwangerschaftsabbrüche kriminalisiert, was dazu führt, dass
       es an Ärztinnen und Ärzten fehlt und der Zugang zu medizinisch sicheren
       Abbrüchen nicht mehr gesichert ist. Das ist nicht hinnehmbar.
       
       Woran liegt es, dass das Gesundheitssystem so einseitig organisiert ist? 
       
       Die wesentlichen Entscheidungen werden auch in diesem Bereich noch immer
       überwiegend von Männern getroffen: in den Krankenkassen, in den Vorständen
       der kassenärztlichen Vereinigungen, in den Ärztekammern. Obwohl zum
       Beispiel in den Kassen überwiegend Frauen arbeiten, bildet sich das in den
       Vorständen nicht ab. Strukturell wird die Kompetenz von Frauen nicht
       annähernd ausgeschöpft – uns fehlt die vollständige Wahrnehmung.
       
       Der Effekt ist, dass es vor allem in den für Frauen spezifisch relevanten
       Bereichen wie der Geburtshilfe blinde Flecken im System gibt. Auch die
       Pflege, in der überwiegend Frauen arbeiten, wurde lange nicht gehört.
       
       Das hat sich mit der Pandemie zwar geändert, die Bedingungen aber wurden
       seitdem kaum verbessert. 
       
       Es wird zumindest endlich anerkannt, welch essenzieller Bereich der
       Versorgung die Pflege ist. Jetzt müssen konkrete Verbesserungen geschaffen
       werden. Wir brauchen genügend Pflegende pro Patient und Patientin, wir
       brauchen einen allgemein gültigen Tarifvertrag, und wir müssen die
       professionelle Selbstverwaltung der Pflegenden verbessern.
       
       Was heißt das? 
       
       Im zentralen Gremium der Selbstverwaltung im Gesundheitswesen, das die
       relevanten Entscheidungen trifft – dem Gemeinsamen Bundesausschuss –, ist
       die Pflege nicht mit Stimmrecht vertreten. Das darf so nicht bleiben.
       
       Wie wollen Sie das ändern? 
       
       Über Quoten und Parität. Der Blickwinkel von Frauen muss in die
       Entscheidungen eingespeist werden.
       
       Sie werden auf Widerstand stoßen. Wie wollen Sie die männlichen
       Entscheidungsträger mitnehmen? 
       
       Dass es dieses eklatante Missverhältnis gibt zwischen Frauen, die in den
       Berufen arbeiten, und Männern, die über sie entscheiden, hat mittlerweile
       viele zum Nachdenken gebracht. Bei einer Anhörung im Gesundheitsausschuss
       haben nahezu alle Teilnehmenden anerkannt, dass es keinen Sinn hat,
       Erfahrungen, Blickwinkel und Kompetenzen von Frauen systematisch
       auszugrenzen.
       
       Die männlichen Entscheider wollen die Quote? 
       
       An der Frage, ob es freiwillig passiert, dass mehr Frauen in die Gremien
       kommen, scheiden sich natürlich die Geister. Aber da brauchen wir nur auf
       die Erfahrungswerte zu schauen: Freiwilligkeit reicht nicht.
       
       Eine Quote wird schwer durchsetzbar sein, aber zumindest nichts kosten.
       Andere Bereiche in diesem Antrag schon. Wie soll das alles finanziert
       werden? 
       
       Kosten entstehen auch bei Fehlversorgung. Geschlecht als Kategorie in
       Studien zu erheben und auszuwerten, kostet nicht extra. Verbesserungen in
       der Geburtshilfe und Pflege natürlich schon – aber das sind elementare
       Notwendigkeiten. Ohnehin wäre es absurd zu sagen, wir wollen dabei bleiben,
       dass Frauen schlechter gesundheitlich versorgt werden.
       
       Sie bringen den Antrag jetzt, also gegen Ende der Legislatur, ein. Wer
       sollte den in der nächsten mittragen? Die Union in einer schwarz-grünen
       Regierung nicht, oder? 
       
       Alle demokratischen Fraktionen erkennen, dass sich
       Geschlechtergerechtigkeit im Gesundheitswesen auf Dauer durchsetzen muss.
       Frauen schauen bei ihrer Wahlentscheidung sehr genau auf diese Fragen.
       
       7 Apr 2021
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Schwerpunkt-Coronavirus/!t5660746
 (DIR) [2] /Impfstoff-von-AstraZeneca/!5758727
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Patricia Hecht
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Kirsten Kappert-Gonther
 (DIR) Gesundheitspolitik
 (DIR) Geschlechtergerechtigkeit
 (DIR) Bündnis 90/Die Grünen
 (DIR) Schwerpunkt Coronavirus
 (DIR) Schwerpunkt Gender und Sexualitäten
 (DIR) Geflüchtete Frauen
 (DIR) Schwerpunkt Utopie nach Corona
 (DIR) Gesundheitspolitik
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Covid-19-Impfung und Menstruation: Wenn die Regel später kommt
       
       Falschinformationen erschweren die Debatte über Zyklusstörungen nach der
       Covid-Impfung. Dabei muss über erste Studiendaten gesprochen werden.
       
 (DIR) Ärztin über geschlechtersensible Medizin: „Vernachlässigte Unterschiede“
       
       Medizinische Behandlungen und Studien orientieren sich oft am männlichen
       Standard. Das kann für Frauen zum Problem werden.
       
 (DIR) Rassismus im Gesundheitssystem: Schutzlos im geschützten Raum
       
       Schlechte Beratung und Vorurteile – mit fehlenden Daten lässt sich über
       Rassismus in Arzträumen fast nur anhand von Erfahrungsberichten
       diskutieren.
       
 (DIR) Expertin zu Frauen in der Coronakrise: „An die Bruchstellen ran – jetzt“
       
       Frauen treffe weltweit eine „Schattenpandemie“, sagt Karin Nordmeyer von UN
       Women Deutschland. Sie seien in der Coronakrise dramatisch benachteiligt.
       
 (DIR) Gleichberechtigung im Gesundheitswesen: Ein ungesunder Herrenclub
       
       Verschwindend wenige Frauen haben leitende Positionen im Gesundheitswesen.
       Schwarz-Rot lehnt gesetzliche Vorgaben zur Frauenförderung ab.