# taz.de -- Kultur und Verdrängung: Alles anders am Alex
       
       > Viele Kreative haben sich damit abgefunden, aus Berlins Mitte an den
       > Stadtrand verdrängt zu werden. Nicht so im Haus der Statistik am Alex.
       
 (IMG) Bild: Die Kopfseite des Areals Haus der Statistik
       
       Der Alexanderplatz verändert sich. Dort, wo noch Jahrzehnte nach der Wende
       mitten in Berlin gähnende Leere herrschte und man die DDR beinahe noch
       roch, werden in den nächsten Jahren bis zu sechs Wolkenkratzer entstehen.
       Der erste wird vielleicht schon 2023 fertig. Er entsteht direkt vor den
       Toren der Shopping-Mall Alexa, wird mit 135 Metern das höchste Hochhaus der
       Stadt und soll mit Luxuswohnungen bestückt werden.
       
       Wer sich an einem schönen Nachmittag die Zeit nimmt, sich eine Weile an den
       Brunnen der Völkerfreundschaft mitten auf dem Alex zu setzen, der wird nach
       einer halben Stunde das Gefühl entwickeln, dass es eigentlich wenige Orte
       in Berlin gibt, wo Reichtum und Elend so brutal aufeinanderprallen. Er
       wird, wenn er das öfter macht, außerdem den Eindruck gewinnen, als hätte
       die Stadt dem bisher noch nicht besonders viel entgegengesetzt. Eine 2017
       eigens eingerichtete Polizeiwache mitten auf dem Alex packt das eigentliche
       Problem dieses Platzes jedenfalls eher nicht an der Wurzel.
       
       Doch da gibt es noch das Haus der Statistik am nordöstlichen Rand des
       Alexanderplatzes. Bis 2015 sah es so aus, als würde die Bundesrepublik
       Deutschland den verfallenen Komplex aus alten Plattenbauten einfach an den
       Höchstbietenden verkaufen. Es galt als abgemacht, dass er abgerissen wird.
       Als damals plötzlich eine Gruppe von Künstler*innen frech behauptete,
       dieses Haus sei ihr Haus, hätte niemand gedacht, dass sie eines Tages so
       weit kommen würden, wie sie mittlerweile gekommen sind.
       
       In der Zwischenzeit sind vor allem am östlichen Berliner Stadtrand
       zahlreiche Orte für Künstler*innen und Kreative entstanden, die weniger
       Glück – oder weniger Unverfrorenheit – besaßen. Die Menschen, die diese
       Orte beleben, haben sich damit abgefunden – auch wenn sie nur selten auch
       in Hellersdorf oder in Oberschöneweide leben können oder wollen. Denn diese
       Areale sind nicht für das gedacht, was die traditionelle Berliner Mischung
       in den Kiezen ausmacht: nämlich das Leben und das Arbeiten an einem Ort.
       
       Im Gebäudekomplex des Hauses der Statistik werden dagegen nach jahrelangem
       Leerstand seit 2019 viele Flächen von Initiativen genutzt, die sich der
       sogenannten Soziokultur widmen, also mit künstlerischen Mitteln
       gesellschaftliche Fragen stellen und umgekehrt.
       
       ## Die richtigen Fragen
       
       Da gibt es Initiativen, die für syrische Flüchtlingslager sammeln, die
       Obdachlosen helfen, aus Müll Möbel bauen oder aus geretteten Lebensmitteln
       die Nachbarschaft bekochen. Sie alle werden, wenn auch auf unterschiedliche
       Art und Weise, von einer einzigen Frage umgetrieben: Wie soll das
       eigentlich weitergehen mit unserer Welt?
       
       Darum haben sie in einer Gegend der Metropole einen wunden Punkt getroffen,
       wo wir Berliner*innen uns nur noch selten als eine Stadtgesellschaft,
       als Gemeinschaft begreifen. Sie stellen auch die richtigen Fragen zu einer
       Zeit, wo das Onlineshopping auf dem Vormarsch ist, wo Shopping-Malls immer
       tiefer in die Sinnkrise rutschen, wo der Konsum generell als raumfüllendes
       Konzept für unsere Innenstädte zunehmend ausgedient zu haben scheint. Für
       viele dieser Künstler*innen und Kreativen steht jetzt schon fest, dass
       sie am Alex nicht nur bleiben, sondern auch leben wollen.
       
       Der Berliner Künstler und Miterfinder dieses besonderen Ortes Harry Sachs
       berichtet, dass die Shopping-Mall Alexa kürzlich auf der Suche nach neuen
       Mieter*innen beim Haus der Statistik angeklopft habe. Bei der Erfindung
       der Shopping-Malls in den USA der 1950er durch den Exil-Wiener Victor
       Gruen waren diese wie ein kleiner Kiez konzipiert, also nicht nur mit
       Shops, sondern auch mit Bildungseinrichtungen, Theater und anderen
       kulturellen Angeboten gefüllt. Gruen war enttäuscht, als die Malls dann
       eine andere Richtung nahmen. Vielleicht würde es ihn, wenn er heute noch
       lebte, freuen, wie sie derzeit um ihre Daseinsberechtigung kämpfen müssen.
       
       Der Stadtteil Berlin-Mitte war am Alexanderplatz nie ein Epizentrum der
       Subkultur, wenige Gehminuten entfernt hingegen aber schon. Zumindest in den
       1990er Jahren gab es eigentlich keine Straße zwischen Alex und Hackeschem
       Markt, in der es keinen obskuren Club gab, der entweder nur montags
       geöffnet hatte oder in den man nur hineinkam, wenn man sich durch das
       Tragen eines Strohhutes dafür qualifizierte.
       
       Diese Art von Kultur, das Selbstgemachte, das Improvisierte, das dennoch
       den Finger in die Wunde legt: Es gehört zu jeder interessanten Stadt, bevor
       die Reichen kommen und die Kulturschaffenden aus ihren zugigen Fabriketagen
       und selbst sanierten Altbauwohnungen verdrängen. Es ist so heute fast
       restlos aus dieser Gegend Berlins verschwunden.
       
       Die Hauptstadt war viele Jahre lang schlicht zu arm, um ihre
       Künstler*innen und Kreativen in der Mitte zu halten. Der Senat verkaufte
       aus purer Geldnot die meisten Liegenschaften in guter Lage, wo er ihnen
       politische Mieten hätte ermöglichen können. Stattdessen beteiligte er sich
       lieber am Wiederaufbau des Stadtschlosses, das jetzt Humboldt Forum heißt –
       und in welchem Maße dort die Stadtgesellschaft in die Entwicklung der
       Fragestellungen einbezogen werden wird, wird man noch sehen.
       
       Erst jetzt, da die Stadt reicher wird, versucht sie zu retten, was zu
       retten ist. Dank Hauptstadtfinanzierungsvertrag kam sie 2017 eher
       unverhofft mit dem Haus der Statistik und dem Dragonerareal in den Besitz
       von zwei Komplexen, die sie nun auf Augenhöhe mit Interessierten jenseits
       von Immobilienwahnsinn und Konsumterror entwickeln kann. Hinzu kommt die
       Alte Münze, wo ebenfalls Künstler*innen werden einziehen können, die
       sich die Mieten in der Innenstadt sonst nicht mehr leisten könnten.
       
       Auf diese drei Großprojekte sollte die Welt in Zukunft schauen, wenn sie
       wissen will, ob man Städte auch anders entwickeln kann, als das in der
       Vergangenheit meist der Fall war.
       
       13 Feb 2021
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Susanne Messmer
       
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