# taz.de -- Die Wahrheit: Alle geben ihr Impf dazu
       
       > Deutschland im Senfchaos. Betroffene, Hintergründe, Strategien. Was läuft
       > falsch im Senfland? Wird bis zum Beginn der Grillsaison alles gut?
       
 (IMG) Bild: Drei Senfstoffe: Pfizer, Moderna und AstraZeneca
       
       Wie oft Sieglinde K. (84) schon die 117116 gewählt hat, weiß sie selbst
       nicht. Seit Tagen versucht es die rüstige Seniorin aus
       Wattenscheid-Höntrop, doch bei der nationalen Senfhotline ist andauernd
       besetzt. Auf einen Senftermin muss die ehemalige Finanzsachbearbeiterin
       wohl noch lange warten.
       
       Ein typisches Bild dieser Tage in Deutschland. Schon seit Jahresbeginn hält
       eine scharf geführte Senfdebatte das Land im Atem – denn ausgerechnet
       mitten in der Coronapandemie herrscht nun auch noch eine akute
       Senfstoffknappheit. Das Wort vom „Senfchaos“ macht die Runde, und viele
       fragen sich, warum die Senfquoten in Ländern wie Israel, Großbritannien,
       den USA oder auch Dänemark so viel höher liegen als bei uns.
       
       Wer für den bislang schleppenden Senfverlauf in Deutschland verantwortlich
       ist, diese Frage konnte auch der eilig anberaumte Senfgipfel vergangene
       Woche nicht zufriedenstellend klären. Es habe zwar konstruktive Gespräche
       mit der Lebensmittelindustrie gegeben, aber letztlich blieben die
       Lieferengpässe im ersten Quartal bestehen. Ernährungsminister Jens Spahn
       bleibt aber zuversichtlich, allen Bundesbürgerinnen und -bürgern bis zum
       Ende der Grillsaison 2021 ein Senfangebot machen zu können.
       
       Oppositionspolitiker zeigten sich davon wenig überzeugt. Von einem
       „Senfplacebo“ sprach Dietmar Bartsch von der Linkspartei, von einem
       „Senfdebakel“ die AfD, und auch FDP-Chefkoch Christian Lindner musste mal
       wieder seinen Impf dazugeben: „Der Senfstart wurde völlig verstolpert. Wir
       erwarten nun die Erstellung eines detaillierten Nationalen Senfplans.“
       Lediglich der Deutsche Städte- und Gewürzebund begrüßte die Ergebnisse.
       
       ## Hochkomplexe Substanz
       
       Derweil wird die Forderung nach neuen Abfüllanlagen immer lauter.
       Kurzfristig würde das wenig bringen, weiß Günther Kühne, Professor für
       Ernährungstechnik: „Die Senfstoff-Produktion lässt sich nicht einfach so
       hochfahren wie die von beispielsweise Autos oder Servietten. Normalerweise
       dauert es zehn Jahre, einen neuen Senf zu mixen und zu perfektionieren.“
       Immerhin handele es sich um ein hochkomplexe Substanz und im Vordergrund
       stehe die gleichbleibende Qualität aller Portionsbeutel.
       
       „Man kann jetzt nicht einfach Ketchup-Abfüllstätten nehmen und statt
       Tomaten Senfsaaten verwenden“, so Kühne. Gleichwohl sollte in Erwägung
       gezogen werden, ob man große Lebensmittelkonzerne wie Unilever und Nestlé
       zwingen könne, mittelfristig in die Senfproduktion einzusteigen – oder ihre
       Senfrezepte offenzulegen.
       
       Gegen derartige staatliche Eingriffe regt sich aber auch Widerstand: Auf
       diese Weise würden die Lebensmittelkonzerne Innovationsanreize verlieren.
       Und so lange noch nicht geklärt sei, ob die neuen Senfsorten auch mit
       britischen, südafrikanischen und brasilianischen Snack-Varianten
       harmonieren, müsse weitergeforscht werden.
       
       Frust herrscht währenddessen im RuhrCongress in Bochum-Grumme. Wie so viele
       der eilig in leer stehenden Messehallen und Konzertsälen eingerichteten
       Senfzentren ist auch dieses inzwischen in Betrieb, aber bei Weitem nicht
       ausgelastet. „Alles ist vorbereitet. Zigtausende sterile Pommesschalen
       liegen bereit“, sagt ein Mitarbeiter, der seinen Namen nicht in der Zeitung
       lesen möchte. „Wir könnten hier täglich 800 Dosen versenfen, aber er ist
       nicht ausreichend vorhanden.“ Dennoch sind alle Senftermine bereits bis
       Mitte März vergeben. Mehr ist nicht drin.
       
       ## Logistische Probleme
       
       Apropos drin: Wie neuere Untersuchungen ergaben, schaffe es geübtes
       gastronomisches Personal, aus einer 475-ml-Quetsch-Gewürzeflasche 30
       Portionen Senf statt der vom Hersteller vorgesehenen 25 zu pressen –
       braucht dafür aber spezielle Verschlusskappen, die langsam knapp werden.
       Weitere logistische Probleme bereitet, dass der Senf bis kurz vorm
       Servieren auf minus 70 Grad gekühlt sein muss. Und nach drei Wochen ist
       eine Zweitsenfung nötig – Überlegungen, diese Frist zu verlängern, hat die
       Ständige Senfkommission (Stenfko) eine Absage erteilt.
       
       Angefeuert von derartigen Debatten könnte nun auch die Senfskepsis in der
       Bevölkerung steigen. Ganz generell sei in den vergangenen Jahren eine
       gewisse Senfmüdigkeit eingekehrt, vor allem bei Anhängerinnen und Anhängern
       alternativer Ernährung. Streit ist auch um die Senfreihenfolge entstanden:
       Alte Menschen, gastronomisches Personal und Thüringer stehen als
       Senfberechtigte ganz oben, andere sehen sich benachteiligt.
       Ernährungsminister Spahn zeigte sich hier zuletzt offen für Nachbesserungen
       und hat erst am Montag die Senfverordnung angepasst.
       
       Doch solange der Senf knapp bleibt, bleibt die Lage angespannt. Immerhin
       soll man bald auch zu Hause einen Rachen- oder Nasenmostrich machen können.
       Sieglinde K. nützt das wenig. Sie wählt weiter die 117116. Bis auch sie
       endlich ihr Senfangebot erhalten hat.
       
       10 Feb 2021
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Michael Brake
       
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