# taz.de -- Reality-TV in Brasilien: Verfolgungsjagd und Schießereien
       
       > In Brasilien sind Sendungen populär, die brutale Polizeieinsätze zeigen.
       > Ein Ausdruck der Stimmung unter Präsident Jair Bolsonaro.
       
 (IMG) Bild: Die Militärpolizei trainiert bei simuliertem Bankraub, am 15. Dezember im Bundesstaat São Paulo
       
       Ein schwarzes Auto steht an einer Ampel, als sich zwei Personen nähern.
       Kurze Zeit später zieht einer der beiden eine Pistole, feuert zweimal in
       Richtung eines Mannes, der mit gezogener Waffe auf das Auto zu rennt. Die
       Bilder des gescheiterten Überfalls in São Paulo wurden von einer
       Überwachungskamera aufgezeichnet und am 6. Januar [1][von der Sendung
       „Cidade Alerta“ (Stadt in Alarm) ausgestrahlt].
       
       Ein Moderator schildert in dem mit dramatischer Musik unterlegten Clip den
       Kontext: Die beiden Kriminellen seien von einem Zivilpolizisten überrascht
       worden, der zufällig vor Ort war. Einer von ihnen starb bei dem
       Schusswechsel, was der Moderator mit einem zynischen Lachen quittiert.
       
       Jeden Tag laufen auf mehreren brasilianischen Fernsehsendern solche
       Programme. Die sogenannten „Blut-Tropf-Sendungen“ gehören zu den
       erfolgreichsten TV-Shows in Brasilien und die Moderatoren sind bekannt wie
       Popstars. Die Bilder sind fast immer die gleichen: Exklusive Aufnahmen von
       brutalen Kriminalfällen, trauernde Angehörige, in Polizeiwachen vorgeführte
       Verhaftete. Oft sind die „Journalist*innen“ live bei Verfolgungsjagden oder
       Schießereien dabei.
       
       Laut Augusto Jobim, Professor für Kriminalwissenschaften an der Päpstlichen
       Katholischen Universität in Porto Alegre, sind die Programme sowohl Reflex
       einer militarisierten Gesellschaft als auch Ausdruck von christlichem
       Fundamentalismus. „Die Sendungen inszenieren einen Kampf von Gut gegen
       Böse. Den Polizisten wird eine heilige Mission zugeschrieben und die Gewalt
       bekommt einen reinigenden Charakter.“
       
       ## Zivilisationsbruch zur Primetime
       
       Zusammen mit einer Kollegin hat Jobim Hunderte Sendungen analysiert:
       Aufrufe zu Gewalt, Missachtung der Unschuldsvermutung, schwere Verstöße
       gegen Persönlichkeitsrechte – die Liste der Verbrechen ist lang. Der
       landesweit bekannte Moderator [2][Sikera Júnior hat gar ein eigenes Lied]
       („Er ist gestorben, er ist gestorben. Sein Problem, besser er als ich“) und
       einen Freudentanz für den Fall, dass mutmaßliche Verbrecher getötet werden.
       
       In einem Interview mit der taz bezeichnete der Philosoph Silvio Almeida die
       Sendung als [3][„Zivilisationsbruch zur besten Sendezeit“]. Und laut Jobim
       seien diese Programme sowohl Folge als auch Auslöser von Gewalt.
       
       Studien zeigen, dass [4][fast 60 Prozent der Brasilianer*innen der Aussage
       zustimmen, dass nur ein toter Verbrecher ein guter Verbrecher sei]. Solche
       Einstellungen haben auch dazu beigetragen, dass ein Mann zum Präsidenten
       gewählt werden konnte, der seine politische Karriere vor drei Jahrzehnten
       als Lobbyist für die Polizei begann: Jair Bolsonaro. Der Ex-Militär stieß
       im gewaltgeplagten Brasilien mit seinen Forderungen nach einer harten Hand
       auf viele offene Ohren. Seit seinem Amtsantritt [5][hat die tödliche
       Polizeigewalt Rekordwerte erreicht].
       
       Im Dezember 2020 versprach der Präsident, eine Gesetzesinitiative zur
       Straffreiheit von tötenden Polizisten*innen auf die Agenda zu setzen.
       Unterstützung wird er von den einflussreichen Polizei-Sendungen bekommen,
       die im Wahlkampf offen Werbung für Bolsonaro machten.
       
       ## Petition gegen die Shows
       
       Doch nicht alle Brasilianer*innen sind begeistert: Im Juli 2020 wurde
       eine Petition mit mehr als 20.000 Unterschriften ungterstützt, um die
       sensationalistischen Shows tagsüber aus dem Programm zu verbannen. Der
       Vorschlag könnte bald in einer Senatsanhörung diskutiert werden. In Uruguay
       gelang genau das mit einem 2015 in Kraft getretenen Mediengesetz. „Das wäre
       ein erster Schritt, aber eine wirkliche Veränderung werden wir nur durch
       eine Demokratisierung der Medien erreichen“, sagt Jobim.
       
       Seit einiger Zeit freuen sich zudem Polizeiprogramme im Internet großer
       Beliebtheit. In den selbstproduzierten Videos ziehen Polizisten los, filmen
       ihre Einsätze und laden sie anschließend bei Youtube hoch. Der Kanal des
       rechtsradikalen Polizisten und Bolsonaro-Unterstützers [6][Gabriel Monteiro
       aus Rio de Janeiro hat fast 3 Millionen Abonnent*innen]. „Das Medium ist
       ein anderes“, sagt Kriminalforscher Jobim. „Doch es wird die gleiche
       menschenverachtende Bestrafungslogik wie im Fernsehen propagiert.“
       
       14 Jan 2021
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://recordtv.r7.com/cidade-alerta/videos/policial-civil-impede-assalto-e-mata-suspeito-em-bairro-nobre-da-zona-sul-de-sp-06012021
 (DIR) [2] https://www.youtube.com/watch?v=GOlc32RgWJk
 (DIR) [3] /Experte-zur-Rassismusdebatte-in-Brasilien/!5727101
 (DIR) [4] http://Klar,%20hier:%20https://www.ibopeinteligencia.com/noticias-e-pesquisas/metade-dos-brasileiros-acham-que-bandido-bom-e-bandido-morto/
 (DIR) [5] /Polizeigewalt-in-Brasilien/!5689572
 (DIR) [6] https://www.youtube.com/watch?v=Agu9L9mRje8
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Niklas Franzen
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Brasilien
 (DIR) Polizeigewalt
 (DIR) Schwerpunkt Polizeigewalt und Rassismus
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