# taz.de -- Terroranschlag auf dem Breitscheidplatz: Showdown im Bundestag
       
       > Was macht eigentlich der Verfassungsschutz Mecklenburg-Vorpommern? In
       > Berlin sagen die Abgeordneten: So etwas haben wir noch nie erlebt.
       
 (IMG) Bild: Schon seit 2018 versucht der Untersuchungsausschuss Licht ins Dunkel zu bringen
       
       Der Breitscheidplatz-Untersuchungsausschuss im Bundestag hat einen klaren
       Auftrag. Er soll herausfinden, ob es zu verhindern gewesen wäre, dass der
       [1][Terrorist Anis Amri] am 19. Dezember 2016 mit einem gestohlenen Lkw in
       einen Weihnachtsmarkt raste. Zwölf Menschen starben damals, mehr als 60
       wurden schwer verletzt. Der Attentäter schaffte es, aus Berlin zu flüchten,
       und wurde in Mailand von Polizisten erschossen. Wieso haben das weder die
       Nachrichtendienste noch die Ermittler*innen kommen sehen?
       
       Damit sie solche Fragen beantwortet können, müssen ihnen der
       Generalbundesanwalt, das BKA, Ministerien und sogar die Geheimdienste
       ordnerweise Schriftstücke liefern, Kommunikation offenlegen, mal
       geschwärzt, mal streng geheim.
       
       Dass etwas in ihren Unterlagen fehlt, bekommen die Abgeordneten in Berlin
       mit, als ein Journalist recherchiert. Im Mai 2020 heißt es in einem
       WDR-Bericht, ein Mitarbeiter des Verfassungsschutzes Mecklenburg-Vorpommern
       habe sich an den Generalbundesanwalt gewandt. Vorgesetzte sollen ihm
       untersagt haben, Informationen über mutmaßliche Unterstützer Amris in
       Berlin weiterzugeben. Auch von Waffenhändlern ist die Rede, von
       dschihadistischen Netzwerken, jedoch alles vage.
       
       Träfe das zu, wäre es ein mehrfacher Skandal: Der Generalbundesanwalt hatte
       nach dem Attentat alle verfügbaren Unterlagen aus Behörden in ganz
       Deutschland angefordert, warum blieben also Informationen in Schwerin
       liegen? Und: Warum erfährt der Bundestag erst jetzt davon?
       
       Es ist ein seltsamer Verdacht: Ausgerechnet der kleine Verfassungsschutz in
       Mecklenburg-Vorpommern soll Hinweise zur Vorbereitung des schlimmsten
       islamistischen Attentat in der deutschen Geschichte gefunden haben – um sie
       dann nicht weiterzugeben?
       
       Die Ausschussmitglieder beschließen, der Sache nachzugehen. Sie fangen mit
       einem Puzzlestück an. Und am Ende zeichnet sich ihnen ein Bild von einem
       Bundesland, in dem das Innenministerium seinen Verfassungsschutz offenbar
       nicht im Griff hat.
       
       ## Der Whistleblower
       
       Am 26. November kommt ein Mann mit Schiebermütze in den Bundestag, aus
       Sicherheitsgründen nennen ihn alle hier nur T. S.. Er erscheint mit
       Begleitschutz.
       
       Er war Verfassungsschutz-Mitarbeiter in Mecklenburg-Vorpommern, ein Agent
       also, er führte sogenannte Vertrauensleute, kurzum: Es war seine Aufgabe,
       Informationen darüber zu gewinnen, wo Extremisten möglicherweise eine
       Gefahr darstellen. Islamismus und Dschihadismus sind sein Fachgebiet.
       
       Was er dem Ausschuss erzählt hat, ist geheim. Genauso wie die Vermerke,
       Treffberichte und Briefe, die er schrieb. Wir haben anhand von
       vertraulichen Gesprächen und öffentlich gestellten Fragen und Antworten
       rekonstruiert, wie er den Sachverhalt darstellt.
       
       Anfang Februar 2017 erhielt T. S. einen Anruf seines Kollegen A.B.. Auch
       der ist V-Mann-Führer. A.B. berichtet ihm von einem Gespräch mit einer
       Quelle, die er schon lange regelmäßig trifft. Diese Quelle hat erzählt, was
       mehr als drei Jahre später den Untersuchungsausschuss beschäftigt – und das
       Innenministerium in Schwerin unter Druck setzt.
       
       Die Quelle berichtet, sie habe gehört, dass Anis Amri bislang unbekannte
       Kontakte in Berlin hatte. Zu einer Familie aus Neukölln. Mehrfach sei Amri
       bei Ihnen zu Besuch gewesen, vielleicht habe er auch in einer ihrer
       Immobilien gewohnt. Die Familie ist bekannt, sie soll Verbindungen in die
       organisierte Kriminalität haben. Nun könnten sie also auch noch Amris
       Unterstützer gewesen sein. Dann aber berichtet die Quelle von noch
       brisanteren Details: Die Familie hätte Amri für den Anschlag beauftragt und
       nach der Tat zur Flucht nach Holland verholfen. In einem schwarzen Auto.
       Von einer Belohnung sei die Rede gewesen, Bargeld in einer Tasche oder
       einem Sack.
       
       Zu diesem Zeitpunkt, wenige Wochen nach dem Attentat, gilt Amri als
       Einzeltäter. Und als Islamist. So erklären sich Behörden die Tat. Die
       Informationen, die die Verfassungsschützer in Mecklenburg-Vorpommern hören,
       kratzen sehr an dieser Darstellung.
       
       T. S. informiert seinen Referatsleiter über diese Wendung. Etwa drei Wochen
       später geht ein Vermerk an das Bundesamt für Verfassungsschutz raus. Darin
       berichtet das Landesamt von der Quelle und ihren Schilderungen zu Amris
       Bekanntschaft in Neukölln. Von einem Anschlagsauftrag steht darin aber
       nichts, auch nichts über einen Fluchtwagen oder Geld.
       
       Warum wurde dieses Wissen nicht weitergegeben?
       
       Hier unterscheiden sich die Schilderungen. P.G., der Referatsleiter von T.
       S. und A.B., sagte als Zeuge im Ausschuss, er habe damals, im Februar,
       davon nichts gewusst. Später zweifelt er die Glaubhaftigkeit der
       Information an und entschied deshalb, sie nicht weiterzuleiten.
       
       Für die andere Version gibt es zahlreiche schriftliche Belege.
       
       Im Herbst 2019 schreibt T. S. einen Brief an den Generalbundesanwalt. Er
       ist drei Seiten lang, in Kopie hat ihn auch das Bundesamt für
       Verfassungschutz bekommen und auch der Staatssekretär im Innenministerium
       von Mecklenburg-Vorpommern. In diesem Brief schildert T. S., wie er die
       Information bekam und was damit geschah.
       
       In seiner Version hat sein Vorgesetzter ihn gebeten, die Quelle erneut zu
       treffen. Die Schilderungen der Quelle bleiben konsistent. Trotzdem bekommen
       die Quellenführer T. S. und A.B. die Anweisung, das nicht zu
       verschriftlichen. Es folgen weitere Treffen mit der Quelle, Besprechungen
       mit der Referatsleitung, auch der Verfassungsschutzchef wird in Kenntnis
       gesetzt. Etwa zu diesem Zeitpunkt soll A.B. zurück zur Polizei versetzt
       werden. Die beiden V-Mann-Führer wollen ihr Wissen unbedingt weitergeben,
       und schreiben deshalb den Fluchtwagen und das Geld in einen späteren
       Treffbericht. Vor dem Ausschuss nennen sie das einen Trick. So wird ein
       Vermerk über den 24. Mai 2017 der erste Beleg darüber, dass die Information
       über Amri, über das Geld und den Fluchtwagen existiert.
       
       Diese Variante wiederholt T. S. als er schließlich vom BKA befragt wird.
       Die Schilderungen seines Kollegen A.B. stimmen damit überein. Sogar die
       Quelle sagt bei den Ermittler*innen dasselbe aus.
       
       Diese Version ist also mehrfach abgesichert. Oder haben sich hier drei
       Personen abgesprochen, um ihre Glaubwürdigkeit zu retten?
       
       ## Der Verfassungsschutzchef
       
       Am Donnerstagabend, 26. November, kommt es zu einem Auftritt, über die
       langjährige Abgeordnete sagen: An so etwas können sie sich nicht erinnern.
       Benjamin Strasser von der FDP wird von einer „vordemokratischen Haltung“
       des Innenministeriums in Mecklenburg-Vorpommern sprechen.
       
       Es ist zwanzig vor Acht, im Europasaal im Paul-Löbe-Haus läuft die Sitzung
       des Untersuchungsausschusses zum Breitscheidplatz schon seit ein paar
       Stunden. Der Zeuge wird hereingerufen, Ministerialdirigent Reinhard Müller,
       64, Chef des Verfassungsschutz in Mecklenburg-Vorpommern seit 2009. Sein
       Amt ist direkt im Innenministerium angesiedelt, er ist Abteilungsleiter.
       Früher war er lange bei der Polizei.
       
       Müller hat einen Rechtsbeistand dabei und Aktenordner. Schräg hinter ihm
       sitzt die Vertreterin des Landes Mecklenburg-Vorpommern, eine Juristin.
       Ihre Aufgabe ist es darauf zu achten, dass der Zeuge keine Dinge sagt, die
       von seiner Aussagegenehmigung nicht gedeckt sind. Bei der letzten Sitzung
       hat diese Aufgabe der Justiziar des Innenministeriums übernommen, aber er
       wurde des Saales verwiesen, weil er selbst in den Fall involviert war.
       
       Müller liest sein Eingangsstatement vor. Die Vorwürfe seien unzutreffend
       sagt er, die zu Amri vorliegenden Informationen seien in sich nicht
       schlüssig gewesen und deshalb „nicht weitergabefähig“. Weitere Aussagen
       könne er aber nur in einer als geheim eingestuften Sitzung machen.
       
       Als Erster ist nun ein Abgeordneter der CDU an der Reihe, er schafft
       anderthalb Aufwärmfragen, bis sich die Landesvertreterin zum ersten Mal
       meldet. „Ich muss jetzt leider intervenieren“, sagt sie. „weil die
       Aussagegenehmigung gegen eine Antwort sprechen würde.“ Denn: Keine Aussagen
       zu Personalangelegenheiten und T. S. sei ja eine Personalangelegenheit. Sie
       fordert den Ausschluss der Öffentlichkeit.
       
       Die Fronten sind jetzt klar. Auf der einen Seite die
       Bundestagsabgeordneten, die Fragen stellen wollen, weil das ihr Auftrag
       ist. Die das schon in 110 Sitzungen gemacht haben und die es nicht
       ausstehen können, wenn ein Zeuge selektiv berichtet. Auf der anderen Seite
       ein Verfassungsschutzchef, der nichts sagen darf oder will oder beides. Und
       der eine Landesvertreterin hinter sich weiß, die alles geben wird, damit er
       nichts sagen muss. Sie macht das gleichermaßen engagiert wie unbeholfen,
       dass sie manchen im Saal Leid tut.
       
       In einer Beratungspause nimmt der Verfassungsschutzchef vor dem Saal sein
       Handy und telefoniert aufgeregt. Er gibt das Handy an die Landesvertreterin
       weiter. Das wird noch einige Male passieren an diesem Abend.
       
       Die beiden haben mit Thomas Lenz telefoniert, dem Innenstaatssekretär in
       Schwerin, wie Müller später sagt. Lenz ist gerade der Chef im Ministerium,
       weil [2][Lorenz Caffier Tage zuvor zurückgetreten] ist, nachdem er seine
       [3][Haltung zu einem rechten Netzwerk nicht erklären konnte.] Es sei aber
       nur um die Auslegung der Aussagegenehmigung gegangen, sagt Müller. Lenz ist
       selbst Zeuge in dem Komplex.
       
       Eine Landesregierung gegen den Bundestag. Geheimhaltung gegen Aufklärung.
       Der Ausschuss entscheidet einstimmig: Die Vernehmung wird öffentlich
       fortgesetzt.
       
       Wieder meldet sich die Landesvertreterin. Sie ruft: „Oktoberfestattentat!“
       Im Saal schauen sich die Abgeordneten fragend an. Der Sitzungsleiter hat
       gerade gesagt, dass die Vetreterin „jede einzelne Beschränkung in der
       Aussage“ begründen müsse. Es folgt ein Dialog, der zeigt: Die Person, die
       aufpassen muss, dass alles rechtmäßig läuft, hat selbst große
       Schwierigkeiten, sich im Recht zu orientieren.
       
       Landesvertreterin: „Ich wollte jetzt nur sagen, dass wir in den Bereich der
       Quellen kommen. Und da gibt es ja das Oktoberfestattentat. Das ist ziemlich
       eindeutig: Sobald es sich um Quellen dreht und tiefere Information fließen
       sollen – also definitiv nicht in öffentlicher Sitzung.“
       
       MdB Volker Ullrich (CDU/CSU): „Was hat das mit dem Oktoberfestattentat zu
       tun? Finde ich, es ist eine seltsame Bemerkung, mit Verlaub.“
       
       Landesvertreterin: „Wie bitte?“
       
       Sitzungsleiter: „Also, das müssen Sie jetzt begründen. Sie haben damit
       angefangen.“
       
       Landesvertreterin: „Die Entscheidung – Entschuldigung – natürlich. (…) Die
       Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Oktoberfestattentat. Darauf
       beziehe ich mich.“
       
       Ullrich: „Auf welchen Leitsatz und auf welche rechtliche Erwägung?“
       
       Die Landesvertreterin liest in ihren Unterlagen und nennt dann eine
       Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2017. Die
       Abgeordneten werden ungeduldig.
       
       Sitzungsleiter: „Ich warte auf die Begründung. Herr Ullrich hatte nach dem
       Leitsatz gefragt, auf den Sie Ihre Begründung stützen.“
       
       Landesvertreterin: „Ich darf doch kurz nachdenken, oder?“
       
       Die Abgeordneten fragen weiter. Sie wollen nichts zur Identität von Quellen
       oder anderen geheime Details wissen. Trotzdem wiederholt der
       Verfassungsschutzchef in unterschiedlichen Formulierungen vor allem: Er
       sage gerne aus, aber nur in geheimer Sitzung. Die Sitzung ist wie eine
       Schallplatte, die hängengeblieben ist.
       
       MdB Benjamin Strasser (FDP): „Herr Müller, die Entscheidung, den Hinweis
       nicht weiterzugeben, also weder an die Polizei noch an andere Landesämter
       für Verfassungsschutz, die haben Sie letztendlich getroffen?“
       
       Verfassungsschutzchef: „Herr Strasser, Sie können nicht von mir erwarten,
       dass ich jetzt an dieser Stelle zu diesen ganzen komplexen internen
       Abläufen...“
       
       Strasser: „Ich habe eine ganz konkrete Frage gestellt: Wer hat die
       Entscheidung getroffen? Sie oder jemand anders?“
       
       Verfassungsschutzchef: „Ich kann diese Frage an dieser Stelle nicht
       beantworten.“
       
       Strasser: „Warum nicht?“
       
       Verfassungsschutzchef: „Ich werde sie Ihnen gerne darstellen, auch die
       Verläufe, die zu gewissen Entscheidungen geführt haben.“
       
       Strasser: „Mich interessieren jetzt überhaupt nicht die Verläufe, mich
       interessiert die einfache Frage, wer letztendlich die Entscheidung
       getroffen hat.“
       
       Landesvertreterin: „Ich verweise auf die Aussagegenehmigung. Hierbei
       handelt es sich um eine innerdienstliche Angelegenheit.“
       
       Strasser: „Ja, der ganze Untersuchungsausschuss ist eine große
       innerdienstliche Angelegenheit.“
       
       Es schält sich heraus, dass Müller offenbar fest davon überzeugt war, dass
       die Information über Amri nicht stimmte, deshalb hat er sie nicht
       weitergegeben. Seine Kriterien dabei: unklar. Der Ausschuss hält ihm
       entgegen, dass er gar keinen Ermessensspielraum gehabt habe, weil es um
       eine Terrorermittlung ging. Bis heute ist nicht klar, ob die Informationen
       zutreffend waren, aber damals hätten sie womöglich geholfen.
       
       Müller kommt nicht nur bei rechtlichen Fragen ins Schwimmen, sondern auch
       bei sehr simplen. Etwa, wenn er gefragt wird, wie er reagiert habe, als er
       vom Berliner Terroranschlag erfahren hat. Seine Stimme ist brüchig. Er muss
       zwischendurch auch nachlesen, was überhaupt in seinem Eingangstatement
       steht. Die Zettel vor sich hat er durcheinandergebracht.
       
       Es ist Punkt Mitternacht, als der Sitzungsleiter verkündet: Die Befragung
       wird abgebrochen. Er richtet deutliche Worte in Richtung
       Mecklenburg-Vorpommern: „Wir missbilligen das, wir teilen das nicht, wir
       haben eine andere Rechtsauffassung und erwarten, dass der Rechtsauffassung
       des Untersuchungsausschusses, die wir für die rechtmäßige halten, auch
       gefolgt wird.“ Wegen der verweigerten Antworten prüfe man ein Ordnungsgeld.
       Intern sprachen sie von mindestens 1.000 Euro.
       
       Verfassungsschutzchef Müller sagt: „Ich bedaure den Verlauf der Beratung
       hier. Es war überhaupt nicht mein Ziel, Ihre berechtigten Fragen nicht zu
       beantworten.“ Dann bittet er: „Vielleicht können Sie über die Frage des
       Ordnungsgeldes auch noch mal neu nachdenken.“
       
       ## Der Generalbundesanwalt
       
       Am 11. Dezember wird Generalbundesanwalt Peter Frank im Ausschuss zu den
       Vorgängen befragt. Seine Behörde leitet die Amri-Ermittlungen. Über den
       Brief von T. S. sagt er: „Das war ein dickes Ding“ Und: „Da wendet sich
       einer Jahre später an uns mit der Behauptung, er hätte da Infos gehabt und
       die hätte er gerne ans BKA weitergegeben und das sei ihm verboten worden.“
       
       Frank erzählt von einer Ungereimtheit in den Ermittlungen, „Loch“ nennt er
       das. Amri war nach dem Attentat zuletzt in Berlin gesehen worden, dann
       verliert sich seine Spur. Keine Videoaufzeichnungen, keine Zeugen, nichts.
       Erst in Nijmegen filmt ihn wieder eine Überwachungskamera am Bahnhof. Mit
       dieser Ermittlungslücke begründet der Generalbundesanwalt, warum sie gerne
       gewusst hätten, dass in Mecklenburg-Vorpommern die Informationen lag, Amri
       sei im Auto einer Berliner Familie in die Niederlande gefahren worden. „Und
       selbst wenn das noch so halbseidene Erkenntnisse sind.“
       
       ## Der Verfassungsschutzchef
       
       Als LfV-Chef Reinhard Müller am Donnerstagabend dieser Woche den Europasaal
       des Bundestages betritt, zieht er einen Rollkoffer voller Akten und ein
       neues Problem hinter sich her: Die Abgeordneten haben von einem weiteren
       Fall erfahren, der den Verfassungsschutz in ein fragwürdiges Licht rückt.
       Es geht um ein Sturmgewehr, das das LfV Mecklenburg-Vorpommern auf dem
       Schwarzmarkt kaufen ließ.
       
       Um was es genau geht, dürfen die Abgeordneten nicht sagen. A.B., der zweite
       Quellenführer des LfV, hat es ihnen in einer als geheim eingestuften
       Sitzung erzählt. Das Schweriner Innenministerium veröffentlicht zeitgleich
       eine Pressemitteilung, die A.B.s Darstellung widerspricht. Reinhard Müller
       hatte daran mitgewirkt.
       
       Dieses Mal hat Müller eine weiter gefasste Aussagegenehmigung. Er wollte
       von Abläufen erzählen und Einschätzungen, darlegen, warum er die
       Information über Amris Helfer zurückhalten wollte. Doch die Abgeordneten
       wollen immer wieder wissen: Was will das LfV mit einem Sturmgewehr?
       
       Wieder geht es um seine Mitarbeiter T. S. und A. B. Aus Müllers Darstellung
       und eigenen Recherchen lässt sich rekonstruieren: A. B. und T. S. bestellen
       Müller zu einer konspirativen Wohnung, dort überraschen sie ihn mit einem
       Erfolg: Eine Quelle hat einen tschechischen AK-47-Nachbau auf dem
       Schwarzmarkt gekauft. T. S. wollte durch die Aktion Waffendepots von
       Islamisten finden.
       
       Müller aber ist wütend, so erzählt er es im Ausschuss. Die Waffe ist nach
       seiner Überzeugung nicht zum Schießen geeignet, eine sogenannte Dekowaffe.
       Ein echtes Sturmgewehr, das so umgebaut wurde, dass man nicht mehr damit
       schießen kann. „Ich musste ihnen sagen, dass es überhaupt keinen Sinn
       macht, eine Dekowaffe zu beschaffen, wenn man islamischen Terrorismus
       bekämpfen will.“
       
       Müller wird vom Ausschuss gefragt, ob er wisse, dass eine baugleiche Waffe
       beim Attentat auf einen jüdischen Supermarkt in Paris genutzt worden war.
       Müller fragt: „Echte oder Dekowaffe?“ Martina Renner von der Linkspartei
       antwortet: „Jetzt kommt der Hammer: eine Dekowaffe.“
       
       Kurz darauf sagt Müller: „Durch eine Dekowaffe ist noch niemand erschossen
       worden.“
       
       Dabei haben Islamisten Menschen mit Dekowaffen erschossen, die wieder
       funktionstüchtig gemacht wurden. Nicht nur im Pariser Supermarkt. Auch beim
       Bataclan-Attentat im November 2015, sogar beim Attentat beim Münchner
       Einkaufszentrum 2016. Das müsste ein Verfassungsschutzchef wissen.
       
       Rechtlich ist es mindestens fragwürdig, ob Quellen für den
       Verfassungsschutz Kriegswaffen kaufen dürfen. Auch der Umgang des
       Verfassungsschutzchefs mit der Waffe irritiert. Er lässt erstmal nicht
       untersuchen, ob sie wieder funktionsfähig gemacht werden könnte.
       Stattdessen will er, dass die Waffe vernichtet wird.
       
       Im Ausschluss schiebt Müller alles auf seinen Mitarbeiter: T. S. habe nach
       Depots in Mecklenburg-Vorpommern gesucht. Müller nennt das:
       „Spekulationen“, „Mutmaßungen“ und „völlig überdreht“ und muss erst daran
       erinnert werden, dass es tatsächlich solche Depots mit Munition und
       Kriegswaffen in seinem Land gegeben hat: Bei der rechten Preppergruppe
       Nordkreuz.
       
       Von der tatsächlich gekauften Kriegswaffe erfährt die Polizei jahrelang
       nichts. Erst als T. S. sich an den Generalbundesanwalt wandte, stellt
       Müller fest, dass die Waffe noch immer in seinem Amt lagert. Er schickt sie
       zur Überprüfung ans LKA. Im Ausschuss kann er nicht beschreiben, wo sie
       verwahrt gewesen war.
       
       Die Parallelen sind verblüffend: Die Beschaffer T. S. und A. B. besorgen
       eine Information, die schwierig zu bewerten ist. Die Vorgesetzten
       beschließen, ihr Wissen nicht mit anderen Behörden zu teilen. Stattdessen
       weisen sie an, die Information gar nicht erst zu verschriftlichen – oder,
       so wie im Fall der Waffe – sie zu vernichten.
       
       „Ich habe noch eine andere Frage“, sagt Müller, als ihn der Vorsitzende am
       Ende der Fragerunde entlässt. Ob denn der Ausschuss schon über das
       Ordnungsgeld entschieden habe?
       
       ## Der Staatssekretär
       
       Es ist fast Mitternacht am Donnerstag dieser Woche, als [4][Thomas Lenz als
       Zeuge den Europasaal im Bundestag betrifft. 60 Jahre alt, CDU, seit 2006
       Staatssekretär im Innenministerium Mecklenburg-Vorpommern.] Er kam mit
       Innenminister Caffier und blieb, als der zurücktrat.
       
       Lenz entschuldigt sich für den ersten Auftritt seines
       Verfassungsschutzchefes. Er sagt, dessen Aussage „war nicht in Ordnung.“
       Und: „So wie das hier stattgefunden hat, war das nicht beabsichtigt.“ Die
       Informationen über Anis Amri nicht vollständig weiterzuleiten „war fachlich
       noch vertretbar“. Er nennt es trotzdem einen Fehler.
       
       Dann vernichtet er T. S. Einen Mitarbeiter also, der erst jahrelang Teil
       der Landespolizei und dann mehr als 15 Jahre im Landesverfassungsschutz
       gearbeitet hatte, bevor man ihn schließlich nach den Vorgängen in 2017
       zurück zur Polizei versetzte, auf einen Schreibtischposten. Lenz spricht
       von „ein paar James-Bond-Filmen zu viel“. Er sagt, er möchte ja kein
       einseitiges Bild zeichnen. T. S. sei ja auch ein Mitarbeiter „der sich
       einen großen Dienst“ zuschreiben können, die Vereitelung eines Anschlags
       2004 in Berlin. Er betont das Wort „einen“ und lässt es lange stehen.
       
       Im Herbst 2019 hatte sich T. S. persönlich an den Staatssekretär gewandt.
       Er schilderte ihm die Sache mit der Quelle und den liegengebliebenen
       Informationen. Wie er seit Jahren versucht habe, erst seinen
       Referatsleiter, dann den Verfassungsschutzchef selbst zu überzeugen, das
       brisante Wissen weiterzugeben. Lenz sagt darüber: „Herr S. machte dann
       etwas, was ich in 14 Jahren nicht erlebt hatte. Er versuchte,
       umgangssprachlich ausgedrückt, mich zu erpressen.“ T. S., so sagt er es dem
       Ausschuss, habe angekündigt, zum GBA zu gehen, wenn Lenz ihn nicht auf
       seinen alten Posten zurückversetzt.
       
       T. S. ging zum GBA.
       
       Als Lenz schimpft, dass die Grünen und andere ihn und die Arbeit seines
       Landes vorführten, werden die Abgeordneten unruhig. Es ist schon spät, die
       Sitzung gleich vorbei. Sie bekommen heute keine Gelegenheit mehr, Fragen zu
       stellen. Die heruntergeratterten Worte des Staatssekretärs aus
       Mecklenburg-Vorpommern bleiben hier heute als letzte stehen.
       
       FDP-Politiker Strasser steht auf und geht.
       
       Linken-Politikerin Martina Renner geht.
       
       Die Abgeordneten der Grünen gehen.
       
       Die SPD geht.
       
       Draußen werden sie der Presse von „gravierenden Vorgängen“ berichten. Sie
       wundern sich über den Widerspruch, erst Fehler einzugestehen, dann aber den
       Whistleblower, der diese Fehler aufdeckte, öffentlich zu diskreditieren.
       Die Grünenpolitikerin Irene Mihalic sagt zu diesem Vorgehen vor
       Journalistin*innen: „Mich lässt das fassungslos zurück“ Benjamin Strasser
       sagt sogar: „Deshalb sollte sich der neue Innenminister Gedanken machen, ob
       er noch mit so einem Behördenleiter arbeiten möchte.“
       
       Im Sitzungssaal bricht Thomas Lenz seine Rede ab, mehrere Seiten liegen
       ungelesen vor ihm, er packt sie in eine Mappe mit goldenem Landeseblem.
       Eigentlich wollte er sein Statement veröffentlichen und an die Presse
       verschicken, mit allen Anschuldigungen, Tiraden und Passagen aus
       eingestuften Unterlagen. Ausgesuchten Journalist*innen in Schwerin hatte er
       bereits am Vortag seine Sicht der Dinge erläutert. Der Ausschussvorsitzende
       weist verwundert darauf hin, dass der Ausschuss entscheiden dürfe, was
       veröffentlicht werde – und was nicht. Dann ist Mecklenburg-Vorpommern
       vorerst entlassen.
       
       12 Dec 2020
       
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