# taz.de -- Terrorismusexperte über Wiener Attentat: „Ähnlich wie in Halle“
       
       > Die dschihadistische Szene ist in Österreich schon lange aktiv, sagt
       > Guido Steinberg. Zu deren Ideologie gehört auch Antisemitismus.
       
 (IMG) Bild: Café am Wiener Stephansplatz am Morgen nach dem Anschlag
       
       taz: Herr Steinberg, in Wien hat ein islamistischer Attentäter [1][mehrere
       Menschen erschossen]. Wie ordnen Sie diesen Anschlag ein? 
       
       Guido Steinberg: Wir erleben derzeit eine Reihe von Anschlägen: [2][Paris],
       [3][Nizza], [4][Dresden], jetzt Wien. Diese Häufung ist auffällig und auch,
       dass die Taten – in Wien unter Vorbehalt – von Einzeltätern verübt werden.
       Das ist etwas Neues, das wir in den letzten Jahren nicht gesehen haben.
       
       Nach dem Wiener Anschlag gab es mehrere Festnahmen und Hausdurchsuchungen.
       Handelte der Täter wirklich allein? 
       
       Deswegen sagte ich: unter Vorbehalt. Die Durchsuchungen zeigen, dass der
       Täter offenbar nicht isoliert war, sondern die Behörden eine Struktur
       vermuten. Bisher sieht es aber so aus, dass er auf der Straße allein
       geschossen hat. Und das würde in den Trend der letzten Wochen passen.
       
       Warum [5][häufen sich diese Anschläge] gerade jetzt? 
       
       Die Ruhe zuletzt hatte damit zu tun, dass die großen dschihadistischen
       Organisationen nicht mehr in der Lage sind, selbst Anschläge in Europa zu
       organisieren. Der IS ist international stark geschwächt. Deswegen war es in
       den letzten drei Jahren deutlich ruhiger. Dass sich dies nun ändert, könnte
       mit der erneuten Debatte über die Mohammed-Karikaturen zusammenhängen, die
       in der dschihadistischen Szene für deutliche Unruhe und Mobilisierung
       sorgt. Meine These ist aber eine etwas andere.
       
       Und zwar? 
       
       Ich halte die Enthauptung des Lehrers Samuel Paty durch einen Islamisten in
       Conflans-Sainte-Honorine für den Auslöser.
       
       Der allerdings auch ins Visier geriet, weil er die Karikaturen im
       Unterricht besprach. 
       
       Ja. Aber erst die Ermordung scheint mir die jetzige Dynamik ausgelöst zu
       haben – eine Propaganda der Tat. Gleichgesinnte werden nun aktiv, weil sie
       den Eindruck haben, wenn sie jetzt handeln, könnte eine neue Bewegung
       entstehen.
       
       Der IS selbst bekannte sich zunächst nicht zu der Tat, der Täter schwor dem
       IS-Anführer „Abu Ibrahim“ in einem Posting aber seine Treue. Wie passt das
       ins Bild? 
       
       Bisher sieht alles danach aus, dass der Attentäter in Eigeninitiative
       gehandelt hat. Meines Wissens hat der IS seit Anfang 2019 keine Strukturen
       mehr, um gezielt ausländische Kämpfer zu mobilisieren. Aber es gibt
       natürlich in Europa [6][weiter Tausende IS-Anhänger], die der Ideologie
       anhängen. Das ist eine Folge der extremen Mobilisierung des IS zwischen
       2014 und 2017, als Tausende Europäer nach Syrien und Irak auswanderten und
       viele andere ideologisch angefixt wurden. Dieses Gedankengut verschwindet
       nicht von heute auf morgen. Und dann braucht es nur ein kleines Ereignis,
       wie die Ermordung von Samuel Paty, um Fanatiker aus diesem Spektrum zur Tat
       schreiten zu lassen.
       
       Ist das die IS-Strategie momentan: das Anstacheln von Einzeltätern? 
       
       Der IS hat immer versucht, Einzeltäter zu inspirieren, wenn er nicht in der
       Lage war, seine Ziele direkt zu erreichen. Momentan scheint er sich aber
       eher auf sein altes Kerngebiet zu konzentrieren, in Syrien, Irak und
       Afghanistan. Eine strategische Mobilisierung in Europa sehe ich derzeit
       nicht. Aber die Tat spielt dem IS natürlich in die Hände.
       
       Österreich blieb bisher von islamistischen Anschlägen verschont. Gibt es
       eine Erklärung, warum es das Land jetzt doch getroffen hat? 
       
       Dass es nun Österreich trifft, kann nicht überraschen. Die dschihadistische
       Szene dort war schon sehr früh sehr stark, sie ist seit mehr als 15 Jahren
       im Land verankert. Erinnert sei an den Wiener [7][Mohamed Mahmoud], der
       bereits vor Jahren als Sprachrohr des IS auftrat und stark auf die deutsche
       Szene einwirkte. Die österreichischen Dschihadisten sind dabei besonders
       gefährlich und noch mal gewaltbereiter als in Deutschland. Ein Großteil
       kommt aus Tschetschenien, Bosnien oder Kosovo/Albanien/Mazedonien, viele
       können mit Waffen umgehen. Als der IS zu Ausreisen aufrief, folgten dem 250
       Islamisten aus Österreich. Hochgerechnet auf die Bevölkerung waren das
       doppelt so viele wie in Deutschland. Das zeigt das Potenzial.
       
       Der 20-jährige Attentäter von Wien soll in Österreich aufgewachsen sein und
       eine albanisch-mazedonische Herkunft haben. 
       
       Das passt ins Bild. Und auch er soll erfolglos versucht haben, zum IS nach
       Syrien auszureisen. Er scheint damit die letzte Mobilisierungs- und
       Radikalisierungswelle des IS voll miterlebt zu haben. Und füllte sich nun
       offenbar zum Losschlagen veranlasst.
       
       Dann stellt sich eher die Frage, warum es so lange ruhig in Österreich war. 
       
       Viele österreichische Dschihadisten waren in den letzten Jahren in Syrien
       und dem Irak, einige sind dort getötet worden. Nun hat sich die Szene
       wieder zurückverlagert. Gegen die Rückkehrer sind die österreichischen
       Sicherheitsbehörden aber, trotz beschränkter Kompetenzen, sehr entschlossen
       vorgegangen. Einige Prediger wurden teils sehr lange inhaftiert. In
       Österreich ist einiges strafbar, was in Deutschland noch erlaubt ist. Die
       Szene stand dort in den letzten Jahren sehr unter Druck.
       
       Die Tat geschah in einem Wiener Viertel, das auch jüdisch geprägt ist. Ist
       auch Antisemitismus ein Motiv? 
       
       Wenn man sich den Weg des Attentäters anschaut und sieht, dass dort auch
       ein koscheres Restaurant liegt, das zum Glück geschlossen hatte, dann kann
       man zu diesem Schluss kommen. Der Antisemitismus ist fester Bestandteil des
       Islamismus. Womöglich verlief der Tatablauf ähnlich wie beim versuchten
       Anschlag auf die [8][Synagoge in Halle]: Als der Täter sein ursprüngliches
       Ziel nicht erreichte, suchte er sich andere Opfer. Das würde auch erklären,
       warum es glücklicherweise so wenige Todesopfer gibt, obwohl die Straßen
       voll belebt waren.
       
       Viele waren unterwegs, weil es die letzte Nacht in Wien vor dem
       Corona-Shutdown war. Gibt es da einen Zusammenhang? 
       
       Denn sehe ich eher nicht. Wenn ein Attentäter gewillt ist, könnte er auch
       nach einem Shutdown in einem Einkaufszentrum oder im Nahverkehr losschlagen
       und seine Opfer finden.
       
       Angesichts der derzeitigen Dynamik: Sind weitere Anschläge zu befürchten? 
       
       Das würde mich leider nicht wundern. In der dschihadistischen Szene
       herrscht momentan eine enorme Unruhe. Viele dürften dort intensiv darüber
       nachdenken, wie sie sich in den nächsten Tagen verhalten.
       
       Was können die Staaten tun, um diese Dynamik zu stoppen? 
       
       Das ist schwer zu brechen. Aber man kann Druck auf das Milieu aufbauen, mit
       Gefährderansprachen, Vernehmungen, Hausdurchsuchungen. Man kann klar
       machen: Ihr seid unter Beobachtung und wir wissen, worüber ihr gerade
       diskutiert. Und das machen die Österreicher ja auch gerade. Ich bin mir
       sicher, da wird jetzt jeder Stein in der Szene umgedreht, um zu schauen, ob
       es weitere Gefahren gibt.
       
       3 Nov 2020
       
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