# taz.de -- Klimaprotest und 1,5-Grad-Ziel: Die Abstimmungsoption
       
       > Ein selbstorganisiertes Plebiszit könnte 2021 die klimapolitische
       > Orientierung am 1,5-Grad-Ziel verstärken. Nämlich durch Druck von unten.
       
 (IMG) Bild: Protest mit dem Motto „1,5 Grad ist das Limit“ vor dem Kanzleramt im April 2019
       
       „Stellen Sie sich dem Klimanotfall“ – diesen Appell richteten Greta
       Thunberg, Luisa Neubauer und zwei weitere Aktivistinnen Mitte Juli in einem
       offenen Brief an alle Regierungen der EU. Am 20. August, genau zwei Jahre
       nach Thunbergs erster Streikaktion vor dem Stockholmer Parlamentsgebäude,
       haben sie sich darüber mit der Bundeskanzlerin ausgetauscht. Wie bei dem
       letzten Klimastreik mit der Parole „Kein Grad weiter!“ ging es um die
       Begrenzung der Erderwärmung auf unter 1,5 Grad Celsius.
       
       Dieses Ziel sei, wie taz-Redakteur [1][Malte Kreutzfeldt] hier unlängst
       feststellte, zwar „am objektiv Notwendigen“, doch kaum noch Realisierbaren
       orientiert. Ein Festhalten an der [2][1,5-Grad-Grenze] sei zwar von der
       Sache her geboten, drohe jedoch in Verzweiflung umzuschlagen, sobald sie
       überschritten sei.
       
       So gesehen steht zu erwarten, dass sich die [3][Klimabewegung] nur unter
       der pragmatischen Devise „Nichts unversucht lassen“ wird behaupten können:
       Sie muss ebenso lokale Protestaktionen – derzeit gegen den Ausbau der
       Autobahn A 49 in Hessen – durchführen wie bundesweit einer
       klimaverträglichen Energie-, Verkehrs- und Agrarwende Nachdruck verleihen
       sowie der EU eine Erhöhung ihres CO2-Reduktionsziels von 55 Prozent auf
       mindestens 65 Prozent bis 2030 abverlangen.
       
       Zugleich kommt es aber darauf an, Bevölkerungsmehrheiten für die Einhaltung
       des Pariser Klimaabkommens zu gewinnen. Dies alles beinhaltet
       Herausforderungen, die Fridays for Future allein nicht schultern können –
       schon gar nicht, wenn dabei auch dem höchst ambitionierten Maßnahmenpaket
       aus der Wuppertal-Studie „CO2-neutral bis 2035“ öffentliche Geltung
       verschafft werden soll.
       
       ## Druck der Straße reicht allein nicht aus
       
       Sich weiterhin auf den Druck der Straße oder eigene Kandidaturen für den
       Bundestag zu verlassen, reicht dafür nicht aus. Dieser Druck müsste ebenso
       von einer Bürgergesellschaft ausgehen, die gewillt ist, den in Parlamenten
       und an den Schalthebeln der Macht sitzenden Führungskräften einen
       wirksameren Klimaschutz abzuringen.
       
       Einen Beitrag hierzu könnte der Versuch leisten, die [4][Kampagnenpraxis zu
       einem direktdemokratischen Instrument] auszubauen: Eine Initiative unter
       der Bezeichnung „Abstimmung 21“ (Abst.21) schickt sich an, zeitnah zu den
       Bundestagswahlen ein Plebiszit durchzuführen, bei dem unter anderem über
       Maßnahmen zur Eindämmung der Klima- und Umweltkrise entschieden werden
       soll.
       
       Das Bündnis, an dem sich Democracy International, Mehr Demokratie e. V.,
       Omnibus für direkte Demokratie und die Petitionsplattform Change.org.
       beteiligen, arbeitet daran, die Tauglichkeit von Volksabstimmungen auch auf
       Bundesebene unter Beweis zu stellen. Es soll sich um eine Spielart von
       Volksentscheiden handeln, die dem Souveränitätsprinzip im Grundgesetz
       entspricht und als verfassungskonform gilt.
       
       Danach dürften Plebiszite nur von der Zivilgesellschaft initiiert werden
       und sich nur auf Sachfragen beziehen, die mit der Wahrung der
       Menschenrechte und des Minderheitenschutzes zu vereinbaren sind. Zudem
       müsse der Bundestag auf die Entscheidungen mit Gegenvorschlägen reagieren
       können, womit man ein Ringen um die beste Lösung zwischen parlamentarischen
       und direktdemokratischen Gesetzgebungsinitiativen sicherstelle.
       
       ## Klimawende 1,5 Grad
       
       Im konkreten Fall stehen klima-, umwelt- und sozialpolitische Maßnahmen im
       Mittelpunkt, wie aus den acht Themen zu einer Probeabstimmung hervorgeht,
       an der bundesweit 45.974 Menschen teilgenommen haben. Mehrheitlich waren
       die aus Change.org-Petitionen ausgewählten Sachgebiete, die in einem
       Abstimmungsheft mit Pro- und Contra-Argumenten präsentiert wurden,
       Ansatzpunkten eines sozialökologischen Strukturwandels gewidmet.
       
       Das erste Thema bezog sich auf das Ziel „Klimawende 1,5 Grad“ sowie sechs
       weitere auf die Problemfelder Mindestlohn, Lobbyregister, Grundeinkommen,
       Lebensmittelverschwendung, Ökologische Landwirtschaft und Fracking. Als
       achtes Thema wurde die Forderung nach Einführung einer bundesweiten
       Volksabstimmung angeboten.
       
       Nachdem beim Probelauf die Gesetzgebungsinitiativen zum ersten und achten
       Thema hohen Zuspruch erhielten, steht nun fest, dass beide Themen auch zur
       Hauptabstimmung gestellt werden. Dann soll über insgesamt zehn Vorschläge
       entschieden werden, deren Festlegung auf einem Webportal erfolgt, das
       zusätzlich Beschlüsse über weitere Brennpunktthemen ermöglicht.
       
       Auch wenn es sich bei der Briefabstimmung nur um eine Meinungsumfrage
       handelt – ohne Rechtsverbindlichkeit für Parlament und Regierung –, so wird
       sie exakt nach dem Vorbild von Volksentscheiden durchgeführt. Sie
       ermöglicht auf den Stimmzetteln mit „Ja/Nein/Enthaltung“ fakultative
       Entscheidungen und kann deshalb unter anderem dafür genutzt werden, den
       Klimaschutz zum zentralen Wahlkampfthema zu machen und transformative
       Ansätze voranzubringen.
       
       ## Kein Ausbau direkter Demokratie bei den Grünen
       
       An dem Pilotprojekt sollen sich mindestens eine Million Bürger*innen
       beteiligen. Damit dies gelingt, ist es auf Unterstützung von NGOs,
       Gewerkschaften und Parteien angewiesen. Das dürfte allerdings momentan
       ausgerechnet den Grünen schwerfallen: Nachdem in dem Entwurf ihres neuen
       Grundsatzprogramms die bisherigen Zielsetzungen zum Ausbau direkter
       Demokratie nicht mehr enthalten sind, steht die Partei demnächst vor der
       Entscheidung, ob sie einem damit verbundenen Kurswechsel zustimmt.
       
       Derweil demonstriert Abst.21, wie sich zentrale Anliegen bündeln und in
       Gesetzgebungsinitiativen umformen lassen. Auf diesem Weg könnte sich
       zivilgesellschaftliches Engagement über die Beteiligung an Demonstrationen,
       zivilem Ungehorsam, Klimaklagen und Netzkampagnen hinaus noch erweitern und
       der ursprüngliche Impuls der Klimabewegung, der von Sitzstreiks vor einer
       Volksvertretung ausging, auf höherer demokratischer Stufenleiter
       fortgesetzt werden.
       
       17 Nov 2020
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Studie-zu-Klimaneutralitaet-bis-2050/!5720522
 (DIR) [2] /!s=1%252C5-Grad-Ziel/
 (DIR) [3] /Die-Gruenen-und-Fridays-for-Future/!5720921
 (DIR) [4] https://boell-bremen.de/de/2020/04/09/kampagnen-zeiten-der-coronakrise
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Martin Zülch
       
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