# taz.de -- Bedingungen für die große Veränderung: Bildung muss transformativ sein
       
       > Wer verändern will, benötigt andere Kompetenzen, als das heutige
       > Bildungssystem lehrt. Welche Ansätze es gibt – und wo sie an Grenzen
       > stoßen.
       
 (IMG) Bild: Feministische Konzepte müssen integraler Bestandteil transformativer Bildung sein
       
       „[1][System change, not climate change]“, lautet der globale Ruf der
       Klimabewegung. Genau das fordert auch der Wissenschaftliche Beirat der
       Bundesregierung Globale Umweltveränderungen. 2011 veröffentlichte er das
       Gutachten „Welt im Wandel – Gesellschaftsvertrag für eine Große
       Transformation“. Unter dieser großen Transformation wird die weltweite
       Veränderung von Wirtschaft und Gesellschaft hin zu Nachhaltigkeit
       verstanden. Eine zentrale Herausforderung dabei sei der Klimawandel, denn
       er könne Dynamiken auslösen, die seine Wirkung noch erheblich verstärken.
       Die große Transformation soll das verhindern. Der Prozess wird auch mit den
       anderen fundamentalen Transformationen der Weltgeschichte wie der
       Verbreitung von [2][Ackerbau] und dem Übergang zur Industriegesellschaft
       verglichen.
       
       Der Zusammenhang mit Bildung liegt auf der Hand: Keine große Transformation
       funktioniert ohne gestaltungsfähige Menschen, die diesen Prozess
       gestalten. In der Wissenschaft, bei Bildungsträgern sowie dem
       Unesco-Weltaktionsprogramm wird deshalb auch der Begriff der
       [3][transformativen Bildung] verwendet. Er bedeutet, Bildung für
       nachhaltige Entwicklung weiterzuentwickeln, damit sie dabei hilft, alle
       UN-Nachhaltigkeitsziele zu unterstützen, die bis zum Jahr 2030 erreicht
       werden sollen.
       
       Vorrangig geht es bei dem Verständnis von transformativer Bildung um
       Kompetenzen, die eine aktive Gestaltungsfähigkeit des unbekannten Weges hin
       zu mehr Nachhaltigkeit fördern. Dazu gehören Reflexionsfähigkeit, der
       Umgang mit Komplexität und mit Widersprüchen aus diversen Perspektiven,
       Kommunikationsfähigkeit, die Kompetenz zum forschenden Lernen und
       Experimentieren sowie das Verstehen natürlicher Lebens- und
       Regenerationszyklen. Hinzu kommt die Fähigkeit, Interessenkonflikte zu
       analysieren und sich entsprechend wirksam positionieren zu können.
       
       Die große Transformation ist trotz des Drucks der
       Fridays-for-Future-Bewegung noch immer kein sichtbarer Prozess. Deshalb
       haben wir unterschiedliche außerschulische Bildungsakteur*innen nach
       ihren Ansätzen und den Grenzen transformativer Bildungskonzepte befragt.
       
       ## Existierende Alternativen müssen berücksichtigt werden
       
       „Menschen im globalen Süden erleben schon seit Jahrhunderten ökologische
       Katastrophen und kämpfen gegen bestehende Machtverhältnisse. Mit der Idee
       der großen Transformation dürfen ihre Realitäten, Lösungen und Kämpfe nicht
       unsichtbar gemacht werden“, betont Melina Castillo, politische und
       kulturelle Bildungsreferentin bei FairBindung. Weltweit lebten
       Gemeinschaften bereits sozial gerechte Lösungen. Transformative Bildung
       benötige also nicht nur Kompetenzen für ein „neues“ lösungsorientiertes
       Denken, sondern müsse existierende Alternativen berücksichtigen und
       herrschendes Wissen, Wertehierarchien und bestehende Stereotype
       dekonstruieren.
       
       Feministische und rassismuskritische Bildungsansätze ergänzen diese
       Kompetenzen. Sie hinterfragen, wessen Bücher gelesen, wessen Geschichten
       erzählt werden und welche Werte, Interessen, Lebens- und Arbeitsformen wir
       jungen Menschen als „wertvoll“ vermitteln. „Transformatives Lernen muss
       endlich Silencing-Prozesse (das Unsichtbarmachen marginalisierter
       Perspektiven – Anmerkung der Redaktion) offenlegen“, sagt Yasmina
       Gandouz-Touati, die an der Fachhochschule Bielefeld lehrt. „Aus meiner
       Erfahrung gibt es eine bestimmte Idee von Gesellschafts- und
       Geschichtserzählung, die bestimmte (globale) Prozesse ausblendet.“ Aber
       nicht nur Inhalte sollten hinterfragt werden. Entscheidend sei, dass sich
       Pädagog*innen mit ihrer eigenen Haltung auseinandersetzten. „Lehrende
       müssen ihre eigenen Bildungsbiografien reflektieren, ihr eigenes Wissen
       hinterfragen und sich bewusst machen, welches Wissen, welche
       gesellschaftlichen Erzählungen ihnen fehlen“, unterstreicht Yasmina
       Gandouz-Touati. Zusätzlich brauche es diverse Role-Models, um Alternativen
       zu erleben.
       
       ## Erwartungen sind zum Hinterfragen da
       
       Dies meint auch Kornelia Ruppmann vom Verein LIFE Bildung, Umwelt,
       Chancengleichheit e. V. Sie ermutigt Jugendliche durch gender-sensible
       Bildungsformate, alternative Lebenswege einzuschlagen, und kritisiert
       schulische Bildung: „In Schulen werden Stereotype oft zementiert, meist
       werden die Jugendlichen nicht darin bestärkt, eigene Perspektiven
       einzunehmen oder an sie gestellte Erwartungen zu hinterfragen.“
       
       Transformative Bildung sei eine Chance für grundlegende Änderungen,
       unterstreichen alle unsere Gesprächspartner*innen. „Wir brauchen für alle
       Bildungslandschaften Rahmenbedingungen, die politische Bildung und
       transformative Bildung als Pflichtaufgaben in Curricula und
       Bildungsplänen festschreiben“, ergänzt Pia Paust-Lassen, die an der Alice
       Salomon Hochschule Berlin als Lehrbeauftragte tätig ist.
       
       Feministische und rassismuskritische Bildungsprinzipien wie auch die
       Leitlinien des globalen Lernens stärken den kompetenzorientierten Fokus der
       transformativen Bildung. Doch bei allen Lern- und Bildungsprozessen müssen
       immer auch die ihnen zugrunde liegenden Perspektiven hinterfragt werden.
       Gleichwohl hängt die Selbstwirksamkeit von jungen Menschen auch davon ab,
       dass Menschen in Machtpositionen ebenfalls die Fähigkeiten transformativer,
       feministischer, rassismuskritischer Bildung erlernen.
       
       25 Sep 2020
       
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