# taz.de -- Parteitag der US-Demokraten: Das kleinere Übel
       
       > „Es gibt keinen Impfstoff gegen Rassismus“, sagt Kamala Harris. Die
       > Begeisterung für sie ist begrenzt. Wählen werden Linke sie trotzdem.
       
 (IMG) Bild: Joe Biden kann Linke und Schwarze in den USA nur wenig begeistern
       
       „Jetzt, wo wir einen Faschisten im Weißen Haus haben, freue ich mich über
       einen Neoliberalen“, sagt die New Yorkerin Susan Bernofsky. Weder Joe
       Biden, der 77-jährige Hoffnungsträger der Demokratischen Partei, noch seine
       Stellvertreterin [1][Kamala Harris] veranlassen die Übersetzerin zu
       Freudensprüngen. Sie hat eine Linkswende gewollt. Ihre Favoritin war
       [2][Elizabeth Warren]. Biden und Harris sind nach ihrem Geschmack „zu
       mittig“. Bernofsky nennt sie „industriefreundlich und
       menschenunfreundlich“.
       
       Dennoch wird Bernofsky im November Joe Biden wählen. Falls nötig, wird sie
       auch Telefonanrufe bei Wählern machen, obwohl sie das nicht mag. In den
       bald vier Jahren seit dem Amtsantritt von Donald Trump ist Bernofskys Sorge
       ständig gewachsen. Was er tut, sei „tausendmal schlimmer“, als sie es sich
       vorher hätte ausmalen können. „In einer Woche zerstört er die Schulen“,
       sagt sie, „in der nächsten die Post. Irgendwann wird er die ganze
       Gesellschaft zerstören.“
       
       Bernofsky versteht sich nicht als Aktivistin. Sie lehrt an einer New Yorker
       Universität, übersetzt Literatur aus dem Deutschen und hat gerade eine
       Robert-Walser-Biografie fertiggestellt. Auf der Straße ist die dennoch
       häufig. Nur [3][als die Coronapandemie in New York wütet], legt sie eine
       Pause ein. Doch [4][nach dem Tod von George Floyd unter einem Polizeiknie
       in Minneapolis] hält es sie nicht mehr in ihrer selbst auferlegten
       Quarantäne.
       
       ## Fünfmal die Woche mit Plakaten auf der Straße
       
       Die weiße New Yorkerin steht fünfmal die Woche abends für eine
       Viertelstunde mit einer kleinen Gruppe von Nachbarn an der Ecke Broadway
       und 111. Straße und hält den vorbeifahrenden Autos eines ihrer Schilder
       entgegen. Auf eines hat sie ein Herz gemalt und geschrieben: „Black Lives
       Matter“ – Schwarze Leben zählen. Auf einem anderen zitiert sie den
       Werbeslogan der Polizei: „Schützen und dienen“ und fügt hinzu: „Das ist
       nicht gleichbedeutend mit schlagen, drosseln und töten.“ Manchmal hört sie
       die Flüche aus vorbeifahrenden Polizeiwagen.
       
       In dieser Woche verfolgt Bernofsky den Parteitag der Demokraten. Sie
       interessiert sich nicht besonders für das virtuelle Geschehen – für den
       Applaus vom Band, die Umarmungen, die nur auf Bildschirmen existieren, und
       die Abwesenheit von Zwischenrufen. Aber sie hört ausgewählte Reden.
       
       Sie kommen aus dem Irgendwo, in dem dieser Parteitag stattfindet: aus
       Milwaukee in Wisconsin, wo sich statt der ursprünglich erwarteten 50.000
       aufgrund der Pandemie jetzt nur ein paar tausend Menschen zu schaffen
       machen. Aus Wilmington, in dem kleinen Ostküstenstaat Delaware, wo der
       Präsidentschaftskandidat lebt und wohin seine
       Vizepräsidentschaftskandidatin aus Kalifornien angereist ist. Und von den
       Dutzenden Wohnzimmern und Büros quer durch die USA, aus denen die anderen
       Demokraten ihre Reden übermittelt haben.
       
       Es ist ein demokratischer Parteitag wie kein vorausgegangener. Statt des
       zupackenden Optimismus, den solche Ereignisse in den USA gewöhnlich
       ausstrahlen, ist er von Sorgen bestimmt. Es geht um Krankheit und Tod. Um
       Arbeitslosigkeit und Verarmung. Um Intoleranz und Hass, um internationale
       Isolierung und um die Zerstörung der Demokratie in den USA. Selbst die
       Worte, die jeder politische Kandidat in den USA irgendwann einmal sagt –
       „dies ist die wichtigste Wahl unseres Lebens“ –, klingen dieses Mal anders.
       Sie bedeuten, dass der 3. November die letzte Möglichkeit einer Umkehr ist.
       
       Bernofsky hat längst entschieden, dass sie im November persönlich ins
       Wahllokal gehen wird. Trotz des Ansteckungsrisikos, trotz der
       möglicherweise langen Wartezeiten und trotz des erwartbaren Chaos, das
       Donald Trump organisieren könnte. [5][Eine Briefwahl] erscheint ihr als
       riskant: „Weil unklar ist, ob Wahlscheine, die per Post kommen, schon am
       Wahltag ausgezählt werden.“ Obwohl [6][alle] [7][Meinungsumfragen] im
       Augenblick [8][einen komfortablen Vorsprung] für den Demokraten Biden
       sehen, fällt ihr zu dem Wahltag vor allem ein Wort ein: „Furcht“.
       
       Es ist eine Sorge, die viele teilen. In Webinars befassen sie sich mit
       „gestohlenen Wahlen“ und der Gefahr von Gewalt und Bürgerkrieg. Und mit der
       Frage, auf wessen Seite sich Militär und Geheimdienste stellen werden,
       falls Trump sich weigern sollte, seine Wahlniederlage anzuerkennen.
       
       „Wir haben hier ein riesiges Durcheinander“, seufzt MaryKay Penn. [9][Bei
       den Fernsehdebatten der anfänglich zwei Dutzend demokratischen Kandidaten
       im letzten Winter] hat sie Bernie-Sanders-Abende im New Yorker Stadtteil
       Harlem organisiert. Sie stellte Snacks auf die Tische. In den Werbepausen
       stellte sie den Ton ab und diskutierte mit den anderen Bernie-Fans über
       gemeinsame Aktionen. [10][Die Siege von Sanders bei den ersten Primaries]
       verschafften ihnen einen kurzen Höhenflug. Doch [11][im April kam das
       bittere Ende].
       
       Im November wird die afroamerikanische New Yorkerin, die verschiedene
       internationale Stiftungen berät, mit zugehaltener Nase für Biden stimmen.
       Aber zu einem Wahlkampf für ihn reicht es bei ihr nicht. Auch den Parteitag
       der Demokraten verfolgt sie nicht. „Wir haben jetzt einen Kriegstreiber und
       eine Cop“, sagt Penn.
       
       Damit meint sie Bidens Rolle bei US-Militärinterventionen und Harris'
       Arbeit als Staatsanwältin in San Francisco. Dort brachte die jetzige
       Kandidatin auch junge Leute für gewaltfreie Drogenverstöße hinter Gitter
       und bedrohte Eltern mit Gefängnis, deren Kinder die Schule schwänzten.
       
       Für Penn ist Biden der Vizepräsident, den Barack Obama 2008 bei seinem Weg
       ins Weiße Haus brauchte, weil er das Vertrauen der Republikaner genoss.
       Zwölf Jahre später sagt Penn: „Biden und Harris sind nicht in der Lage,
       unsere Empörung zu bündeln.“
       
       [12][Sanders] selbst unterstützt Biden. Er tut es ohne Enthusiasmus, aber
       entschlossen. Seinen Anhängern sagt er: „Wir haben keine Wahl. Wir müssen
       ihn wählen.“ Ab dem ersten Amtstag des neuen Präsidenten will Sanders mit
       seiner Basis für Klimapolitik, Krankenversicherungen für alle und andere
       „echte Veränderungen“ mobilisieren. Wie viel Gehör die Sanders-Anhänger bei
       einem Präsidenten Biden haben werden, ist offen. Auf seinem
       Nominierungsparteitag kommen mehr enttäuschte Republikaner als
       demokratische Parteilinke zu Wort.
       
       ## Der Tag von Kamala Harris
       
       Doch dieser Mittwoch ist [13][der große Tag für Kamala Harris]. Nach ihrer
       Nominierung als erste schwarze Vizepräsidentschaftskandidatin versucht
       Harris in ihrer Rede, Brücken zu ihren innerparteilichen Gegnern zu bauen.
       „Wir mögen nicht in jedem Detail einverstanden sein, aber wir sind geeint
       in der grundsätzlichen Überzeugung, dass jeder Mensch einen unendlichen
       Wert hat, Mitgefühl, Würde und Respekt verdient“, sagt sie. Harris geht auf
       die Rassismusdebatte ein: „Es gibt keinen Impfstoff gegen Rassismus. Wir
       müssen die Arbeit machen.“
       
       Harris wirbt: „Wir müssen einen Präsidenten wählen, der etwas anderes,
       etwas Besseres bringt. Einen Präsidenten, der uns alle – Schwarze, Weiße,
       Latinos, Asiaten, Indigene – zusammenbringt, um die Zukunft zu erreichen,
       die wir uns gemeinsam wünschen.“
       
       Scharf geht Harris den amtierenden Präsidenten an. „Donald Trumps
       Führungsversagen hat Leben und Lebensgrundlagen gekostet.“ Noch schärfer
       allerdings rechnet der frühere Präsident Barack Obama am selben Tag mit
       Trump ab. „Donald Trump ist nicht in den Job hineingewachsen, weil er es
       nicht kann. Und die Folgen dieses Versagens sind schwerwiegend“, sagt
       Obama, zugeschaltet aus Philadelphia. Die Präsidentschaft behandle er wie
       „eine weitere Reality-Show, mit der er die Aufmerksamkeit bekommen kann,
       nach der er sich sehnt“.
       
       Und Obama spricht eine düstere Warnung aus: „Diese Regierung hat gezeigt,
       dass sie unsere Demokratie niederreißen wird, wenn das nötig ist, um zu
       gewinnen.“ Was in den kommenden 76 Tagen passiere, werde sich auf die
       folgenden Generationen auswirken.
       
       ## Auf Nachwuchssuche
       
       Doch manche linke Demokraten sind gar nicht so sehr mit der Unterstützung
       von Biden und Harris beschäftigt, auch wenn sie diese im November wählen
       werden. Sie konzentrieren ihre politische Arbeit auf andere Felder. Sie
       unterstützen radikale Linke und innerparteiliche Biden-Gegner, die in die
       Institutionen streben. Dabei haben sie, oft jenseits des Rampenlichts,
       beachtliche Erfolge erzielt. 2016 brachten Frauen aus dem Umfeld der
       gescheiterten Kandidatin Hillary Clinton den Ausdruck: „Bernie Brüder“ in
       Umlauf. Er meint, dass junge weiße Männer das Sagen in der Sanders-Kampagne
       hätten.
       
       Vier Jahre danach sind aus den Kreisen der „Bernie-Brüder“ einige der
       populärsten neuen Politikerinnen der USA hervorgegangen. Darunter befinden
       sich auch die vier braunen und schwarzen jungen Frauen, die in den letzten
       zwei Jahren das Repräsentantenhaus aufgewiegelt haben:
       [14][Ocasio-Cortez], [15][Ilhan Omar], [16][Ayanna Pressley] und
       [17][Rashida Tlaib]. In den zurückliegenden Monaten haben alle vier Siege
       in den Primaries geholt.
       
       Als Letzte gewann Omar in Minnesota mit 18 Prozentpunkten Vorsprung vor
       einem Gegenkandidaten aus der Parteimitte. Er hatte die Unterstützung des
       Parteiapparats und einen Etat von 6 Millionen Dollar. Da alle vier Frauen
       in sicheren demokratischen Wahlkreisen antreten, steht ihre Wiederwahl im
       November so gut wie fest. Klar ist auch, dass sie Verstärkung bekommen
       werden.
       
       Zum Beispiel von Cori Bush aus Missouri. Die schwarze Krankenschwester ist
       bei den Protesten nach den tödlichen Polizeischüssen [18][auf den
       unbewaffneten Teenager Michael Brown im Sommer 2014 in Ferguson] zur
       Aktivistin geworden. Bei den Primaries in diesem Jahr hat sie gegen einen
       demokratischen Zentristen gewonnen, der den Wahlkreis vor 20 Jahren von
       seinem Vater übernommen hatte.
       
       Dave Lippman macht dagegen bei der Kampagne für Biden und Harris mit. „Mit
       ihnen“, begründet er, „haben wir immerhin noch eine gewisse Macht. Wir
       können demonstrieren, vor Gericht ziehen und wählen. Mit Trump wird das
       alles schwinden.“ Lippman betrachtet Harris als ein „politisches Tier“ und
       eine Opportunistin: „Sie manövriert für ihre Karriere und sie folgt den
       Stimmungen im Land.“ Das meint der Liedermacher nicht nur negativ. Es
       beinhaltet die Möglichkeit, die Positionen der Politikerin mit Kampagnen zu
       verändern. Schließlich hätten auch Franklin Delano Roosevelt, Bobby Kennedy
       und Martin Luther King als Moderate angefangen, „bevor die Basis sie nach
       links gedrängt hat“.
       
       Nach dem Tod von [19][George Floyd] ist Lippman in diesem Sommer mit jungen
       Black-Lives-Matter-Aktivisten in New York auf die Straße gegangen. „Die
       weiße Vorherrschaft muss aufhören“, sagt er. Er trug Maske, hielt zwei
       Meter Sicherheitsabstand und machte anschließend einen Coronatest, der
       negativ ausfiel.
       
       Außerdem schreibt Lippman Postkarten, um Biden zu unterstützen. Die Gruppe
       „Swing Left“ will bis zu den Wahlen 10 Millionen Postkarten an unschlüssige
       Wähler in „Swing-Staaten“ verschicken – in Bundesstaaten, die bei den
       letzten Präsidentschaftswahlen republikanisch gewählt haben und von denen
       Swing Left glaubt, dass sie im November demokratisch werden könnten.
       Lippmans Postkarten gehen an zwei verschiedene Gruppen von Wählern, die
       Swing Left ausgewählt hat – eingetragene Demokraten, die bei Wahlen zuletzt
       zu Hause geblieben sind, und ehemalige Gefängnisinsassen in Florida, die
       erst kürzlich das Wahlrecht zurückerhalten haben. Die Postkarten ermuntern
       sie, dieses Recht in Anspruch zu nehmen.
       
       Zusätzlich zu dem Vordruck auf den Karten schreibt Lippman ein paar Worte
       per Hand. Warum wählen wichtig ist. Und was droht, wenn Trump wiedergewählt
       wird. Eine Prognose für den Wahlausgang wagt er nicht. „Wie die meisten
       anderen habe ich mich beim letzten Mal getäuscht“, sagt er, „und dieses Mal
       manipuliert Trump, was das Zeug hält.“
       
       Die USA haben sich in den letzten Jahren verändert. Forderungen, die 2016
       noch radikal erschienen, sind jetzt mehrheitsfähig. Darunter die Anhebung
       des Mindestlohns auf 15 Dollar, eine Krankenversicherung für alle und eine
       höhere Besteuerung von Wohlhabenden. Von Biden stammt keine dieser
       Forderungen. Aber in den letzten Monaten hat er sich in Gesprächen mit
       Warren und Sanders ein wenig auf den linken Parteiflügel zubewegt.
       
       Für den 81-jährigen Herb Boyd war die Entscheidung zwischen seinem
       „progressiven Gewissen“ und seinem „Pragmatismus“ nicht einfach. Aber als
       Ende Februar der afroamerikanische Kongressabgeordnete Jim Clyburn zu Wahl
       von Biden aufruft, folgt Boyd. Eine spektakuläre Serie von Vorwahlsiegen
       beginnt. In dieser Woche kulminiert sie mit dem Parteitag. Boyd, der am New
       Yorker City College in Harlem über Malcolm X lehrt und als freier Autor für
       eine schwarze Wochenzeitung schreibt, fasst das, was Afroamerikaner im
       Süden an Biden schätzen, in einem Wort zusammen: „Obama. Biden hat unter
       einem schwarzen Präsidenten gearbeitet. Das macht ihn besser als alle.“
       Dass Harris ihm bei den schwarzen Wählern zu zusätzlichen Stimmen verhelfen
       kann, glaubt er nicht. Aber er hält es für möglich, dass Biden trotz seiner
       politischen Herkunft nach links rücken wird.
       
       Die in Harlem geborene Afroamerikanerin Nzingha Clarke nennt einen
       weiteren Grund, weshalb Harris die Wahlchancen von Biden nicht unbedingt
       vergrößert. Sie beschreibt die Vizepräsidentschaftskandidatin als „klug,
       fähig und flexibel“. Aber zugleich sieht sie einen Ballast, den sie
       mitbringt „Als Staatsanwältin war sie Teil einer Praxis, die
       unverhältnismäßig viele schwarze Leute verurteilt und letztlich zu der
       Forderung nach Abschaffung der Polizei geführt hat.“
       
       Clarke pendelt zwischen New York, Los Angeles und Marseille in
       Südfrankreich. Sie hat von einer Präsidentin Warren geträumt. Aber nachdem
       Trump die USA so rassistisch und sexistisch aufgemischt habe, erschien es
       ihr klar, dass „nur ein weißer Mann eine Chance gegen ihn hat“. Sie nennt
       Biden „nicht den besten Ausdruck meiner Partei“. Aber sie ist entschlossen,
       ihn zu wählen.
       
       Bis zu George Floyds Tod befürchtete Clarke, dass Trumps Chancen auf eine
       Wiederwahl 50:50 standen – trotz seines Umgangs mit dem Virus. Seither
       beobachtet sie, wie der Präsident zunehmend die Nerven verliert.
       
       Zuletzt hat Nzingha Clarke vor zwölf Jahren während eines demokratischen
       Parteitags am Fernseher geklebt und die Nominierung von Barack Obama
       verfolgt. In diesem Jahr wird sie Joe Biden wählen. Aber während der am
       Donnerstag seine Nominierung mit einer Rede vor dem Parteitag annehmen
       wird, will Clarke mit Black Lives Matter in New York gegen Polizeigewalt
       und Rassismus demonstrieren.
       
       20 Aug 2020
       
       ## LINKS
       
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