# taz.de -- Israel und die Palästinenser: Vergessene Apartheid
       
       > In Israel wird der Begriff Apartheid kontrovers diskutiert.
       > Annexionspläne der Regierung befeuern den Streit. Über die Geschichte
       > einer Debatte.
       
 (IMG) Bild: Ein System von Passierscheinen und Checkpoints: Sicherheitskontrolle zu einer jüdischen Siedlung
       
       Der Koalitionsvertrag der israelischen Regierung ermächtigt
       Ministerpräsident Benjamin Netanjahu, Teile des besetzten Westjordanlands
       dem israelischen Staat einzuverleiben. Im Land geht man davon aus, dass es
       sich dabei um bis zu ein Drittel des Gebiets handeln wird: neben den
       jüdischen Siedlungen auch um das [1][Jordantal], dessen Einverleibung
       Netanjahu bereits während des Wahlkampfs 2019 angekündigt hat. Obwohl wegen
       der Coronakrise derzeit unklar ist, wann der Plan umgesetzt wird, läuft die
       Opposition Sturm. Ein wiederholt angeführter Kritikpunkt ist, dass mit
       einer Annexion der Schritt hin zu einem [2][Apartheidstaat] vollzogen
       würde.
       
       In Israel wird der Terminus Apartheid als Kampfbegriff heute vor allem im
       linken und arabischen Sektor ins Feld geführt. So stammten die beiden
       bislang beispiellosen Misstrauensanträge im Parlament, in denen im Juni vor
       einem Apartheidsystem gewarnt wurde, von der kleinen linken Meretz-Partei
       und der arabisch dominierten Vereinten Liste.
       
       Deren Vorsitzender, der israelisch-arabische Politiker Ayman Odeh, berief
       sich in der Knessetdebatte auf den kurz zuvor verstorbenen israelischen
       [3][Faschismusforscher Zeev Sternhell]. Dieser hatte 2015 [4][in der
       linksliberalen Tageszeitung Ha’aretz geschrieben]: „Die Besatzung ist der
       Grund für den Krieg mit den Palästinensern. Solange die jüdische
       Gesellschaft die Gleichberechtigung des anderen Volkes, das im Land lebt,
       nicht anerkennt, wird sie immer tiefer in der kolonialen Realität und der
       offenen Apartheid versinken.“
       
       Dass beide Misstrauensanträge scheiterten, ist nicht allein den
       Mehrheitsverhältnissen in der Knesset geschuldet. Es liegt auch daran, dass
       die Befürworter der Besatzung den Warnern vor Apartheid das
       Totschlagargument entgegenhalten, die israelische Kontrolle über „Judäa und
       Samaria“, wie das Westjordanland genannt wird, sei nie vergleichbar gewesen
       mit dem auf Rassendiskriminierung basierenden einstigen System Südafrikas.
       
       ## Segregation von der Mehrheitsgesellschaft
       
       Die Auseinandersetzung mit Apartheidanalogien hat im israelischen Diskurs
       eine längere, heute teils vergessene Geschichte und war stets von
       Ambivalenzen geprägt. Zwar hatte sich Israel früh der internationalen
       Kritik am südafrikanischen Regime angeschlossen, aber die Palästinenser,
       die im arabisch-israelischen Krieg von 1948 nicht vertrieben worden oder
       geflohen waren, lebten in Israel noch knapp zwei Jahrzehnte später unter
       Bedingungen, die teilweise den südafrikanischen ähnelten.
       
       Die meisten der auf israelischem Gebiet verbliebenen Palästinenser waren
       einer repressiven Militärverwaltung unterstellt, die bis 1966 andauerte.
       Ihre Entrechtung, vor allem auch ihre weitgehende Segregation von der
       jüdischen Mehrheitsgesellschaft, wies Parallelen zu den Zuständen in
       Südafrika auf. Deshalb wurde gegen Israel bereits damals der
       Apartheidvorwurf erhoben – so etwa 1961 von dem palästinensischen Politiker
       Ahmad al-Schukeiri, dem späteren ersten Vorsitzenden der 1964 gegründeten
       Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO).
       
       Israel wies die Kritik, die bald auch vonseiten arabischer Staaten geäußert
       wurde, mit dem Argument vehement zurück, dass die Kontrolle über die
       Palästinenser nicht rassistisch motiviert sei, sondern der Sicherheit des
       israelischen Staates diene. Man griff – [5][nicht unähnlich zu heute] – bei
       der Abwehr gelegentlich auch zum Antisemitismusvorwurf und betonte, dass
       die Juden im Laufe der Geschichte selbst Opfer von Apartheid gewesen seien.
       Mit solchen Argumenten wurde auch die Kritik aus Reihen der israelischen –
       gemischt jüdisch-arabischen – kommunistischen Partei übertönt, die die
       Methoden der Militärverwaltung als apartheidähnlich verurteilte.
       
       Die offizielle Abschaffung der Militärverwaltung 1966 brachte den
       Palästinensern kaum Erleichterung, wurden sie fortan von Polizei und
       Inlandsgeheimdienst streng kontrolliert, auch nachdem ihnen 1968 gestattet
       wurde, sich im gesamten Land frei zu bewegen. Zwar hatten auch die
       Palästinenser im Westjordanland und Gazastreifen, die im Sechstagekrieg
       1967 unter israelische Militärkontrolle gerieten, unbeschränkte
       Bewegungsfreiheit – jedenfalls bis 1991. Seither schränkte ein System von
       Passierscheinen, Checkpoints und Verboten zur Nutzung von Israelis
       vorbehaltenen Straßen ihre Mobilität sukzessive ein. Aber diese
       Palästinensergebiete standen von Anfang an unter einer Militärbesatzung,
       deren Rahmenbedingungen sich im Westjordanland bis heute kaum geändert
       haben.
       
       Die 1981 eingerichtete israelische „Zivilverwaltung“ ist nach wie vor der
       Armee unterstellt. Sie hat die Rechte der dort lebenden Palästinenser, die
       auch nach 1967 weiter jordanischem beziehungsweise – im Gazastreifen –
       ägyptischem Recht unterstanden, immer weiter beschnitten, während für
       zugezogene jüdische Siedler die weit liberaleren israelischen Gesetze
       gelten. Und wie bis 1966 im israelischen Kerngebiet unterliegen die
       Palästinenser in den besetzten Gebieten im Westjordanland anders als die
       Siedler bis heute der Militärgerichtsbarkeit.
       
       ## Anti-Apartheidskonvention der UNO
       
       Diese Verhältnisse konnten noch konkreter mit Apartheidvorwürfen
       angeprangert werden, nachdem die Vereinten Nationen 1973 die
       [6][Internationale Konvention über die Bekämpfung und Bestrafung des
       Verbrechens der Apartheid] verabschiedet hatten, die 1976 in Kraft trat,
       der aber weder Israel noch übrigens die Bundesrepublik Deutschland
       beigetreten sind. Auch wenn die Konvention auf Südafrika Bezug nahm,
       beschrieb sie unabhängig davon Apartheid als eine Reihe
       völkerrechtswidriger Maßnahmen, die darauf abzielten, die Herrschaft einer
       „rassischen Gruppe“ über eine andere aufrechtzuerhalten und sie
       systematisch zu unterdrücken.
       
       Etliche dieser Maßnahmen, die in Artikel 2 aufgezählt werden, trafen und
       treffen auf die besetzten Gebiete zu. So können die in der Konvention
       angeprangerten „willkürlichen“ Verhaftungen ohne Weiteres erfolgen, weil
       die Besatzungssoldaten Palästinenser ohne Haftbefehl festnehmen dürfen.
       Auch gestattet das duale Rechtssystem mit dazugekommenen
       Militärverordnungen die ebenfalls als Apartheidverbrechen eingestufte
       „Enteignung von Besitz“, von der Palästinenser vor allem in Form von
       Bodenkonfiszierung betroffen sind. Hinzu kommt die von der UN-Konvention
       verurteilte Verweigerung des Rechts auf freie Meinungsäußerung sowie – auch
       dies trifft im weitesten Sinne auf das israelische Besatzungsregime zu –
       die „vorsätzliche Schaffung von Bedingungen, welche die volle Entwicklung“
       der unterdrückten Gruppe verhindern.
       
       Nach dem Inkrafttreten der Konvention wurden in Israel Warnungen vor einem
       „jüdischen Apartheidstaat“ nicht nur im äußersten linken Lager laut. Als
       Ministerpräsident und Likud-Chef Menachem Begin im Rahmen der
       Friedensverhandlungen mit Ägypten 1977 seinen „Autonomieplan“ für die
       Palästinenser der Knesset zur Abstimmung vorlegte, begründete er ihn auch
       mit den Worten: „Wir wollten niemals wie Rhodesien werden.“ Allerdings
       verweigerte Begins Plan den Palästinensern das Recht auf nationale
       Selbstbestimmung, weshalb er von arabischer Seite abgelehnt wurde.
       
       Begins Äußerung entsprach jedoch keineswegs der damaligen Haltung der
       israelischen Rechten. Nur wenige Jahre später konstatierte der israelische
       Journalist Yoram Peri in der linksorientierten Zeitung Davar, dass
       Ultranationalisten neuerdings offen zur Einführung eines Apartheidsystems
       in den besetzten Gebieten aufriefen – was er sich damit erklärte, dass auf
       die Erinnerung an die Schoah zurückzuführende Hemmungen gefallen seien.
       
       ## Netanjahu dreht den Spieß um
       
       Unverblümt rassistische Apartheidparolen waren in Israel jedoch nur
       vorübergehend zu hören, begann man doch schon bald, anstelle von Apartheid
       (Afrikaans: Getrenntheit) den weniger belasteten hebräischen Begriff
       Hafrada (Trennung) zu verwenden. Für die Apologeten der Besatzung ist eine
       ethnische und räumliche – nicht aber staatsterritoriale – „Trennung“ der
       Garant schlechthin für die Bewahrung ihrer eigenen Sicherheit als
       Okkupanten.
       
       Wenn sie auf Apartheidvorwürfe der Opposition überhaupt eingehen, drehen
       sie den Spieß allzu gern um: „Die wahre Apartheid“, [7][sagte Netanjahu]
       schon 2016 in einer Sitzung eines Knessetausschusses, „ist die ethnische
       Säuberung, die die Palästinenser an den Israelis begehen wollen.“ Ähnlich
       [8][zog David Amsalem], Likud-Minister für Digitales und für die
       Zusammenarbeit zwischen Regierung und Knesset, im Juni gegen die erwähnten
       Misstrauensanträge zu Felde: Apartheid betreibe die Palästinensische
       Autonomiebehörde selbst, dürften doch Israelis ihre Gebiete nicht frei
       betreten.
       
       Diese Strategie der Verleugnung versucht die im Mai von der früheren
       Meretz-Vorsitzenden Zehava Gal-On gegründete Organisation Zulat (Mitmensch)
       jetzt zu entlarven. In einem auch auf Englisch im Juni veröffentlichten
       Bericht mit dem Titel [9][„Whitewashing Apartheid“] wird nicht nur an die
       auch in Israel heute wenig bekannte Anti-Apartheids-Konvention der UN
       erinnert und aufgezeigt, dass etliche der darin verurteilten Verbrechen mit
       den Besatzungspraktiken gleichzusetzen sind.
       
       Zulat macht auch auf die rhetorischen Verschleierungstaktiken der Regierung
       und ihr nahestehender Medien aufmerksam. Deren bevorzugter Euphemismus, der
       sich auch im Regierungsprogramm findet, lautet „Implementierung der
       Souveränität“, womit die Anwendung israelischen Rechts auf die zur
       Einverleibung vorgesehenen Palästinensergebiete gemeint ist. Sprich:
       Annexion.
       
       5 Aug 2020
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Vor-der-Wahl-in-Israel/!5664095
 (DIR) [2] /Palaestinensischer-Politiker-ueber-Nahost/!5609268
 (DIR) [3] /Zum-Tod-von-Zeev-Sternhell/!5696405
 (DIR) [4] https://www.rosalux.org.il/die-eroberung-endete-1948/
 (DIR) [5] /Moshe-Zimmermann-ueber-Israel-Kritik/!5561349
 (DIR) [6] http://www.un.org/Depts/german/uebereinkommen/ar3068.pdf
 (DIR) [7] https://main.knesset.gov.il/Activity/committees/StateControl/News/pages/%D7%91%D7%A7%D7%A8%D7%95%D7%91-%D7%99%D7%9E%D7%95%D7%A0%D7%95-%D7%A9%D7%A8%D7%99%D7%9D-%D7%97%D7%93%D7%A9%D7%99%D7%9D-25.7.16.aspx
 (DIR) [8] https://www.srugim.co.il/463693-%D7%90%D7%9E%D7%A1%D7%9C%D7%9D-%D7%94%D7%90%D7%A4%D7%A8%D7%98%D7%94%D7%99%D7%99%D7%93-%D7%9E%D7%AA%D7%A7%D7%99%D7%99%D7%9D-%D7%91%D7%A8%D7%A9%D7%95%D7%AA-%D7%94%D7%A4%D7%9C%D7%A1%D7%98%D7%99%D7%A0
 (DIR) [9] https://www.docdroid.net/EdYCqxF/whitewashing-apartheid-zulat-report-june-2020-pdf#page=2
       
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