# taz.de -- Die steile These: Urlaubsreisen sind überbewertet
       
       > Die Menschen glauben, dass sie reisen müssen, um zu sein. Ein Irrtum,
       > gerade in Zeiten der Pandemie. Daheimbleiben bietet hingegen Offenbarung.
       
 (IMG) Bild: Mit den „schönsten Wochen des Jahres“ ist der Urlaub gemeint und der ist zur Ware verkommen
       
       Was ist mir von Bangkok in Erinnerung geblieben? Die hohen Fußgängerbrücken
       über schlimm befahrene vielspurige Straßen.
       
       Was von Athen? Das Hotelwaschbecken, in dem alle Klamotten ausgewaschen
       werden mussten, weil auf dem Flug das braune Tiroler Nussöl, ein
       Sonnenschutzmittel, im Koffer auslief.
       
       Was fällt mir bei London ein? Die Wand voller Cornflakes im
       Sainsbury’s-Supermarkt – ein Kulturschock.
       
       Als ich vor den Regalen im Supermarkt stand, habe ich kapiert: Freiheit ist
       die Wahl zwischen dem, was die Warenwelt mir bietet. In London habe ich
       immerhin drei Jahre gelebt. Da hätte mir spontan auch etwas anderes
       einfallen können.
       
       Wie auch immer, für diese Welterfahrungen hätte ich nicht wegfahren müssen.
       Die Reisen sind schon lange her, aber die Frage, was vom Reisen bleibt
       außer Anekdoten, die bestenfalls für Smalltalk taugen, wird immer
       drängender. Gerade jetzt, wenn es keine Reisen gibt ohne Fragen nach dem
       Infektionsrisiko.
       
       Es gibt Leute, die unstet sind, die an keinem Ort lange bleiben können.
       Leute, die sich und die Welt nur spüren, wenn sie in Bewegung sind.
       Unglückliche eigentlich, wenn man Olga Tokarczuk, der Nobelpreisträgerin
       2018 folgt, die ein Buch geschrieben hat, das „Unrast“ heißt. Darin spricht
       eine getriebene Ich-Erzählerin, eine, die sich verorten will und für die
       alle Verortung doch nur Vorwand ist, um weiterzugehen. Solche Leute machen
       keine Urlaubsreisen, sie sind Suchende, die nie das finden, dem sie auf der
       Spur sind.
       
       Die Eltern dieses von Unrast getriebenen, erzählenden Ichs im Roman dagegen
       machen genau das, was erwartet wird: Sie machen jeden Sommer eine Reise,
       und es ist mehr Pflichterfüllung als Begehren. Für zwei, drei Wochen wird
       losgezogen. Das Ziel: wieder heimzukehren; erst zu Hause sind sie
       glücklich. Die Eltern des erzählenden Ich sitzen einem Irrtum auf. Sie
       meinen, dass sie verreisen müssen.
       
       ## Ein Irrtum, der sich durchgesetzt hat
       
       Dieser Irrtum hat sich durchgesetzt und kommt als Selbstverständlichkeit
       daher, wie früher die Annahme, man müsse sonntags in die Kirche. Der Irrtum
       ist eine Glaubenssache, und das ist wichtig, denn eine Riesenindustrie
       hängt daran, die Tourismusbranche, und der nutzt es, wenn die Notwendigkeit
       des Reisens ein Dogma ist. Dogmen haben einen normativen Wahrheitsanspruch.
       Dahinter muss man nicht zurück. Das wird angesichts einer durch
       Urlaubsreisen gefördeten zweiten Coronawelle gerade zum Problem.
       
       Wer die superlativlastige Wortkombination „die schönsten Wochen des Jahres“
       in einer Suchmaschine im Netz eingibt, bekommt Hinweise, die belegen, dass
       die Phrase synonym und unwidersprochen für Urlaubsreise benutzt wird. Wer
       will da Einhalt gebieten, wenn es doch die schönste Zeit ist? Die Hinweise
       im Netz bestätigen aber auch den Warencharakter des Reisens.
       
       Auf tourismusanalyse.de, wo der Reisemarkt 2019 unter die Lupe genommen
       wurde, steht: „Singles und Jungsenioren ließen sich [1][die schönsten
       Wochen des Jahres] etwas kosten.“
       
       Der Deutschlandfunk informiert über Rechtsfragen im Urlaub: „Paragrafen für
       [2][die schönsten Wochen des Jahres]“.
       
       Die Spardabank hilft bei der Finanzierung: „Genießen Sie [3][die schönsten
       Wochen des Jahres] mit SpardaCleverReisen“,
       
       Der Stern wiederum fragte coronabedingt im März 2020: „Müssen [4][die
       schönsten Wochen des Jahres] in diesem Jahr ausfallen?“ Nein, wie man
       sieht.
       
       Es sind nur Beispiele, sie lassen sich beliebig fortsetzen. Die Frage aber,
       woher man wissen will, dass es „die schönsten Wochen des Jahres“ sind, wird
       weder gestellt noch beantwortet. Darum geht es auch nicht, denn einzig der
       Konsum von Reisen ist das Muss. Dass das so hingenommen wird, daran zeigt
       sich die Manipulierbarkeit der Menschen. Bilder von blauem Himmel, blauen
       Bergen, blauem Wasser, uniformen Palmen und Sonnenschirmen sind die Ikonen
       der Moderne.
       
       „[5][Urlaub ist also längst eine Ware?]“, fragte die SZ schon vor zehn
       Jahren den Psychologen und Dozenten für Tourismuswissenschaft Jürgen
       Kagelmann. Und der antwortete: „Ja, denn er wird häufig gekauft wie eine
       Packung Müsli oder eine Dose Cola.“ Am Anfang der Coronakrise [6][glaubte
       Kagelmann noch], dass das Virus das Reisen nachhaltig verändern werde, dass
       es weniger und teurer werde. Die aktuellen Bilder aus Mallorca oder vom
       Wolfgangsee sprechen dagegen. Urlaubsreisen sind so wichtig, dass in Kauf
       genommen wird, dass die Zahl der Infizierten – und damit die
       gesellschaftlichen Folgekosten – wieder steigen.
       
       „Reiseglück“ ist ein weiteres Wort mit interessanter Genese. Vermutlich
       einst einfach Beschreibung, hört es sich beim Tourismusforscher Horst
       Opaschowski kürzlich im Merkur nach kausalem Zusammenhang an: „[7][Reisen
       ist die populärste Form von Glück]“.
       
       In seiner Erklärung, warum Reisen notwendige Glückserfüllung sei, verweist
       er auf den Philosophen Blaise Pascal, der im 17. Jahrhundert lebte und
       gesagt haben soll, alles Unglück sei darauf zurückzuführen, dass die Leute
       nicht still in ihrem Zimmer sitzen können.
       
       Mit dieser Pascal’schen Beobachtung die Notwendigkeit des Reisens zu
       begründen, ist bizarr. Weshalb sollen die Leute im Zimmer hocken, als wäre
       es eine Zelle? Sie sollen rausgehen, aber nicht aus idiotischem
       Konsumbedürfnis und wider jede gesellschaftliche Vernunft bis ans andere
       Ende der Welt.
       
       ## Welterfahrung im Kleinen
       
       Es gibt einen Weg, mit dem die Zwangsläufigkeit des Reisens durchbrochen
       werden kann: Man muss sich den Daheimbleibenden zuwenden. Sie suchen die
       Welterfahrung im Kleinen, sehen das Neue im Bekannten, finden, „[8][Jedes
       Buch ist besser als Urlaub]“, wie Sigrid Grajek, Schauspielerin, Comedian,
       Nichtreisende, mir auf Twitter schrieb.
       
       Dableibende wie sie stellen die Anstrengung, die Reisen bedeutet, infrage.
       Denn auf der Suche nach Erfüllung vergeht Lebenszeit an Check-ins und
       Rezeptionen, in Hotelzimmern, an Schnellstraßen und Tankstellen, in
       Bahnhöfen und Transithallen. Die Dableibenden machen das nicht mit, und ich
       habe schon lange auch keine Lust mehr darauf. Gern allerdings gehe ich
       dahin, wo Freunde sind.
       
       Der portugiesische Dichter Fernando Pessoa soll ein großer Daheimbleiber
       gewesen sein. Er hat darüber geschrieben, dass das Leben das sei, was wir
       daraus machen. „Die Reisen sind die Reisenden. Was wir sehen, ist nicht,
       was wir sehen, sondern was wir sind.“ Sein bekanntestes Buch heißt: „Das
       Buch der Unruhe“. Hier ein Zitat daraus:
       
       „Reisen? Existieren ist reisen genug. Ich fahre von Tag zu Tag wie von
       Bahnhof zu Bahnhof im Zug meines Körpers oder meines Schicksals und blicke
       auf Straßen und Plätze, auf Gesichter und Gesten, immer gleich und immer
       verschieden, wie auch Landschaften es sind.
       
       Was ich mir vorstelle, sehe ich. Was anders tue ich, wenn ich reise? Nur
       eine äußerst schwache Vorstellungskraft rechtfertigt einen Ortswechsel, um
       empfinden zu können.“
       
       Niemals hätte ich das so schön sagen können. Aber jetzt sind mir doch noch
       zwei Erinnerungen gekommen: In Thailand bin ich im Linienbus den Mekong
       entlang an der Schulter eines mir unbekannten Menschen eingeschlafen.
       
       Und im Londoner Vorortzug, es war in einem Winter vor über dreißig Jahren,
       habe ich mit eiskalten Händen, ohne hinzuschauen, nach einem Haltegriff
       über mir gegriffen. Meine Hände so steif, dass ich nicht merkte, dass ich
       das Handgelenk eines Menschen umfasste. Er hielt still. Es war etwas wie
       Liebe.
       
       1 Aug 2020
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] http://www.tourismusanalyse.de/zahlen/daten/statistik/tourismus-urlaub-reisen/2020/reisekosten-2019/
 (DIR) [2] https://www.deutschlandfunk.de/reiserecht-paragrafen-fuer-die-schoensten-wochen-des-jahres.772.de.html?dram%3Aarticle_id=450636
 (DIR) [3] https://www.spardawelt.de/vorteilswelt/cleverreisen.html
 (DIR) [4] https://www.stern.de/reise/service/was-wird-aus-den-schoensten-wochen-des-jahres--vom-ende-der-reisefreiheit---voruebergehend-9183238.html
 (DIR) [5] https://www.sueddeutsche.de/reise/zur-soziologie-des-tourismus-reisen-werden-gekauft-wie-muesli-1.594610
 (DIR) [6] https://www.deutschlandfunkkultur.de/psychologe-juergen-kagelmann-warum-corona-urlaubsreisen.1008.de.html?dram%3Aarticle_id=476957
 (DIR) [7] https://www.merkur.de/reise/was-uns-fehlt-wenn-wir-nicht-mehr-reisen-koennen-zr-13611332.html
 (DIR) [8] https://twitter.com/waltraudschwab/status/1288163014735278080
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Waltraud Schwab
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Schwerpunkt Coronavirus
 (DIR) Reisen
 (DIR) Freizeit
 (DIR) Konsumkritik
 (DIR) Schwerpunkt Coronavirus
 (DIR) IG
 (DIR) Reisen
 (DIR) Schwimmen lernen
 (DIR) Schwerpunkt Coronavirus
 (DIR) Schwerpunkt Coronavirus
 (DIR) Marokko
 (DIR) Schwerpunkt Coronavirus
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) /!6017666
       
       Dieser Text wurde depubliziert.
       
 (DIR) Weniger Kurse wegen Corona: „Land der Nichtschwimmer“
       
       Als die Bäder in der Coronakrise schließen mussten, entfielen auch die
       Schwimmkurse. Die DLRG warnt vor einem Nichtschwimmer-Jahrgang.
       
 (DIR) Überprüfung von Corona-Maßnahmen: Keine Zahlen vom Ministerium
       
       War es angemessen, die Reisefreiheit drei Monate lang drastisch
       einzuschränken? Die Bundesregierung hat wohl nie versucht, das
       herauszufinden.
       
 (DIR) Corona in Deutschland: Noch keine Panik
       
       Bislang kam Deutschland relativ gut durch die Pandemie, doch jetzt gibt es
       wieder mehr Corona-Infektionen. Sind wir für eine zweite Welle gerüstet?
       
 (DIR) Corona in Marokko: Neuer Lockdown vor dem Opferfest
       
       In Marokko erreichen die Corona-Infektionen neue Rekordwerte. Die Regierung
       riegelt ohne Vorwarnung acht große Städte ab.
       
 (DIR) Urlaub in Zeiten der Corona-Pandemie: Die zweite Welle droht
       
       In den spanischen Touristenzentren steigen die Corona-Zahlen dramatisch an.
       Erste Länder haben für Spanien-Rückkehrer Quarantäne angeordnet.