# taz.de -- Interview mit Ranga Yogeshwar: „Angst hat eine Halbwertszeit“
       
       > Der Wissenschaftsjournalist erklärt, warum Menschen sich die
       > Corona-Wirklichkeit lieber so zurechtbiegen, dass sie ihnen erträglich
       > scheint.
       
 (IMG) Bild: Ein Selfie im Fahrstuhl
       
       taz am wochenende: Herr Yogeshwar, aktuell kursieren zur Coronapandemie
       viele Verschwörungstheorien. Die Historikerin Hedwig Richter sagte
       kürzlich, dass Menschen besonders anfällig dafür seien, wenn sie sich nicht
       gut mit dem Gegebenen arrangieren können. Stimmen Sie zu? 
       
       Ranga Yogeshwar: Ich glaube, dass es ein Grundrauschen von
       [1][Verschwörungstheorien] gibt. Das gibt es ständig. Die Frage ist: Wie
       ändert sich die Rezeptionskultur im Bezug auf solche Verschwörungstheorien?
       Und die ist situativ abhängig von einer Stimmungs- oder Bedürfnislage des
       Rezipienten – sprich: von uns. In dem Moment, in dem wir mit der
       offiziellen Meinung nicht klarkommen oder wo uns Verschwörungstheorien im
       Grunde genommen in einem tiefen Bedürfnis nach Erklärungen bestärken, sind
       wir eher bereit, zumindest hinzuhören und sie mitunter zu akzeptieren.
       
       Dieses Bedürfnis scheint gerade stark zu sein. 
       
       Wir erleben im Moment extrem drastische Maßnahmen, müssen sie in Kauf
       nehmen, wenn man das auch mal grundrechtlich betrachtet, für ein Risiko,
       das gefühlt eher abstrakt und klein ist. Vor diesem Hintergrund wirkt das
       Ganze für uns ein bisschen abstrakt, zumal draußen schönes Wetter ist, der
       Mai steht in der Blüte. Das führt zu einem Paradoxon: Dass wir nämlich eine
       Gefahr nicht rational, sondern emotional wahrnehmen oder nicht wahrnehmen.
       Diese Diskrepanz haben wir überall. Niemand hat Angst vor einer
       Haushaltsleiter, auch wenn sie eigentlich der Killer in Haushalten ist,
       wenn man sich die [2][Statistik] anguckt.
       
       Alles scheint momentan im Niedergang zu sein, aber mit der Debatte über
       sogenannte Lockerungen füllen sich die Straßenbilder wieder, überall,
       besonders aber in Berlin. Womit hat das zu tun – die Pandemie ist ja nicht
       vorüber? 
       
       Ich habe mir die Mobilitätsdaten der vergangenen Wochen angeschaut. Was man
       dann sieht: Wir haben quasi die erste Phase gehabt, als die ersten
       Nachrichten über Covid-19 kamen. Mit den Bildern aus Italien ging diese
       Mobilitätskurve dramatisch nach unten. Das war diese Phase, in der es noch
       keine Kontaktsperre gab, wo aber einfach die Bilder übers Fernsehen dazu
       führten, dass wir alle Angst bekamen. Die Städte waren bereits Mitte März
       wirklich leer, obwohl es noch keine Kontaktsperre gab. Nachdem diese
       Kontaktsperre ganz offiziell verkündet wurde, das ist das Interessante,
       ging dies fast mit einem Schwinden der Angst einher. Und was man dann
       sieht, ist, dass mit der Kontaktsperre das Mobilitätsverhalten wieder
       hochgeht und wir inzwischen in einem Zustand sind, der sich immer mehr
       einer Normalität – auch wenn wir das vielleicht gar nicht so sehr glauben –
       nähert. Das heißt: Das Motiv allen Handelns ist Angst. Und diese Angst hat
       immer eine Halbwertszeit.
       
       Was meinen Sie damit? 
       
       Wir können nicht jeden Morgen aufstehen und diese Panik, diese Angst haben.
       Irgendwann gewöhnt man sich dran, und diese Gewöhnung führt dazu, dass eine
       gewisse Nachlässigkeit beginnt. Das beobachtet man eigentlich immer. Wenn
       Menschen mit Maschinen arbeiten, die gefährlich sind. Ich habe zum Beispiel
       in dieser Phase viel Zeit in meiner Werkstatt verbracht. Ich besitze eine
       Tischkreissäge, und es gibt in Deutschland, glaube ich, etwa 5.000 Unfälle
       jedes Jahr mit Kreissägen. Die betreffen nicht Menschen, die eine solche
       Säge zum ersten Mal verwenden, sondern solche, die in ihrer Routine
       irgendwann sagen: Ach, passiert schon nichts, und dann zu nah mit den
       Fingern an das Sägeblatt kommen. Mit der Zeit wächst die Nachlässigkeit,
       und dieser Gewöhnungseffekt, der tritt auch jetzt in Coronazeiten ein.
       Inzwischen gibt es das Gefühl: Es wird schon nichts passieren.
       
       Die Bilder, die wir jetzt sehen, sind solche des freudigen Ausschwärmens
       nach dem Ausgangsverbot: in China, Italien, Spanien … Nun wagen sich die
       Menschen wieder aus ihren Gehäusen, oder? 
       
       Dieses Phänomen des Einigelns kennen wir sogar ganz individuell. Wenn
       irgendetwas passiert, sieht man, wie Menschen, die plötzlich Angst haben,
       sich in eine sich selbst schützende Körperhaltung zurückziehen. Sie sehen
       es sogar auf nationaler Basis, wo Nationen ganz schnell Grenzen zumachen –
       in der Annahme, dass die Gefahr von außen kommt. Aber dann gibt es
       irgendwann dieses relaxing auf der individuellen Ebene. In dieser Phase
       befinden wir uns. Wir haben eben ein tiefes Bedürfnis nach Normalität, nach
       Gemeinsamkeit. Soziale Kontakte sind kein Luxus, sie sind etwas sehr
       Elementares! Wir erleben derzeit einen wunderbaren Mai, und ich frage mich:
       Was machen junge Leute, die sich im Frühjahr verlieben sollten, wenn sie
       jetzt ständig mit Abstandspflicht und Mundschutz unterwegs sind? Das ist
       kein guter Frühling für Liebhaber.
       
       Es gibt offenbar starke Bedürfnisse, und die zu befriedigen soll wieder
       möglich werden. 
       
       Das ist verständlich. Aber das Absurde dabei ist, dass es eben auch die
       rationale Ebene gibt, die einem ganz klar sagt: Du musst aufpassen, musst
       dich schützen und darfst dich nicht anstecken. Wir erleben somit eine
       Dissonanz zwischen dem Verstand und dem Herzen. Und auch die ist
       altbegründet. Goethe schrieb irgendwann mal einen wunderbaren Satz, der
       besagte: „Aber ganz abscheulich ist’s, auf dem Weg der Liebe Schlangen zu
       fürchten unter den Rosen der Lust, wenn im schönsten Moment der sich
       hingebenden Freude deinem sinkenden Haupt lispelnde Sorge sich naht.“ Er
       fürchtete die Syphilis. Genau das: Wenn im schönsten Moment lispelnde
       Sorge, hier wäre es die virale Sorge, dem sinkenden Haupt naht. Wenn man
       genau in sich hinein fühlt, merkt man: Andere Menschen, Bekannte, Freunde
       werden zur latenten Gefahr. Der Kontakt mit ihnen ist gleichermaßen
       anziehend wie gefährlich. Man sieht die Schwiegermutter oder Freunde
       irgendwo in der Stadt, möchte sie eigentlich umarmen, und dann kommt dieses
       Memento, dass sie vielleicht doch genau die Überträger sein könnten. Das
       nervt, und irgendwann halten wir diese Dissonanz nicht mehr aus.
       
       Wir werden uns irgendwann wieder zu umarmen beginnen. 
       
       Das will ich schwer hoffen! Das sollten wir auch irgendwann. Aber momentan
       ist es eben so, dass wir noch an dieser Minimierung der Ausbreitung des
       Virus arbeiten müssen. Was mich dabei wirklich anfasst, ist, dass wir uns
       in Deutschland, vielleicht sogar in Europa, im Grunde genommen weit weniger
       gut verhalten als zum Beispiel in südostasiatischen Ländern.
       
       Sie meinen Taiwan, China oder Südkorea. 
       
       Diese Länder nutzen zudem eine App, um in der Pandemie mögliche Infizierte
       rasch zu erkennen.
       
       Nun gab es an einer App, einer, die Daten zentral speichert, massive
       Kritik. 
       
       Inzwischen fange ich an, rotzig zu werden. Da reden wir über ein ungelegtes
       Ei. Bis heute existiert hierzulande keine funktionierende [3][App]. Da
       offenbart sich, dass wir in Sachen Digitalisierung ziemlich rückständig
       sind, und wir vernebeln unsere technische Unfähigkeit mit einer Diskussion
       über Datenschutz. Es muss langsam ein Bewusstsein wachsen, dass wir in
       Deutschland, was diese Techniken angeht, nicht gut aufgestellt sind. Wir
       sind ein digitales Entwicklungsland! Während der Kontaktsperre nutzen wir
       eine Vielzahl digitaler Tools, doch keines dieser Programme stammt aus
       Deutschland. Wir nutzen amerikanische oder chinesische Software. Als
       ehemalige großartige Industrienation sind wir in diesem Bereich schlecht
       aufgestellt. Und wir sind immer noch zu hochnäsig, um einfach mal zu sagen:
       Hey, liebe Südkoreaner, helft uns! Gebt uns doch eure App, wir adaptieren
       die dann für uns.
       
       Die Kritik dreht sich um Datenschutzfragen. 
       
       Ich habe eine sehr hohe Sensibilität, was den Datenschutz betrifft. Es gibt
       jedoch Momente, in denen es auch eine plausible Notwendigkeit des Handelns
       gibt. Wenn wir uns noch einmal diese Kontaktsperre anschauen, ist sie im
       Grunde genommen nicht Ausdruck einer aufgeklärten, vorausschauenden Politik
       gewesen. Die Politik hat am 23. März populistisch gehandelt, weil der
       größte Teil der Menschen, das kann man wie gesagt an den Mobilitätsdaten
       sehen, sich schon zurückgezogen hatte. Und wenn die Politik dann eine
       Kontaktsperre verhängt, handelt sie konform zur existenten Stimmung im
       Land. Hierfür braucht es keine besondere Führungsqualität. Das ist so
       ähnlich, wie wenn das Haus brennt und man den Bewohnern befiehlt, das Haus
       zu verlassen. Im Kern fast überflüssig, da die Menschen es ohnehin tun.
       
       Und jetzt wollen die Menschen wieder raus, in ihre Normalität zurück. Das
       haben Sie auch bei Ihren Recherchen in Fukushima festgestellt: Dass die
       Leute dorthin zurück wollten, obwohl es dort weitflächig jenseits der Wege
       hochkontaminiert ist. War das so eine Art Sehnsucht nach dem, was man die
       alte Ordnung nennen könnte?
       
       Es sind dort drei Dinge passiert, die auch für ein Verständnis dessen, was
       wir momentan erleben, entscheidend sind. Der erste Punkt ist: Die Menschen
       wurden entwurzelt. Betroffen waren viele Dörfer, die nordwestlich der
       Reaktoranlage lagen, die durch den radioaktiven Fallout kontaminiert waren.
       Diese Dörfer und kleinen Städte mussten verlassen werden. Da stehen Häuser,
       da sind Gärten, da sieht man Autos – alles ist da und nicht zerstört. Aber
       kontaminiert. Es war eine furchtbare Situation für die Menschen, denn
       anders als bei einem Brand, wo danach das Haus nicht mehr steht, blieb hier
       alles scheinbar beim Alten. Wie ein Stachel, der sich ständig meldete und
       sagte: Da gibt es immer noch mein Haus, in das ich viele Jahre viel Arbeit
       und Mühe hineingesteckt habe.
       
       Traurig. 
       
       Das Zweite ist, dass die sozialen Vernetzungen dieser Dörfer sich komplett
       auflösten. Freunde und Nachbarn wurden ja auseinandergerissen. Dann gab es
       das ökonomische Argument, es bedurfte nämlich großer Summen, um die
       umgesiedelten Bewohner zu entschädigen. In Japan wurden die Steuern erhöht.
       Und auch die lokale Wirtschaft, Ackerbaubetriebe etwa, wollten zurück. Im
       Kern gab es also von vielen Seiten eine hohe Motivation, zur Normalität
       zurückzukehren.
       
       Fukushima ist ja immer noch nicht frei von Kontamination. 
       
       In der Tat, aber es setzte ein kollektiver Verdrängungsmechanismus ein. Man
       bestärkte sich gegenseitig in dem Ziel, wieder zurückzukehren. Und fing an,
       die Böden abzutragen. Das sind die Bilder, die wir alle gesehen haben, die
       Erde in den schwarzen Säcken. Und dann kehrten die Menschen zurück in ihre
       [4][Heimat].
       
       Und das reicht dann? 
       
       Nein. Ich erinnere mich zum Beispiel an Fukushima-Stadt, da gibt es einen
       Park, und ich habe dort die Radioaktivität mit einem Messgerät überprüft.
       Der Weg selbst war okay. Doch ging man zwei Meter ins Gebüsch, stieg die
       Radioaktivität massiv an. Diese Region ist eben nach wie vor kontaminiert,
       doch das will man nicht mehr wissen. Die Bewohner sagen sich: Wir haben
       doch geputzt und saniert, jetzt dürfen wir auch wieder dahin. Ein
       kollektiver Verdrängungsprozess. Die Menschen kaufen sehr bewusst das Obst
       und Gemüse aus der Region und bestärken sich gegenseitig, dass doch alles
       wieder in Ordnung ist. Ich selbst habe in einem Supermarkt einer
       Genossenschaft Honig gekauft. Honig aus Fukushima. Und bei uns setzt jetzt
       ein ähnlicher Prozess ein.
       
       Inwiefern? 
       
       Wir tragen Masken, vielleicht selbst genäht, und damit legitimieren wir,
       dass Restaurants oder Klamottenläden wieder öffnen. Wir verdrängen die
       latente Gefahr, wollen von ihr nichts mehr hören. Genau wie noch vor
       wenigen Jahren in Japan. Ich erinnere mich noch an die Situation, als ich
       meinem lokalen Begleiter die Daten des Messgeräts zeigte. Hier ist die
       Radioaktivität hoch – und er nickte and that was it. Und so ähnlich läuft
       es auch hierzulande ab. Wir wollen die Zahlen der Pandemie nicht mehr sehen
       und lehnen die Statistiken ab. Das sagen wir nicht direkt, sondern das
       läuft dann über ein tieferes Narrativ.
       
       Und das geht wie? 
       
       Die Leute zweifeln zunehmend an den wissenschaftlichen Fakten: Na ja, es
       gibt ja Zahlen, die sich widersprechen. Oder man sagt: Jeder Virologe
       behauptet etwas anderes. Man relativiert die Opferzahlen. Was tun wir? Wir
       entmündigen die Wissenschaft, damit wir beruhigt wieder in unsere
       Normalität zurückkönnen. Dieser Mechanismus ist Teil des einsetzenden
       Verdrängungsprozesses. Ich verurteile dieses Verhalten nicht, denn es ist
       ein tiefer Mechanismus, den wir Menschen auch aus anderen Situationen
       kennen. Nehmen Sie die Kriege. Es ist unvorstellbar. Wir haben in einem
       Jahrhundert zwei zerstörerische Weltkriege in diesem Land erlebt.
       Normalerweise würde man denken, dass nach dieser Erfahrung nie wieder Krieg
       sein dürfte. Doch inzwischen marschiert Deutschland vor, und die
       Rüstungsexporte steigen.
       
       In Deutschland scheint man fast angststolz darauf, dass an der
       Coronapandemie hierzulande vergleichsweise wenige Menschen gestorben sind. 
       
       Im Kern hatten wir bislang Glück, doch wir interpretieren das als
       besonderen Erfolg und meinen dabei, wir hätten weit besser reagiert als
       andere Länder. Wir fühlen uns als Klassenbester bei der Bewältigung der
       Krise – typisch deutsch. Entweder sind wir ganz schlimm oder wir sind ganz
       toll. Das Dazwischen gibt es nicht. Das sieht man überall. Wo man es
       fulminant erlebte, war während der letzten Fußball-WM. Da wurde das
       deutsche Team am Anfang als der Weltmeister gefeiert. Doch dann, als die
       Mannschaft früh ausschied, waren wir die Allerletzten. Bei Corona ist es
       ähnlich. Wir meinen, dass wir die Besten sind. Der Vergleich ist eine sehr
       deutsche Art, auf die Welt zu blicken: Sind die Klos dort sauberer als die
       Klos in Deutschland? Sind die Supermarktregale voller als anderswo? Sind
       die Mortalitätsraten bei uns niedriger als anderswo? Dabei übersehen wir
       gerne, dass andere Länder womöglich konsequenter handeln. Da wünsche ich
       mir mehr Bescheidenheit hierzulande.
       
       Andere Länder haben ähnliche Maßnahmen ergriffen wie Deutschland – nur oft
       konsequenter. 
       
       Länder wie Taiwan, Südkorea oder Singapur haben die ersten Botschaften aus
       Wuhan korrekt interpretiert und haben frühzeitig einen Shutdown eingeleitet
       und die Grenzen zu China geschlossen. Niemand hat jedoch gesagt: die bösen
       Chinesen. Singapur hat geholfen und aktiv mit den chinesischen
       Institutionen in Wuhan kooperiert. Diese Länder haben sich, finde ich,
       besser und klüger verhalten als wir. Deutschland war da gerade am Anfang
       der Pandemie nicht besonders empathisch. Als in Italien die Fallzahlen
       stiegen, haben wir die Grenzen geschlossen und uns zurückgezogen, anstatt
       sofort den Italienern unsere Hilfe anzubieten. Im Gegenteil, Italien wurde
       stigmatisiert. Wir hätten viel stärker unseren Nachbarn helfen müssen. Die
       Chinesen hingegen haben Italien in dieser Zeit unterstützt.
       
       Was bringt uns die Zukunft? 
       
       Ich hoffe, dass wir bald wieder unsere Grenzen öffnen, weil es zumindest
       aus wissenschaftlicher Sicht völlig absurd war, etwa eine Grenze zwischen
       Deutschland und Luxemburg so lange geschlossen zu halten. Die benachbarten
       Regionen dieser Länder haben kaum noch Infektionen zu verzeichnen.
       
       16 May 2020
       
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