# taz.de -- Interviews zur Soundsystemkultur: Kannst du den Bass fühlen?
       
       > „Bass, Mids, Tops“ ist die Oral History der Soundsystemkultur. In Joe
       > Muggs' Interviews wird die Sozialgeschichte des Nachtlebens greifbar.
       
 (IMG) Bild: Versatile DJ: Shy One aus London. Abbildung aus dem Buch
       
       „If your chest ain’t rattling, it ain’t happening“, das leicht zu
       memorierende Motto der Bassmusik-Clubnacht „Subloaded“ in Bristol sagt auch
       jenseits seines Slogans etwas Substanzielles aus: „Nur wenn dein Brustkorb
       klappert, knallt’s richtig“, erklärt kurz und bündig, dass sich Musik –
       durch Lautsprecherboxen eines Soundsystems verstärkt – direkt auf die
       Körper der TänzerInnen überträgt. Sie hören die Musik nicht nur, sie fühlen
       diese auch.
       
       Wie lässt sich über solche Klangphänomene sprechen? Und – kann man das
       Gesprochene in gedruckter Form adäquat wiedergeben? Man kann, wie der
       britische Journalist Joe Muggs mit dem Buch „Bass, Mids, Tops“ beweist, das
       er zusammen mit dem Fotografen Brian David Stevens verfasst hat. Auf mehr
       als 500 Seiten versammelt Muggs Interviews mit Protagonisten der britischen
       Soundsystemszene, flankiert von Stevens’ Fotos.
       
       Dazu gibt Muggs eine kurze, instruktive Einleitung, stellt die tiefe
       Soundsignatur des Basses ins Zentrum der Betrachtungen und stellt fest,
       dass Soundsystemkultur ähnlich wie Graffiti Raum markiert, der durch Klang
       lebendig gemacht wird. Den Rest erledigen die Leute, die die Musik machen,
       und die, die dazu tanzen.
       
       ## Tableau aus Figuren, Szenen und Musik
       
       Ähnlich den Charakteren einer TV-Serie kommen einem Muggs’
       GesprächspartnerInnen näher, teils kennen sie sich untereinander. Und so
       entspannt sich anhand der Interviews nach und nach ein Tableau aus Figuren,
       Szenen und Musik. Man liest sich hier bereitwillig fest, folgt
       Querverbindungen, forscht nach Tracks und feiert auf Raves (alle
       Begebenheiten werden für die Unkundigen in Fußnoten erläutert). Die 25
       Porträtierten kommen aus allen Schichten und Lebenslagen, Muggs hat im
       richtigen Moment die weiterführenden Fragen, er ist aber nie zu sehr
       Psychologe, er nimmt seine Gegenüber ernst, und diese geben motiviert
       Auskunft, reflektiert, selbstkritisch.
       
       Natürlich ist „Bass, Mids, Tops“ eine Inszenierung, es geht um einen
       eigenen Lebensstil, der zu einem eigenen Slang geführt hat, wie der Autor
       der taz erklärt: „Rinse out (Auswringen) bedeutet im jamaikanischen Patois,
       das Magazin einer Waffe leeren, bis nichts mehr übrig ist. Im britischen
       Jungle bezeichnete Rinse das Prasseln an Beats, aber auch die Häufigkeit,
       wie oft ein Track bei einem Rave gespielt wird.“ Ein weiterer Begriff, der
       immer wieder auf den Seiten von „Bass, Mids, Tops“ vorkommt, ist „string
       up“, die Verkabelung der Boxen des Soundsystems, was ein regelrechtes
       Ritual ist, genau wie das Einnorden des Sounds.
       
       Ein Buch über die Musik des Nachtlebens hat auch die Funktion, flüchtige
       Erinnerungen und Erlebnisse für die Nachwelt festzuhalten. „Bass, Mids,
       Tops“ ist so auch Sozialgeschichte von Englands Jugend. 25 Gespräche
       bedeuten 25 verschiedene Meinungen, bedeuten 25 unterschiedliche
       Perspektiven.
       
       Bekannte GesprächspartnerInnen sind darunter, wie der Dub-Produzent Adrian
       Sherwood und die Sängerin Nicolette, aber auch die eher hinter den Kulissen
       wirkende Radio-DJ Sarah Lockhart und der Rave-Promoter Samrai aus
       Manchester, den höchstens Eingeweihte kennen. Dazu kommt eine Altersspanne
       der Interviewten, die von gerade 20 bis 69 Jahre reicht. Soundsystemkultur
       ist in Großbritannien seit mehr als 50 Jahren Folkart und Pop-Mythos
       zugleich: Tracks, die später prominent in Spotify-Playlists platziert sind,
       werden zuerst bei Soundsystempartys gespielt, wandern von da ins
       Piratenradio und weiter in die Charts.
       
       Was seine Popszene anbelangt, ist Großbritannien das am meisten
       amerikanisierte Land der Welt. Aus US-Kunstformen wie HipHop und House sind
       in England durch die Befruchtung mit der Soundsystemkultur eigenständige
       neue Kunstformen entstanden. In England hat dieser Kreislauf seit den
       Zeiten von Rave unzählige Hybridformen hervorgebracht, von Jungle bis
       Dubstep, von Grime bis UK Garage.
       
       Aus den nicht immer geradlinig verlaufenen Lebensläufen der Protagonisten
       von „Bass, Mids, Tops“ ist weit mehr zu erfahren als nur Insidertalk und
       Star-Klischees. Etwa, wenn der Dubstep-DJ Mala (Mark Lawrence) davon
       spricht, wie er, nachdem er von einem Majorlabel als Künstler
       fallengelassen wurde, plötzlich im Callcenter einer Versicherungsagentur
       gearbeitet hat. Während der Drum-’n’-Bass-Produzent und
       Plattenfirmenbetreiber DJ Krust seine Motivationskünste für Künstler
       irgendwann dazu ummünzte, Seminare als Consultant im Londoner Finanzwesen
       zu geben, und aus der Szene ausstieg.
       
       Den Auftakt macht der heute 69-jährige Produzent und Bassist Dennis Bovell,
       das Finale bestreitet die knapp 20-jährige Londoner DJ Shy One (Mali
       Larrington-Nelson). „Bass, Mids, Tops“ lässt Talente zu Wort kommen, aber
       auch Veteranen, verkannte Künstler genau wie Stars. Chronologisch beginnt
       das Buch mit Dubreggae, Disco und Punk und endet bei UK Garage. Als Ganzes
       ergibt „Bass, Mids, Tops“ somit ein zugleich lebendiges als auch
       geschichtsgesättigtes Pop-Wimmelbild Großbritanniens.
       
       Ursprünglich ist Soundsystem-Kultur auf Jamaika entstanden, das bis 1962
       britische Kolonie war. Mit den karibischen Einwanderern der sogenannten
       „Generation Windrush“, die ab den späten 1940ern nach Großbritannien kamen,
       bürgerte sich auch die Soundsystem-Tradition dort ein. Noch zaghaft
       entstanden in den späten 1960ern in vielen größeren britischen Städten
       Soundsystems und begleiteten die karibischen Karnevalsfeiern. Mitte der
       1970er war das Soundsystem als eine Art mobile Diskothek etabliert und
       rückte durch die Bezugnahme der Punkszene auf Rootsreggae und Dub stärker
       ins Bewusstsein des Landes. Schon im Geleitwort reklamiert der schwarze
       Musiker Mykaell Riley von der Band Steel Pulse Reggae und Soundsystemkultur
       selbstverständlich als „britische Musik“.
       
       Wie Dennis Bovell gehört auch Riley als Kind von karibischen Einwanderern
       zu dieser Ahnenreihe. „Wenn man sich die hybriden Genres ansieht, um die es
       im Buch geht, beruhen sie auf dem Konzept, das der Kulturkritiker Paul
       Gilroy Geselligkeit nennt: die spontane Zusammenkunft von Graswurzelkultur,
       Sound und Slang, die in der Enge der Großstadt entstehen, ob Menschen nun
       Partys feiern, Grillfeste oder Raves“, erklärt Autor Joe Muggs der taz.
       
       „Was den Begriff Multikulturalismus angeht, sehe ich ihn durchaus
       ambivalent, weil ihn konservative Kreise oftmals so definieren, als lebten
       voneinander separierte Kulturen nebeneinander her, was ja die Antithese zu
       meinem Buch ist, denn es zeigt, wie selbstverständlich interkultureller
       Austausch stattfindet und zu welch mannigfaltigen Hybridisierungen es dabei
       kommt. Ich folge eher Paul Gilroy, der überzeugend dargestellt hat, dass
       Multikulturalismus ein Ergebnis der postkolonialen Verwerfungen ist. So
       selbstverständlich, wie die Menschen in einem Buch vom Raven und
       Musikmachen der Soundsystemszene erzählen, wäre es besser, statt von
       Multikulturalismus von Gilroys Definition der gegenseitigen Gewöhnung zu
       sprechen. So habe ich das auch in den Clubs, Raves und Soundsystem-Nächten
       erlebt.“
       
       Da Soundsystemkultur abseits des gesellschaftlichen Mainstreams
       stattfindet, Raves und Partys teils DIY-mäßig organisiert werden, ist die
       Szene vom Corona-Shutdown besonders hart getroffen. Die Lagerhallen sind
       leer. Nur mit Radio und DJ-Mixen lässt sich nicht lange überleben. Bleibt
       zu hoffen, dass dieses Buch kein Dokument einer versunkenen Geschichte
       wird.
       
       6 Apr 2020
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Julian Weber
       
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