# taz.de -- SPD-Vorsitzende über erste 100 Tage: „Keine Große Koalition mehr“
       
       > Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans führen seit 100 Tagen die SPD.
       > Ein Gespräch über Machtoptionen, Gender-Rollen und harte Führung.
       
 (IMG) Bild: Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken
       
       taz am wochenende: Frau Esken, Herr Walter-Borjans, was hat Sie in den
       ersten 100 Tagen als SPD-Vorsitzende überrascht? 
       
       Saskia Esken: Die Relativität der Zeit: Unsere 100-Tage-Schonfrist war nach
       100 Sekunden vorbei, aber in den 100 Tagen bis heute ist so viel passiert,
       dass es in 200 Tagen auch noch ganz schön anspruchsvoll gewesen wäre. Dabei
       standen wir vom ersten Moment an voll im Fokus. Wir hatten die
       mehrheitliche Unterstützung der Mitglieder, aber die des SPD-Establishments
       mussten wir uns erst erarbeiten. Viele haben erwartetet, dass der Parteitag
       den großen Knall bringt. Dass das nicht passiert ist, geht auf unser Konto.
       
       Ist der Widerstand gegen Sie ganz verschwunden? 
       
       Norbert Walter-Borjans: Machen wir uns nichts vor, es gab Skepsis uns
       gegenüber. In der Fraktion haben sich manche gefragt: Was bedeutet das für
       die SPD, aber auch für mich, wenn die Koalition zerbricht? Nach diesen
       ersten 100 Tagen ist klar, dass es zwischen Ministern, Fraktion und Partei
       kein Gegeneinander gibt, sondern Zusammenarbeit und Abstimmung. Die Partei
       spricht manche Positionierung aber anders an als früher.
       
       Es ist relativ ruhig in der SPD. Ist das Ihr Verdienst? 
       
       Esken: Das ist auch unser Verdienst. Aber natürlich wirken da viele
       Beteiligte mit. Manche haben befürchtet, dass kein Stein mehr auf dem
       anderen bleibt, wenn wir Vorsitzende sind. Wir haben eine Balance gefunden
       zwischen der Hoffnung auf Veränderung und dem Bedürfnis nach Kontinuität.
       
       Walter-Borjans: Diese Ruhe ist keine Grabesruhe. Unser Modell ist ganz
       bewusst nicht „Einer sorgt für Ruhe, alle anderen schweigen“.
       
       Vielleicht ist es die Ruhe vor dem Sturm. Die Frage, wer Kanzlerkandidat
       wird, ist ja offen. Haben Sie Ambitionen? 
       
       Esken: Wir führen die SPD. Die Aufgabe ist groß genug.
       
       Walter-Borjans: Unsere Aufgabe in Sachen Kanzlerkandidatur ist es, den
       richtigen Vorschlag zu machen.
       
       Wann? 
       
       Esken: In diesem Jahr.
       
       Walter-Borjans: Und das Jahr ist noch lang. Wir müssen nichts übereilen.
       
       Esken: Wir werden dafür sorgen, dass es anders läuft als bei den beiden
       letzten Bundestagswahlen. Nicht so spät und nicht so reingestolpert. Wir
       brauchen ein geordnetes Verfahren und eine Kampagne und Kandidatur, die gut
       aufeinander abgestimmt sind.
       
       Hat die SPD auch einen Kanzlerkandidaten, wenn die Wahl vor 2021
       stattfindet? 
       
       Walter-Borjans: Ja, hätten wir.
       
       Anfang Januar kannten laut einer Umfrage nur die Hälfte der Deutschen Sie,
       Frau Esken … 
       
       Esken: Da war ich gerade mal einen Monat Parteivorsitzende. Bis dahin war
       ich vor allem Digitalpolitikerin und in Fachkreisen durchaus bekannt.
       Kannten Sie mich vor einem Jahr?
       
       Nein. 
       
       Esken: Ihre Fachkollegen in der Redaktion vielleicht schon. Ich finde es
       eher erstaunlich, dass mich nach dieser kurzen Zeit schon die Hälfte der
       Bevölkerung kennt.
       
       Sie sind das erste quotierte Duo, das die SPD führt. Frau Esken, Sie werden
       als bestimmend, zuspitzend wahrgenommen, und Sie, Herr Walter-Borjans, als
       verbindlich. Ist das eine Inszenierung?
       
       Esken: Nein. Wir haben keine Rollen erfunden. Ich bin so.
       
       Walter-Borjans: Und ich will nicht anders.
       
       Diese Rollenverteilung stellt die Gender-Klischees auf den Kopf. 
       
       Esken: Und das regt manche auf.
       
       Werden Sie in Medien schärfer kritisiert, weil Sie eine Frau sind? 
       
       Esken: Nein, ich werde nicht härter kritisiert, weil ich eine Frau bin.
       Aber Frauen werden anders beurteilt. Man beschäftigt sich nicht mit der
       Frisur von Norbert Walter-Borjans.
       
       Walter-Borjans: Die Beschäftigung wäre schnell zu Ende. Da ist ja nicht
       viel.
       
       Esken: Dass ich die Zupackende wäre, er eher der Verbindliche, das ist ja
       auch eine Zuschreibung. Aber: Wir entsprechen nicht den Klischees. Das ist
       für manche eine Provokation.
       
       Sie haben einen Polizeieinsatz in Leipzig hart kritisiert. War das nötig? 
       
       Esken: Ich habe die Frage gestellt, ob Beamtinnen und Beamte durch diesen
       Einsatz möglicherweise unnötig in Gefahr gebracht wurden. Die Reaktion war,
       dass Polizisten sich angegriffen fühlten. Dabei habe ich sie davor in
       Schutz genommen, für eine politische Botschaft verheizt zu werden.
       
       Sie sind mutwillig missverstanden worden? 
       
       Esken: Nein, aber ich habe gelernt, wie schnell aus der Verkürzung ein
       Missverständnis entsteht.
       
       Sie reden diplomatischer als vor 100 Tagen? 
       
       Esken: Nicht diplomatischer. Aber im Fall Leipzig habe ich schnell
       reagiert. Ich würde mich heute vorher mit der Gewerkschaft der Polizei oder
       mit KollegInnen aus dem Innenausschuss beraten. Aber meine Haltung bleibt.
       
       Generalsekretär Lars Klingbeil wird schon vom Spiegel zu Ihrem Konkurrenten
       hochgeschrieben? Macht Sie das nervös? 
       
       Walter Borjans: Nein. Lars Klingbeil hat viel öffentliche Aufmerksamkeit.
       Das ist gut so. Generalsekretäre sind früher oft kantiger aufgetreten als
       die Vorsitzenden. Das war kein Nachteil.
       
       Reden Sie miteinander über solche Texte? 
       
       Walter Borjans: Ja, sicher. Wir schweigen uns darüber nicht aus, sondern
       tauschen unsere Einschätzungen aus. Wir arbeiten gut mit Lars Klingbeil
       zusammen. Ich habe in meiner Karriere durchaus wirkungsvoll kooperative
       Führungserfahrung gesammelt und keinen Grund, jetzt auf einmal den Macher
       zu spielen, der dauernd auf den Tisch haut.
       
       Auf den Tisch zu hauen, das ist Ihr Job, Frau Esken? 
       
       Esken: Nein, das ist auch mein Ding nicht. Wir haben beide eine andere
       Auffassung von Führung. Lars Klingbeil übrigens auch.
       
       Braucht die SPD eine straffe Führung? 
       
       Esken: Autoritäten in Frage zu stellen ist ja geradezu Teil der DNA der
       Partei. Wer zu hart führt, bekommt deshalb immer viel Widerstand. Und wir
       wären als Duo auch kaum für eine Basta-Strategie geeignet.
       
       Walter-Borjans: Ich höre aus dem SPD-Präsidium, dass noch nie so viel
       miteinander geredet und auch mal kontrovers diskutiert wurde. Und dass
       während der Debatten so wenig nach draußen getwittert wurde.
       
       Sigmar Gabriel kritisiert, dass Sie erst die Groko abgelehnt haben und
       jetzt als Parteichefs die Groko stützen: „Links blinken und dann rechts
       abbiegen verwirrt alle anderen Verkehrsteilnehmer.“ 
       
       Esken: Wir sind erst 100 Tage im Amt und kommen schon in einem Buch von
       Sigmar Gabriel vor. Das ist doch bemerkenswert.
       
       Walter-Borjans: Unser Ziel war nie, unbedingt die Große Koalition auf
       Teufel komm raus vor die Wand zu fahren.
       
       Aber Sie waren skeptisch gegenüber der Groko. Das ist jetzt anders. 
       
       Walter-Borjans: Nein, das ist noch immer so. Wir haben im letzten
       Koalitionsausschuss siebeneinhalb Stunden verhandelt. Von der CDU/CSU kam
       nur Widerstand, aber kein eigener Impuls, egal, ob es um Flüchtlinge oder
       Investitionen ging. Es ist extrem schwierig, mit diesem Partner
       substanzielle Fortschritte zu machen.
       
       Erreichen Sie in den Deals mit der Union mehr als früher Andrea Nahles? 
       
       Esken: Bei Kompromissen kommt es darauf an, dass man seine Grundhaltungen
       bewahrt. Zumindest hätten wir keinen Fall Maaßen akzeptiert, der trotz
       offenkundiger Illoyalität als Verfassungsschutzchef noch befördert werden
       sollte. Die Verhandlung mit Merkel und Seehofer war sicher sehr angespannt,
       aber da hat Andrea Nahles leider das Gespür gefehlt, wie diese Entscheidung
       wirken würde.
       
       Walter-Borjans: Andrea hatte zwei Probleme, die wir nicht haben. Sie war
       zugleich Partei- und Fraktionsvorsitzende. Ich halte es für besser, wenn
       die Parteivorsitzenden frei von Regierungs- und/oder Fraktionszwängen sind.
       Und sie musste immer allein mit Merkel und Seehofer verhandeln. Wir sind
       mit Rolf Mützenich zu dritt. Das macht einen Unterschied.
       
       Haben Sie mehr erreicht als Nahles? 
       
       Esken: Die SPD-Position wird deutlicher als früher erkennbar. Hubertus Heil
       macht zum Beispiel klar, welche Grundrente er will – und was er sich dann
       notfalls abhandeln lassen muss. Und bei den Flüchtlingskindern auf Lesbos
       haben wir etwas Konkretes verhandelt.
       
       1.500 Kinder sind doch viel zu wenig. Deutschland beteiligt sich nur, wenn
       es in der EU eine Koalition der Willigen gibt. Vor ein paar Monaten hätten
       Sie dieses Ergebnis der SPD um die Ohren gehauen. 
       
       Esken: Es stimmt, dass es von innen anders aussieht als von außen. Aber
       nicht weil ich mitverhandelt habe, sondern weil ich jetzt mehr
       Informationen habe. Die Koalition der Willigen lag nicht fertig auf dem
       Tisch, war aber auf dem Weg. Es gab Zusagen von Kroatien, Frankreich,
       Finnland und Portugal. Nur Deutschland hat sich geziert. Das war
       beschämend.
       
       Walter-Borjans: CDU und CSU wollten im Koalitionsausschuss gar keine Zahl
       nennen. Insofern haben wir ein achtbares Ergebnis erreicht. Aber: Wir
       feiern das nicht. Wir sagen nicht: Großartig, dass Deutschland mit anderen
       EU-Staaten 1.500 Kinder aus Lesbos aufnimmt. Es ist weit mehr, als die
       Union wollte, aber gemessen an der Aufnahmebereitschaft vieler Städte und
       Gemeinden zu wenig. Erst recht ist es kein Grund zum Jubeln.
       
       Gibt es die Gefahr, sich im Koalitionsausschuss um den Finger wickeln zu
       lassen? 
       
       Walter-Borjans: Definitiv nicht. CDU und CSU wollen, egal worum es geht,
       zumeist nur verhindern. Bis auf eine gebetsmühlenhaft vorgetragene
       Ausnahme: Steuern zu senken für Besserverdienende und große Unternehmen. Da
       sagen wir Nein.
       
       Und Angela Merkel? 
       
       Esken: Sie ist sehr angenehm verbindlich und professionell, und sie will
       gemeinsame Ergebnisse.
       
       Walter-Borjans: Ihre Position ist im Koalitionsausschuss erkennbar anders
       als die der CDU. Die betrachtet sie fast ein bisschen von draußen.
       
       Die Union ist in einer tiefen Krise. Ist das gut für die SPD? 
       
       Walter-Borjans: Jede Häme wäre fehl am Platz. Die Bundesrepublik ist mit
       zwei starken Volksparteien gut gefahren. Die SPD will nicht, dass die Union
       zerbröselt.
       
       Schließen Sie eine Fortsetzung der Großen Koalition 2021 aus? 
       
       Esken: In der nächsten Legislaturperiode machen wir keine Große Koalition
       mehr.
       
       Walter-Borjans: Eine Große Koalition muss die Ausnahme sein. Dafür dauert
       sie schon viel zu lange und hat beiden Volksparteien erkennbar geschadet.
       
       Also 2021 ein Bündnis mit Grünen und Linkspartei? 
       
       Esken: Ja, unser Ziel ist es, 2021 ein progressives Regierungsbündnis zu
       bilden, und natürlich wollen wir es anführen. Das ist der Plan.
       
       Walter-Borjans: Wem es ernst ist mit einer Mehrheit diesseits von CDU/CSU,
       FDP, der muss ernsthaft darüber verhandeln.
       
       15 Mar 2020
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Stefan Reinecke
       
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