# taz.de -- „Power“ von Verena Günther: Der verschwundene Hund
       
       > Zwischen bedrohlich und surrealistisch: Verena Güntner erzählt in „Power“
       > von der Selbstermächtigung der Kinder und einem Dorf im Ausnahmezustand.
       
 (IMG) Bild: Dorfidylle mit Kindern, Hund und Überschwemmung
       
       Wenn Kinder in Geschichten aufregende Abenteuer erleben, pflegt eine
       Grundvoraussetzung dafür zu sein, dass sie gerade keine Eltern haben – weil
       entweder die Kinder im Internat leben („[1][Harry Potter]“) oder weil die
       Eltern zu beschäftigt sind („Fünf Freunde“), so arm, dass sie ihren
       Nachwuchs einfach aussetzen („Hänsel und Gretel“), oder schlicht von einer
       mysteriösen Macht weggebeamt wurden (in der Jugendbuchreihe „Gone“).
       
       Verena Güntners zweiter Roman „Power“ steht gewissermaßen in dieser
       literarischen Tradition der Elternlosigkeit. Er ist aber auch keineswegs
       ein Kinderbuch, und das auch deswegen nicht, weil er die Grundvoraussetzung
       umdreht: In „Power“ sind nicht die Erwachsenen plötzlich verschwunden,
       sondern die Kinder.
       
       Alles beginnt damit, dass Kerze, ein umtriebiges elfjähriges Mädchen, einer
       alleinstehenden alten Frau, der Hitschke, hilft, ihren verschwundenen Hund
       zu suchen (der Hund heißt „Power“). Hitschke und Kerze wohnen in einem
       Dorf, das idyllisch nahe am Wald liegt. Die Sommerferien stehen vor der
       Tür. Zu Beginn betreibt Kerze ihre Suche allein, doch allmählich schließen
       sich ihr immer mehr Kinder an, bis eines Tages alle Kinder des Dorfes
       verschwunden sind – tief in den Wald hinein, wo sie als Rudel leben und
       hündisches Verhalten trainieren.
       
       Der Waldrand fungiert wie eine unsichtbare Barriere: Aus irgendeinem Grund
       ist keine erwachsene Person in der Lage, ihn zu übertreten. Heimlich
       schleppt die Hitschke täglich Essen zum Wald, wo es abgeholt wird, wenn sie
       den Rücken kehrt. Im Dorf wird sie für das Verschwinden der Kinder
       verantwortlich gemacht und mit der Zeit immer erbarmungsloser gemobbt.
       
       Verena Güntners Erzählen besticht durch seinen frischen, gradlinigen
       Duktus; es ist eine Prosa ohne Geheimnisse. Eine Heiterkeit im Ton liegt
       darin, eine Verspieltheit, der man zunächst nicht ganz trauen möchte, die
       aber so zuverlässig anhält, dass sie schließlich dafür sorgt, dass man sich
       letztlich gar nicht mehr sorgt und weiß: Hier wird nichts passieren. Zu
       Beginn scheint zwar durchaus eine Diskrepanz zwischen dieser sprachlichen
       Unbekümmertheit und den geschilderten Geschehnissen zu bestehen.
       
       Das Setting ist in seiner Anlage mehr als nur milde surrealistisch, es hat
       bedrohliches Potenzial: Da ist ein Haufen Kinder allein im Wald, die auf
       Hundeweise aggressiv werden, wenn man versucht, sie zurückzuholen. Ein
       Haufen Erwachsener, die tatenlos ans Dorf gefesselt sind und die einzige
       Person quälen, die noch Kontakt zu den Kindern hält. Und die einfältige,
       hundelose Frau Hitschke, die nicht zu wissen scheint, wie ihr geschieht,
       hat letztlich doch als Einzige etwas zu verbergen.
       
       Aber weil dies eben kein actionreicher Jugendlichen-Katastrophenroman ist,
       sondern eine irgendwie symbolhaft gemeinte Geschichte für Erwachsene,
       passiert trotz der anfänglich gefühlten Bedeutungsdiskrepanz letztlich
       eben: gar nichts. Das angedeutete Bedrohungspotenzial wird nicht ein- und
       die Ausnahmesituation einfach wieder aufgelöst.
       
       Eine Entwicklung hat nicht stattgefunden; oder wenn, dann außerhalb der
       Wahrnehmungsreichweite der Leserin. Aber wozu dann das alles, lässt sich da
       fragen. Falls doch noch ein Geheimnis hinter dem Ganzen liegt, so liegt es
       gut verborgen. Immerhin: Das Buch liest sich weg wie nichts, denn sein sehr
       lebendiger Erzählton nimmt einen umstandslos mit. Der Nachhall aber
       tendiert dann doch eher gegen null.
       
       8 Mar 2020
       
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