# taz.de -- Fazit 37. vom Bachmann-Wettbewerb: Unsere tägliche Dosis Ingeborg
       
       > Die imaginierte Deportation der Großmutter, Germknödel und ein
       > Käfersammler – die Bachmannpreis-Siegertexte decken ein breites Spektrum
       > ab.
       
 (IMG) Bild: Literaturkritik „in progress“, auch am DJ-Pult abends im Lendhafen
       
       KLAGENFURT taz | Das Reden über Literatur, Literaturkritik „in progress“,
       ist das eigentliche Thema der Tage der deutschsprachigen Literatur im
       österreichischen Klagenfurt. Und die von den Autoren vorgetragenen Texte,
       die alle in unterschiedlicher Weise nicht perfekt sind, bieten dafür die
       Grundlage.
       
       Juryvorsitzender Burkhard Spinnen sprach die Schlussworte beim 37.
       Bachmann-Wettbewerb: „Fehlte nur noch, dass ich meine Mutter grüße. Und
       weil das die einzige Gelegenheit ist, in der ich mich das traue, grüße ich
       jetzt meine Mutter, danke, dass du wieder drei Tage zugeschaut hast.“ Sie
       gingen im Gelächter unter. Zuvor hatte er den ORF-Generaldirektor Alexander
       Wrabetz als „neuen, starken und dauernden Freund dieses Wettbewerbs“
       begrüßt und dann innegehalten.
       
       Wrabetz, der gut zwei Wochen das Ende der Veranstaltung verkündet hatte,
       hatte zu Beginn der Preisverleihung dessen Rettung erklärt. Wie jeder
       Lokalzeitungsleser weiß, ist der Brandstifter ja oft zugleich
       Feuerwehrmann.
       
       ## Gelungene Geschichtsaneignung
       
       Katja Petrowskaja aus Berlin wurde im ersten Wahlgang zur Siegerin erklärt.
       Der Auszug aus ihrem Roman „Vielleicht Esther“, wurde als „gelungene
       Geschichtsaneignung durch eine Nachgeborene“ gewürdigt. Die Urenkelin
       imaginiert die Deportation ihrer Großmutter, deren Tod beim Massaker in
       Babij Jar.
       
       Diesen verzögert sie erzählend durch Einschübe von Achill, einer Pflanze
       (Birkenfeige) und Überlegungen zur Poetologie und ihrer Erzählposition:
       „Ich beobachte diese Szene wie Gott aus dem Fenster des gegenüberliegenden
       Hauses. Vielleicht schreibt man so Romane. Oder auch Märchen.“ Die Jury war
       fast einhellig begeistert. Die Autorin wies nach der Preisverleihung auf
       das „Betroffenheitsmoment“ durch den Stoff hin: „Es fehlte mir ein wenig an
       Kritik.“
       
       Hildegard E. Keller, die Jurorin, die Katja Petrowskaja eingeladen hatte,
       pries, dass der Text „ungeschützt Herz“ zeige. Sie beendete ihre Laudatio
       mit den Worten: „Freuen wir uns auf ’Vielleicht Esther‘, bei – hoffentlich
       noch – Suhrkamp.“ Petrowskaja wurde in Kiew geboren, studierte in Estland
       und Moskau und lebt heute in Berlin unter anderem als Kolumnistin der
       Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. 
       
       Für ihren Pubertätstext „Es bringen“ bekam Verena Güntner nach Stichwahl
       den mit 10.000 Euro dotierten Preis der Kärntner Elektrizitäts
       Aktiengesellschaft (Kelag) zugesprochen. Ihr Protagonist, der 16-jährige
       Luis, stammt aus prekären Verhältnissen, in denen ein Kind sich aufgehoben
       fühlt, wenn hin und wieder etwas Warmes auf dem Tisch steht.
       
       ## Geliebte Germknödel
       
       „Ich liebte Germknödel, sie waren Mas Spezialität. Als ich noch klein war,
       hatte sie mich im Supermarkt immer über die Gefriertruhe gehalten und mich
       die Packung herausnehmen lassen“, ist eines der anrührenden Zitate in
       diesem kraftvollen und optimistischen Text.
       
       In seiner Laudatio zog Paul Jandl einen Vergleich zu J. D. Salingers
       „Fänger im Roggen“, dem ewigen Maßstab aller Coming-of-Age-Literatur.
       Jugendsprache als Ausdruck eines Lebensgefühls sinnvoll und zeitlos zu
       imaginieren ist eine Aufgabe mit großem Misslingenspotenzial, die Güntner
       hervorragend löste.
       
       7.500 Euro Preisgeld erhält der Spiegel.de-Redakteur Benjamin Maack für die
       Erzählung „Wie man einen Käfer fängt von Joachim Kaltenbach“, eine
       Kurzgeschichte, die laut Juror Juri Steiner „wie ein Käfer golden, grün und
       schwarz schimmert“.
       
       Der zwölfjährige Joachim ist ein Käferwissenschaftler, der mit denselben
       wissenschaftlichen Mitteln an die Liebe herangeht und Mitschülerin Kathrin
       mit einer bunten Sammlung lebender Käfer in seiner Brotdose betören will.
       Die Mutter rettet ihn und wenige überlebende Käfer aus diesem Inferno von
       Schuld und Käferleichen. Auch hier ist wie bei Verena Güntner das Ende
       optimistisch.
       
       Eingeladen worden war Maack von Juror Hubert Winkels, der von Maacks
       Kurzgeschichtenband begeistert gewesen war und ihn um eine Erzählung für
       Klagenfurt gebeten hatte. „Das war hohes Risiko, es hätte passieren können,
       dass mir die Geschichte nicht gefällt“, sagte Winkels. In den ersten Jahren
       des Bewerbs war das übrigens das normale Verfahren: Die Juroren luden
       Autoren ein und lernten deren Texte sogar erst im Moment des Vortrags
       kennen.
       
       ## Kalt und gleichgültig
       
       Der in der Schweiz lebende Autor Heinz Helle erhielt nach einer Stichwahl
       mit einer Stimme Vorsprung den Ernst-Willner-Preis (5.000 Euro) für „Wir
       sind schön“. Sein Text handelt von einem Paar, das „alles hat und nichts
       will“, es findet eine Abtreibung statt, die Figuren sind durch große Kälte
       und Gleichgültigkeit gekennzeichnet, die das eigene Verhalten immer wieder
       wie von außen beurteilen. Jurorin Daniela Strigl, die Helle eingeladen
       hatte: „Selbst als der Mann im nationalen Fußballrausch nackt auf einer
       Ampel hockt, schaut er sich über die Schulter.“
       
       Selbst sichtlich überrascht war die junge österreichische Autorin Nadine
       Kegele über den BKS Bank Publikumspreis, der am Samstagnachmittag durch
       Abstimmung im Internet von über 2.000 Teilnehmern ermittelt wurde. Mit
       ihrem Text „Scherben schlucken“, den sie am Donnerstag vorgetragen hatte,
       hatte die Jury sie nicht einmal auf die Shortlist der Preiswürdigen
       gesetzt. Über eine riesige Twitter-Gefolgschaft verfügt sie auch nicht.
       
       Als heiße Anwärter für den Publikumspreis waren eher die pointenreichen
       lebhaften Vorträge des Deutschbrasilianers Zé do Rock („Gott ist ein
       Brasilianer, Jesus auch“) oder des Schauspielers Joachim Meyerhoff („Ich
       brauche dieses Buch“) gehandelt worden. Die sympathische Kegele bekommt
       nicht nur das Preisgeld von 7.500 Euro, sondern darf auch als Nachfolgerin
       von Cornelia Travnicek die Klagenfurter Stadtschreiberwohnung im Europahaus
       beziehen und erhält ein zusätzliches Stipendium in Höhe von 5.000 Euro.
       
       ## Niemand ist tot oder pervers
       
       Roman Ehrlich, der aus seinem morgen erscheinenden Roman „Das kalte Jahr“
       las, unterlag zwar beim Ernst-Willner-Preis in der Stichwahl, hatte aber
       kurz vor der offiziellen Preisverleihung von Kathrin Passig den
       [1][„Automatischen Literaturkritik Preis der Riesenmaschine“] verliehen
       bekommen. Bei diesem Preis werden alle Texte nach vorher festgelegten
       Punkten nahezu objektiv überprüft. Ehrlich hatte unter anderem den im
       vorigen Jahr eingeführten „Andreas-Stichmann-Pluspunkt: Niemand ist tot
       oder pervers (auch keine Tiere)“ erhalten.
       
       Während der Wettbewerbstage standen tatsächlich die Texte im Mittelpunkt:
       Im Strandbad Maria Loretto, in der Public-Viewing-Location „Lendhafen“ und
       auf Twitter unter dem Hashtag [2][#tddl] wurde genau wie in der Jury über
       Literatur und über das Reden über Literatur gesprochen. Wie authentisch
       muss Jugendsprache sein? Wie geht Literaturkritik mit einschüchternden
       historischen Stoffen um? Wie weit darf sich Einbildungskraft von der
       Realität entfernen? Wie viel Liebe zu seinen Figuren braucht ein Autor?
       
       Es ist zu hoffen, dass nicht nur die Finanzierung der Veranstaltung
       gesichert bleibt, sondern dass immer wieder Autorinnen und Autoren den Mut
       haben, das Wagnis „Bachmannpreis“ einzugehen. Auch wenn niemand mehr
       wirklich an seine Einstellung glauben wollte, war die Atmosphäre in den
       Wettbewerbstagen so aufgekratzt und kommunikativ, als gäbe es kein Morgen.
       Dazu trugen auch die vielen Besucher aus dem Selbstzahlerliteraturbetrieb
       bei, wie die Gruppe Hildesheimer Studenten um den Autor Thomas Klupp, die
       Tag für Tag die Spaßzeitung Ingeborg herausgaben.
       
       ## Protest gegen Einstellung
       
       Die mögliche Einstellung war am ersten und am letzten Abend ein Thema: Zwei
       Wochen zuvor hatte ORF-Generaldirektor mit den Worten „Den Bachmann-Preis
       wird das Landesstudio Kärnten im kommenden Jahr ganz sicher nicht mehr
       durchführen“ einen Sturm der Entrüstung ausgelöst. In den Reden am
       Eröffnungsabend lieferte die drohende Abwicklung natürlich Gesprächsstoff,
       Vizebürgermeister Albert Gunzer erklärte für die Stadt Klagenfurt, man sei
       „nicht gesprächsbereit“, wenn es um die Abschaffung gehe.
       
       3sat-Direktor Hubert Nowak hatte in seiner Ansprache zwar betont, dass der
       Bachmannpreis bleiben solle, bestand aber darauf, dass Format und Ablauf
       der Veranstaltung hinterfragt werden müssten. Er verstärkte damit die
       Befürchtung, dass dem Wettbewerb schmerzhafte Einschnitte bevorstehen.
       
       Am Samstagnachmittag fand dann auch das Treffen zwischen Jury und
       Bachmannpreis-Bedroher Wrabetz statt, das die Juroren in einem offenen
       Brief gefordert hatten. Ob es die Charmeoffensive der Jurorinnen Daniela
       Strigl und Meike Feßmann war oder der Zauber des Ortes: Gegen Mitternacht,
       gerade war das große Quiz „Bachmann Songcontest“ vorbei, tauchte Wrabetz am
       Lendhafen auf, setzte sich an eine Schreibmaschine der Klagenfurter
       Initiative #bbleibt und tippte „Bachmannpreis muss bleiben, weil er wichtig
       ist, weil die Bedeutung vielen bewusst geworden ist.“
       
       7 Jul 2013
       
       ## LINKS
       
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