# taz.de -- Theologe Bülent Uçar über Niqabs: „Kein religiöses Gebot“
       
       > Der Gesichtsschleier ist eine Randerscheinung in der islamischen Welt,
       > sagt der Osnabrücker Theolologe Bülent Uçar. Dennoch sei er zu
       > respektieren.
       
 (IMG) Bild: Lässt nur die Augen frei: Niqab
       
       taz: Herr Uçar, warum tragen Frauen hier in Deutschland den Niqab? Er ist
       doch ursprünglich ein männliches Kleidungsstück aus der Beduinenkultur. 
       
       Bülent Uçar: Der Gesichtsschleier ist natürlich in der Wüste sehr
       verbreitet gewesen, um sich vor Sand und Sonne zu schützen. Aber er verfügt
       auch über eine religiöse Komponente. Allerdings hat sich der
       Gesichtsschleier im islamischen Kulturkreis nie sehr verbreitet. Er war
       immer eine Randerscheinung; in der Geschichte und in unserer Gegenwart. Es
       gab Gebiete in der sogenannten islamischen Welt, in denen der Niqab eine
       gewisse Verbreitung erfahren hat, insbesondere auf der Arabischen
       Halbinsel, wohingegen in Nordafrika, auf dem Balkan, in Anatolien, in
       Zentralasien, in Persien, der Niqab überall eine Marginalie war.
       
       Wer hat ihn denn getragen? 
       
       Das waren meist Hofkreise – als Mittel, sich vom gemeinen Volk abzuheben.
       Prinzessinnen haben etwa den Gesichtsschleier getragen im Mittelalter. Für
       die Bevölkerung war er weitestgehend randständig.
       
       Scheikh Khaled Omran hat als Generalsekretär des Fatwa-Rates der
       Al-Azhar-Universität in Kairo gesagt, aus der Scharia, dem islamischen
       Recht, gehe nichts über das Tragen eines Gesichtsschleiers hervor. 
       
       Man darf es sich nicht zu einfach machen. Die Frauen, die den
       Gesichtsschleier tragen, tragen ihn in der Regel aus einer religiösen
       Grundmotivation. Aber natürlich kommen darin auch politische
       Protesthaltungen gegenüber dem gesellschaftlichen Status quo zum Ausdruck,
       bei manchen stecken möglicherweise auch Diskriminierungserfahrungen
       dahinter. Der Gesichtsschleier hat daneben religiöse Hintergründe; es gibt
       eine Lesart, etwa einige Überlieferungen in der Sunna, die durchaus
       geeignet sind, ihn zu legitimieren. Aber der Gesichtsschleier ist kein
       religiöses Gebot, keine normative Pflichthandlung, es gibt für ihn keine
       Grundlage im Koran.
       
       Mit „Status quo“ ist die derzeitige Islam-Debatte gemeint? 
       
       Natürlich. Wir erleben in Deutschland seit mehreren Jahrzehnten, und in den
       letzten Jahren vermehrt, hysterische Diskurse über den Islam, die in eine
       starke Polarisierung der gesellschaftlichen Atmosphäre münden. Muslime
       gelten als Negativfolie, werden als Projektionsfläche genutzt, um sich von
       jeglichen „Fremden“ abzugrenzen. Das geht mit einer starken Abwertung von
       Muslimen einher, mit einer Stigmatisierung. Viele junge Menschen beobachten
       das sehr aufmerksam. Manche versuchen dieses Spannungsverhältnis
       aufzulösen, indem sie sich vollständig assimilieren, andere radikalisieren
       sich und gehen ganzheitlich auf Distanz zu der Gesellschaft, zu der sie
       sich nicht zugehörig fühlen, von der sie sich abgehängt, ausgegrenzt
       fühlen, zu der sie partiell aber auch sehr gern zugehören wollen würden.
       
       Niqab-Trägerinnen sind in Deutschland ja ein Phänomen der kleinen Zahl. 300
       gibt es, vielleicht 400? 
       
       Die Zahl derjenigen, die ein Kopftuch tragen, ist insgesamt relativ gering.
       Viele denken, eine große Zahl muslimischer Frauen trage ein Kopftuch, aber
       Studien belegen, dass sie deutlich unter 30 Prozent liegen – und die
       Tendenz ist rückläufig. Was den Niqab anbelangt, gibt es meines Wissens
       keine empirischen Daten. Aber die Quote müsste bei deutlich unter ein
       Prozent liegen. Es geht hier also um eine absolute Marginalie.
       
       Die Motivation, den Niqab zu tragen, ist sehr individuell? 
       
       Ja, absolut. Häufig sind es Menschen, die relativ spät zum Glauben gefunden
       haben. Menschen, die aus zerrütteten Familienverhältnissen kommen und im
       Glauben eine Zuflucht suchen. Einige fühlen sich sicher auch wie zu einer
       Elite gehörig, als bessere Musliminnen, als Musliminnen, wie sie
       idealistischerweise sein sollten. Für andere ist das, wie gesagt, Ausdruck
       einer ganz klaren Distanzierung von der Gesellschaft. Oft vermischt sich
       das alles aber auch.
       
       Viele Niqab-Trägerinnen sind Konvertitinnen? 
       
       Konvertitinnen sind in dieser Gruppe auffällig häufig vertreten. Aber es
       gibt sehr unterschiedliche Lebensläufe, Lebensentwürfe, durch die Menschen
       zu einer solchen Ausübung des Islam finden. Einige kommen aus muslimischen
       Haushalten, andere aus säkularen Familien. Manche kommen aus sehr
       traditionellen Milieus. Generell gilt: Der Niqab ist schon eine sehr
       extreme Form, seinen Glauben auszuleben.
       
       2015 hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entschieden, das
       Tragen eines Niqabs gehöre nicht zu den Menschenrechten. Wie bewerten Sie
       das? 
       
       Juristisch kann ich das auf europäischer Ebene nicht bewerten, allerdings
       existieren abweichende Rechtspositionen auf der Grundlage unseres
       Grundgesetzes. Auch hier ist Differenzierung geboten. Die Trägerinnen eines
       Gesichtsschleiers erschweren im Übrigen auch die Akzeptanz anderer
       religiöser Kleidungsstücke in unserer Gesellschaft. Weil dann nämlich alle
       in Kollektivhaft genommen werden, gesellschaftliche Herabsetzung erfahren,
       auch wenn sie etwa nur ein Kopftuch tragen. Denn irgendwann setzen die
       Leute das gleich.
       
       Feministin Alice Schwarzer hat in der „Emma“ geschrieben, der Niqab sei
       „der schärfste Ausdruck von Abgrenzung“, sei ein „Leichentuch“, sei kein
       religiöses, sondern ein politisches Symbol. Sie spricht auch von familiärer
       Repression. 
       
       Ich finde diese Tonlage herablassend, diffamierend und respektlos. Aus
       gesellschaftspolitischer Sicht halte ich den Gesichtsschleier für
       problematisch, aber aus menschenrechtlicher Sicht muss eine Gesellschaft,
       in der nahezu jede Kleidungsform erlaubt ist, das aushalten können. Und
       theologisch betrachtet ist der Gesichtsschleier nach meinem Dafürhalten
       völlig unnötig, aber wenn ein Mensch prinzipiell seinen persönlichen
       Glauben praktiziert, ohne die Rechte Dritter zu verletzen, verdient das
       zunächst einmal Respekt und keine Herabwürdigung oder Erniedrigung.
       
       Haben Sie am Institut Niqab-Trägerinnen? 
       
       Ich bin jetzt seit rund 15 Jahren an der Universität. In dieser Zeit haben
       mehr als Tausend Frauen Islamische Theologie studiert, und nur zwei haben
       einen Gesichtsschleier getragen. Nach kontroversen Gesprächen und
       theologischen Debatten, die nie einseitig belehrend, ausgrenzend oder
       herabsetzend waren, haben wir unterschiedliche Ergebnisse gehabt. Ich habe
       immer auf die Kraft des Arguments gesetzt. In einem Fall waren wir
       erfolgreich, im anderen nicht.
       
       Erfolgreich in welchem Sinne? 
       
       Die Person hat dann mit der Zeit ihren Gesichtsschleier abgelegt.
       
       Mehr über Niqabs, ihre Trägerinnen und den politischen Streit darum, lesen
       Sie in der aktuellen taz am wochenende oder am [1][E-Kiosk].
       
       7 Feb 2020
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Unser-eKiosk/!114771/
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Harff-Peter Schönherr
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Niqab
 (DIR) Islam
 (DIR) Religion
 (DIR) Kopftuch
 (DIR) Osnabrück
 (DIR) Burka
 (DIR) Niqab
 (DIR) Niqab
 (DIR) Vollverschleierung
 (DIR) Saudi-Arabien
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Muslime in Deutschland: Imame made in Germany
       
       In Osnabrück hat das Islamkolleg geöffnet. Es bildet Imame für die
       deutschen Moscheen aus. Zurzeit noch kommen sie meist aus dem Ausland.
       
 (DIR) Debatte um Verschleierung: Sehen und sehen lassen
       
       Der Frauenfeind, das sind immer die anderen: Was steckt hinter der
       Aufregung übers ach so fremde Kleidungsstück?
       
 (DIR) Debatte über Nikab-Verbot in Hamburg: Unterricht ohne Gesicht
       
       Für das Nikab-Verbot argumentieren Politiker:innen oft mit der unsichtbaren
       Mimik. Aber ist die ein Problem? Die Antwort fällt schwerer als gedacht.
       
 (DIR) Gesichtsverschleierung an der Kieler Uni: Grüne streiten über Niqab-Verbot
       
       Die Grünen sind uneins über die Entscheidung der Kieler Uni, einer
       Studentin das Tragen eines Gesichtsschleiers bei Uni-Veranstaltungen zu
       untersagen.
       
 (DIR) Schleierverbot an Universität Kiel: Verhüllen verboten
       
       Die Uni Kiel lässt Frauen mit Gesichtsschleier nicht mehr in Vorlesungen.
       Sie zieht damit Konsequenzen aus einem vorangegangenen Streit.
       
 (DIR) Emanzipation in Saudi-Arabien: Die starken Frauen von Dschidda
       
       In Saudi-Arabien hatten Frauen lange absolut nichts zu sagen. Nun scheint
       es im erzkonservativen Königtum einen Aufbruch zu geben.