# taz.de -- Ein Jahr Fälscher-Skandal beim „Spiegel“: Relotius' verbrannte Erde
       
       > Genau vor einem Jahr wurde der Fälschungsskandal beim „Spiegel“ bekannt.
       > Welche Lehren man aus dem Fall heute ziehen muss.
       
 (IMG) Bild: Claas Relotius erhielt immer wieder Preise, hier den CNN Award im Jahr 2014
       
       Ein Jahr ist es her, da lud der Spiegel in Hamburg aus heiterem Himmel zu
       einem Pressegespräch. Und während die Medienjournalist*innen noch dorthin
       stapften, wo sie erfahren sollten, dass der Spiegel einen
       Geschichtenfälscher in den eigenen Reihen enttarnt hatte, bereitete der
       Hamburger Verlag bereits seinen eigenen Dreh zu der Affäre vor.
       
       Seither ist viel passiert. Es gab nicht nur eine schmerzhafte Aufarbeitung
       beim Spiegel, sondern auch eine Nabelschau des Journalismus allgemein.
       [1][Hängen wir zu sehr dem schönen Geschreibe an], lassen wir uns zu sehr
       blenden von dem was sein könnte anstatt fleißig zu prüfen, was ist?
       
       Zugegeben, es ist auch viel übertrieben worden im letzten Jahr. Jede
       Unsauberkeit, [2][jeder Mist, den irgendwo ein Journalist*in baute, war
       plötzlich ein „Relotius“-Fall]. Der Skandal verunsicherte und reizte teils
       zu übertriebenem Misstrauen. Aber einiges hat der Fall die Medienbranche
       dann doch gelehrt.
       
       ## Lektion 1: Starreporter gehören nicht ins Ausland
       
       Die Auslandsberichterstattung in Deutschland hat so einige Schwächen, wenn
       nicht sogar ein gewaltiges Problem. Auch dieses existiert nicht erst seit
       Claas Relotius, es ist durch ihn nur noch mal deutlicher geworden.
       
       In den vergangenen Jahren wurde der Auslandsjournalismus immer stärker
       ausgedünnt, [3][Korrespondent*innen aus Verträgen] entlassen und
       Berichtsgebiete zusammengelegt. Die wenigsten Häuser leisten sich heute
       noch eine kontinuierliche Berichterstattung aus dem Ausland. Und wenn doch,
       erwarten die Heimatredaktionen oft große Geschichten und Reportagen, die
       zwar am Schreibtisch ausgedacht funktionieren, nie aber die Realität
       abbilden.
       
       Beispielhaft dafür steht die Entstehung der Reportage „Jaegers Grenze“, die
       Relotius gemeinsam mit dem Reporter Juan Moreno, der ihn später der Lüge
       überführte, geschrieben hat. In [4][einer Mail von Matthias Geyer], die er
       damals noch in seiner Funktion als Leiter des Spiegel-Gesellschaftsressorts
       an Relotius und Moreno schrieb, formulierte dieser präzise, welche
       Vorstellungen er von der späteren Reportage hat, die aus zwei Perspektiven
       auf die Grenze zwischen den USA und Mexiko blicken sollte.
       
       Geyers Ausführungen lesen sich wie das Drehbuch zu einem Film. Es ist die
       Rede von Figuren, die man für einen Konflikt sucht. „Wenn ihr die richtigen
       Leute findet, wird das die Geschichte des Jahres“, schrieb Geyer noch am
       Ende seiner Mail. Und ja, „Jaegers Grenze“ wurde ein gefeierter Text.
       Journalistisch aber, das weiß man heute, war er nicht.
       
       Die Auslandsreportagen von Claas Relotius stehen also auch für einen Fehler
       im System, und dieser Fehler liegt in den deutschen Redaktionen selbst. Sie
       sind es, die statt in erfahrene Korrespondent*innen zu investieren, die mit
       Sprach- und Ortskenntnissen ausgestattet sind, lieber renommierte, dafür
       aber unwissende Starreporter ins Ausland schicken.
       
       In deren Reportagen finden sich deshalb nicht selten Stereotype, unnötige
       Zuspitzungen, Ungenauigkeiten. Vermeiden lässt sich dieses Problem nur
       durch das Investieren in Korrespondent*innen, engere Zusammenarbeit mit
       Übersetzer*innen und Expert*innen von dort. Damit die Geschichte aus dem
       Ort des Geschehens heraus- und nicht in ihn hineingetragen wird.
       
       ## Lektion 2: Die Reportage ist in Nöten
       
       …aber nicht erst seit Relotius.
       
       Die Reportage, das ist eine altehrwürdige journalistische Form. Die
       subjektive Wiedergabe eines einzelnen Ereignisses. Nur ein Moment, nur ein
       Ort und meistens nur eine Protagonist*in. Wer Reportagen schreibt, ist dem
       Schicksal ausgeliefert, kann nur beschreiben, was wirklich passiert. Genau
       deshalb hat diese Form seit jeher so eine besondere Anziehungskraft. Die
       Reporter*in bringt einen Moment nach Hause, der durch niemanden
       reproduziert werden kann.
       
       Der Nachteil: Niemand kann je 100-prozentig nachprüfen, was im Text steht.
       Bei vielen Angaben muss sich die Redaktion auf die Autor*in verlassen. Aber
       genau hier wurde Relotius erfinderisch. Weil ihm, so ist zu vermuten, die
       Momente, die er berichten wollte, nicht magisch genug waren. Und weil am
       anderen Ende Verlag und Redaktion nach immer magischeren Geschichten
       hungerten.
       
       Die Reportage hat es also schwer, seit Relotius. Wobei das nicht ganz
       stimmt, es gibt bereits einen Trend weg von der Momentaufnahme, der schon
       länger besteht. Seit mehreren Jahren schon, sagt Nannen-Schulleiter Andreas
       Wolfers, verantwortlich für den Henri-Nannen-Preis, würden bei den
       Reportagepreisen immer häufiger Texte eingereicht, die weniger Reportage
       als vielmehr Rekonstruktion sind.
       
       Eine Rekonstruktion ist anders als die Reportage eine Form, die nicht
       ausschließlich vor Ort stattfindet, sondern sich alle Zeit und
       Recherchewerkzeuge zunutze macht, um ein Ereignis oder eine Entwicklung
       nachzuerzählen. Streng genommen muss man dafür nicht mal vor Ort sein. „Die
       Rekonstruktion ist keineswegs eine schlechtere Form“, sagt Wolfers. „Schade
       ist, dass dadurch die klassische Reportage, also ein Text darüber, was die
       Reporterin selbst erlebt hat, ein bisschen unter die Räder gerät.“
       
       Warum diese Form die andere ein Stück verdrängt, darüber kann man nur
       spekulieren. Vielleicht ist durch soziale Netzwerke das Bedürfnis, via
       Zeitungsartikel direkt vor Ort zu sein dem Bedürfnis gewichen, exakt und
       perfekt recherchiert informiert zu werden.
       
       Verschwinden wird die Reportage deswegen aber höchstwahrscheinlich nicht.
       Durch den Relotius-Fall müssen Reporter*innen aber inzwischen davon
       ausgehen, dass die Redaktionen Protokolle über die Recherche verlangen. Und
       dass stichprobenhaft überprüft wird, ob die Reportage plausibel ist.
       
       ## Lektion 3: Die eigentlichen Reformen stehen noch aus
       
       Im [5][Abschlussbericht der Aufklärungskommission] zum Fall Relotius taucht
       eines immer wieder auf: das Gesellschaftsressort des Spiegel und seine
       Besonderheiten.
       
       Im Bericht heißt es, das Gesellschaftsressort habe sich von den anderen
       Ressorts im Haus abgeschottet, die Zusammenarbeit mit anderen und auch eine
       fachliche Unterstützung abgelehnt. Man sei dort und auch in der
       Chefredaktion auf Journalistenpreise fixiert gewesen. Hinzu kommt ein Klima
       im Ressort, das es schier unmöglich machte, Dinge oder gar Kolleg*innen in
       Frage zu stellen.
       
       Erschreckend liest sich auch, wie unsterblich verliebt man offenbar in
       Claas Relotius war, wie blind ihm deshalb seine Vorgesetzten vertrauten,
       selbst dann noch, als die Beweislage gegen ihn eigentlich schon erdrückend
       war. Was hat man beim Spiegel nach diesem erschütternden Kommissionsbericht
       also verändert?
       
       Nun, organisatorisch wie personell hat sich einiges getan. Der frühere
       Leiter des Gesellschaftsressorts Matthias Geyer hatte den Spiegel relativ
       rasch verlassen, ebenso ein Dokumentar. Seit Ende dieses Jahres existiert
       das Gesellschaftsressort in seiner alten Form nicht mehr. Es trägt nun den
       Namen „Reporter“, arbeitet den anderen Ressorts zu und hat somit seine
       einstigen Privilegien verloren. Geleitet wird „Reporter“ außerdem von Özlem
       Gezer.
       
       Derzeit erstellen mehrere Arbeitsgruppen intern ein Richtlinienpapier, das
       „Erzählstandards, Recher-chestandards und Verifikationsregeln“ neu
       formuliert. Das ist ein Anfang.
       
       Die Kommission formulierte am Ende ihres Berichts mehrere Empfehlungen, um
       nicht nur die Qualität des Spiegel zu verbessern, sondern auch einen
       zweiten Relotius-Fall zu verhindern. Ein Teil davon wurde bereits
       umgesetzt. „Die Kritik- und Fehlerkultur im Haus ist nicht sehr
       ausgeprägt“, schrieb die Kommission aber auch. Und das gibt zu denken. Ob
       der Spiegel es schafft das Arbeitsklima und die gewachsenen Strukturen im
       Haus zu verändern, ist die viel größere Aufgabe. Und die wird Zeit
       erfordern.
       
       19 Dec 2019
       
       ## LINKS
       
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 (DIR) [5] https://www.spiegel.de/media/media-44564.pdf
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Peter Weissenburger
 (DIR) Erica Zingher
       
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