# taz.de -- Roman über Gentrification: Als der Kiez kippte
       
       > In seinem Roman „Sanierungsgebiete“ beschreibt Enno Stahl den
       > Umschlagpunkt von Aufwertung und Verdrängung am Beispiel des Prenzlauer
       > Bergs.
       
 (IMG) Bild: Hinter den Fassaden werden die Menschen ausgetauscht
       
       Dieser Roman beginnt schleichend, so, wie die Sanierung am Prenzlauer Berg
       begonnen hat. Durch die Handlung schleichen unter anderen Otti, ein
       glücklicher Arbeitsloser und literarischer Rebell, seine Ex-Frau Donata,
       die bei einer Gewerkschaftszeitung arbeitet, ihre Babysitterin Oksana, die
       zusammen mit Lynn studiert, einer leicht verzogenen Zugezogenen aus
       Düsseldorf. Die möchte ihre Diplomarbeit über die Sanierungsgebiete am
       Prenzlauer Berg schreiben, Europas größtes zusammenhängendes
       Altbauquartier.
       
       Allen gemeinsam ist, dass sie in der Rykestraße leben, jener etwas im
       Schatten des Kollwitzplatzes gelegenen Straße, die zu DDR-Zeiten abgerissen
       werden sollte und seit der Wende exemplarisch steht für den Wandel vom
       subkulturellen und proletarischen Prenzlauer Berg zum homogenen
       Bionade-Biedermeier. Aber „noch ist nicht alles in der Rykestraße
       attraktiv“, diagnostiziert Otti bei der Arbeit an einem Manuskript, „zum
       Beispiel die Kreuzung Sredzkistraße, da ist dieser Kindergarten, und auf
       der anderen Straßenseite ein Stück Brache. Keinerlei Preziosen, nur Müll,
       Scherben, Präservative, es ist in der Tat verblüffend, mitten im
       aufgemotzten In-Viertel, dieses Öde Stück Land.“
       
       Enno Stahl lässt sein Personal in „Sanierungsgebiete“ im Jahr 2009
       antreten, und ihm gelingt damit eine verblüffend genaue Punktlandung. Denn
       vielleicht ist dieses Jahr, das Jahr nach der Bankenkrise und dem Beginn
       der Investitionen in Betongold, das letzte Jahr, in dem Otti, Donata und
       die anderen noch in einer Straße leben können. Bald darauf wird das nicht
       mehr möglich sein. Der Sanierungsprozess ist zwar schleichend, aber
       irgendwann ist er vollzogen, und ein neues Personal betritt die Bühne.
       
       Auch Donata, die Gewerkschaftsjournalistin, hat diesen Umschlagpunkt
       beobachtet. „Hier tut sich so etwas wie ein Klassenunterschied auf, der
       Gegensatz zwischen Angehörigen von Boheme und Kulturproletariat, die trotz
       des Wandels, der Aufwertung ihres Kiezes und der Mieten geblieben sind, und
       den besser verdienenden Schichten, neu hinzugekommenen Ärzten, Juristen,
       Staatsbeamten aus Westdeutschland, welche die Gegend in Beschlag genommen
       haben.“ Entscheidend sind also nicht die Kreativen, sondern die, die nach
       ihnen kommen, auch wenn Erstere Letzteren den Boden bereitet haben.
       
       Der Falle, ein einseitig wütendes oder larmoyantes Porträt des bekanntesten
       Altbauquartiers der Republik zu verfassen, entgeht Stahl, indem er seine
       Figuren widersprüchlich gestaltet. Eindimensionale Gewinner und Verlierer
       gibt es nicht, auch keine bloßen Opfer und Schuldigen. Der Einzige, der bis
       dahin Prenzlauer Berg verlassen hat, tat dies aus freien Stücken: Stone,
       ein ewig berlinernder Zocker, den es nach Neukölln verschlagen hat. Der
       Austausch der Bevölkerung ist nicht nur das Ergebnis von Verdrängung, viele
       sind auch freiwillig weggezogen.
       
       ## Zwei Texte schieben sich in den Roman
       
       Doch das Buch hat auch eine Schwäche. Anders als etwa Michael Wildenhain,
       der die wilden Kreuzberger achtziger Jahre in „Die kalte Haut der Stadt“
       aus der Perspektive des militanten Widerstands geschrieben hat, sucht Enno
       Stahl auch die analytische Erkenntnis. Zwei seiner Protagonisten wollen
       wissen, was da passiert in der Rykestraße und am Prenzlauer Berg. Lynn
       beginnt mit Aktivisten, aber auch Sanierungsexperten Interviews zu führen
       und beschließt, ihre Diplomarbeit um die sozialen Auswirkungen des
       Sanierungsgeschehens zu erweitern. Otti wiederum schließt sich einer
       Literaturzeitschrift an und arbeitet an einem Buch über die revolutionäre
       Literaturszene der Weimarer Republik. So entstehen peu à peu zwei Texte im
       Text, typografisch hervorgehoben, die den Lesefluss nicht, wie man erwarten
       könnte, irritieren, sondern den Leser selbst in die Perspektive des
       Rechercheurs versetzen. Vor allem Lynns Wandlung zur kritischen Expertin
       ist vielschichtig und überzeugend motiviert.
       
       Warum aber nur hat sich Enno Stahl nicht auf seine Figuren verlassen, warum
       ihnen nicht vertraut, die Handlung, die hinreichend breit angelegt ist,
       nicht weitergesponnen, um seine Protagonisten dann in Würde oder mit dem
       Stinkefinger verabschieden zu können? Stattdessen hat Stahl aus
       „Sanierungsgebiete“ ohne Not einen Schlüsselroman zu machen versucht, in
       dem manche Akteure des realen Geschehens mit Realnamen vorkommen – Andrej
       Holm oder Annett Gröschner etwa –, während andere leicht zu identifizieren
       sind, der Stadtsoziologe Hartmut Häußermann zum Beispiel oder die Gründer
       des Verlags BasisDruck.
       
       Den Erzählfluss hemmt auch die penible Schilderung der Spaltungsprozesse
       der bei BasisDruck erschienenen Zeitschrift Sklaven, die bei Stahl Weg
       nach unten heißt – frei nach Franz Jungs Autobiografie, die auch den
       Sklaven-Machern Pate stand. Mit dieser ausführlichen Geschichte um die
       literarischen Wiedergänger von Franz Jung verschiebt der Autor die Gewichte
       unnötig in Richtung seiner Lieblingsfigur (und seines Alter Egos?) Otti,
       dessen Skripte deutlich zu viel Raum einnehmen.
       
       Aufregend ist dagegen die Dramaturgie. Nachdem im ersten Teil des Romans
       die Figuren betulich langsam durch die Rykestraße schleichen, drückt Stahl
       im zweiten Teil aufs Tempo. Nach und nach werden seine Figuren aus ihrem
       alltäglichen Leben gekegelt. So ist er, der Sanierungsprozess. Am Anfang
       nimmt man ihn kaum war, und dann ist man plötzlich weg.
       
       Enno Stahl: Sanierungsgebiete. Verbrecher-Verlag, 592 Seiten, 29 Euro
       
       17 Dec 2019
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Uwe Rada
       
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