# taz.de -- Grünen-Duo über seine Kandidatur: „Da muss mehr Schwung rein“
       
       > Die Linke und der Realo: Die Grünen Kirsten Kappert-Gonther und Cem
       > Özdemir erklären im Interview, warum sie FraktionschefInnen werden
       > wollen.
       
 (IMG) Bild: Im Bewerbungsinterview: die Grünen-Abgeordneten Kirsten Kappert-Gonther und Cem Özdemir
       
       taz: Frau Kappert-Gonther, Herr Özdemir, Sie haben mit ihrer Kandidatur für
       den Fraktionsvorsitz alle überrascht. Was hat Sie zu diesem Schritt
       bewogen? 
       
       Kirsten Kappert-Gonther: Die Erwartungen an uns Grüne sind hoch. Die
       Klimakrise ist existenziell, wir müssen ihr mit aller Kraft entgegentreten.
       Es geht um jede Woche, um jeden Tag. Die Lebensgrundlagen der Menschheit
       stehen auf dem Spiel.
       
       Cem Özdemir: Kirsten sagt es. Morgen legt das Klimakabinett der
       Bundesregierung seinen Bericht vor. Schon jetzt ist absehbar, dass die
       Maßnahmen nicht ausreichen, um die Klimakrise wirklich aufzuhalten. Auf uns
       Grüne kommt es an, das Thema voranzubringen. Das andere große Thema, das
       mir wichtig ist, ist die klare Kante gegen die AfD. Im Bundestag reden
       Rassisten, Sexisten und Klimaleugner. Es ist ganz entscheidend, dass wir
       sie stellen. Da gibt es eine Erwartung an uns Grüne, die wir im Parlament
       erfüllen müssen.
       
       Kappert-Gonther: Die Bundesregierung redet, macht aber viel zu wenig. Wir
       müssen die ganze Kraft der Fraktion nutzen, um sie stärker zu
       konfrontieren. Da muss mehr Schwung rein.
       
       Was wäre neu? Die Grünen-Fraktion positioniert sich doch schon gegen die
       Klimakrise und die AfD. 
       
       Kappert-Gonther: Die fachpolitische Arbeit der Abgeordneten ist von hohem
       Wert. In der Fraktion arbeiten 67 versierte Expertinnen und Experten. Ich
       möchte unsere Kompetenz im Detail nutzen, um den großen Bogen zu schlagen
       und Zusammenhänge deutlicher herauszuarbeiten. Gemeinsam sind wir stark –
       das ist meine Idee von Fraktionsführung.
       
       Özdemir: Wir Bündnisgrüne sind gut aufgestellt. Wir sind gestärkt aus den
       Jamaika-Verhandlungen gekommen, in denen wir geschlossen aufgetreten sind.
       Unsere beiden Bundesvorsitzenden machen einen klasse Job. Jetzt geht es
       darum, dass die Fraktion mit und hinter Annalena Baerbock und Robert Habeck
       ihr Potenzial voll ausschöpft. Wir müssen die Meinungsführerschaft im
       Bundestag übernehmen.
       
       Was muss sich in der Fraktion ändern? 
       
       Kappert-Gonther: Ich wünsche mir, dass wir in der Fraktion diskursiver
       miteinander umgehen. Dass unterschiedliche Positionen häufiger als Chance
       angesehen werden, etwas voneinander zu verstehen.
       
       Özdemir: Die Voraussetzung für ein Gespräch ist, dass der andere recht
       haben kann. Sonst macht das Gespräch keinen Sinn, so sagt der Philosoph
       Gadamer. Ich erinnere mich gut an den Austausch mit Kirsten im Frühjahr,
       als es um eine Gesetzesinitiative zur Organspende von Gesundheitsminister
       Jens Spahn ging. Ich habe ernsthaft erwogen, Spahns Antrag zu
       unterschreiben, der vorsah, dass jeder, der nicht zu Lebzeiten
       widerspricht, automatisch Spender würde …
       
       Kappert-Gonther: … nicht nur du. Viele andere aus der Fraktion auch.
       
       Özdemir: Stimmt. Kirsten hat die anderen und mich überzeugt, dass es in der
       Sache besser wäre, einen eigenen Vorschlag zu machen, der den Menschen mehr
       Freiheit gewährt. Ich kam schlauer aus dem Gespräch raus, als ich reinging.
       So muss es auch in der Fraktion laufen. Das Interesse an der Sache, die
       Offenheit für Argumente, das schätze ich an Kirsten.
       
       Werden Debatten unter Katrin Göring-Eckardt und Anton Hofreiter abgewürgt? 
       
       Özdemir: Ich verstehe ihr journalistisches Interesse an solchen Fragen.
       Aber wir arbeiten uns nicht an unseren Wettbewerbern ab. Wir beide glauben,
       ein gutes Angebot zu machen. Die anderen beiden glauben das auch. Am Ende
       entscheidet die Fraktion. Gut, dass es eine Auswahl gibt.
       
       Kappert-Gonther: Wir sagen ja nicht, dass im Moment alles Murks ist. Aus
       unserer Sicht kann man manche Dinge stärker betonen und besser machen.
       Entscheidend ist, ob man glaubt, von Diskursen profitieren zu können. Diese
       Haltung habe ich auch bei Cem immer erlebt.
       
       Streben Sie einen inhaltlichen Kurswechsel an? 
       
       Kappert-Gonther: Die Fraktion ist programmatisch gut aufgestellt. Die
       Konzepte wurden in der langen Zeit in der Opposition wieder und wieder
       aktualisiert. Das inhaltliche Fundament steht.
       
       Für welche Inhalte stehen Sie persönlich? 
       
       Kappert-Gonther: Ich habe 25 Jahre als Psychiaterin und Psychotherapeutin
       gearbeitet. Wegen meines beruflichen Hintergrunds verstehe ich
       Gesundheitspolitik als einen vernetzten Ansatz. Gesundheit und die soziale
       Frage sind eng miteinander verwoben. Arme Menschen sterben in Deutschland
       viele Jahre eher als Wohlhabende. Das ist ein Missstand, der viel zu selten
       adressiert wird. Auch Feminismus ist grundlegend für mein gesamtes
       politisches Handeln. Ich halte zum Beispiel die reproduktive
       Selbstbestimmung von Frauen für eine relevante Gerechtigkeitsfrage. Zumal
       Frauenrechte im Moment massiv von rechts angegriffen werden.
       
       Hilft Ihr Beruf in der Politik? 
       
       Kappert-Gonther: Mein Beruf verhilft mir zu einem besonderen Blick. Nehmen
       Sie die Klimakrise. Wenn Bedrohungen existenziell groß werden, neigen
       Menschen dazu, sie zu ignorieren oder zu leugnen. Nach dem Motto: Nö, damit
       will ich nichts zu tun haben. Es kommt deshalb nicht nur auf gute Konzepte
       an, sondern auch darauf, sie sprachlich an die Alltagswelten von Menschen
       anzubinden.
       
       Was heißt das konkret? 
       
       Kappert-Gonther: Ein Beispiel. Ich bin vehement für autofreie Innenstädte.
       Man kann diese Idee als Verbot kommunizieren, weil man ja mit dem Auto
       nicht mehr überall hinkommt. Eigentlich geht es aber um eine schöne Vision
       für alle. Nämlich um Städte, die für Menschen geplant sind, nicht für
       Blech. Mehr Raum, mehr Luft, mehr Lebensqualität für alle. Es geht um ganz
       anders gestaltete Begegnungsräume, Menschen würden flanieren, sie wären
       weniger einsam. Einsamkeit ist ja noch so ein vernachlässigtes Sozialthema
       unserer Zeit.
       
       Özdemir: Wir ergänzen uns da sehr gut. Eine zentrale Aufgabe bei der
       Verkehrswende ist ja die Transformation der Autoindustrie. Wir müssen die
       Wende weg vom fossilen Verbrenner schaffen, ohne dass die Beschäftigten
       dies als Kampfansage verstehen – zumal die Klimaleugner von der AfD das
       Thema für sich entdeckt haben. Das ist eine Wahnsinnsherausforderung.
       Dafür brauchen wir viele Bündnispartner, Betriebsräte und Gewerkschaften,
       aber auch den Teil der Wirtschaft, der verstanden hat, dass Ökonomie und
       Ökologie schon lange kein Gegensatz mehr ist.
       
       Herr Özdemir, manchen Abgeordneten sind Sie zu wirtschaftsfreundlich und zu
       konservativ. Braucht es härtere Gesetze, um Unternehmen zum Klimaschutz zu
       zwingen? 
       
       Özdemir: Ohne wird es nicht gehen. Und machen wir uns nichts vor: Der
       Gegenwind wird ein Orkan sein, sobald wir Maßnahmen beschließen, die
       wehtun. Da werden uns auch manche Medien hart attackieren. Anwesende
       natürlich ausgeschlossen.
       
       Kappert-Gonther: „Anwesende ausgeschlossen“ würde ich nicht unterschreiben.
       
       Wir auch nicht. 
       
       Özdemir: Dann sage ich es so: Den einen werden wir zu viel machen, den
       anderen zu wenig. Da einen eigenen Kurs durchzuhalten, mit all der
       Erfahrung, die viele von uns mitbringen, aber auch mit dem Feuer der
       Jüngeren – darauf haben wir beide Lust.
       
       Sie waren zum Beispiel gegen eine Vermögens s teuer, die jetzt im
       Grünen-Programm steht. Würden Sie die als Fraktionsvorsitzender offensiv
       vertreten? 
       
       Özdemir: Es ist ja hinreichend bekannt, dass ich nicht gerade derjenige
       bin, der die Vermögensteuer erfunden hat. Aber die Partei hat anders
       entschieden, und sie hat das ausgewogen und klug gemacht. Damit ist das
       unsere Position und die vertritt auch Cem Özdemir nach innen wie außen.
       
       Kappert-Gonther: Das ist auch gut so, denn die Vermögenssteuer ist ein
       wichtiges Instrument, um mehr Gerechtigkeit herzustellen.
       
       Den Grünen wird von der Konkurrenz gerne vorgeworfen, auf Verbote zu
       setzen. Brauchen wir mehr Verbote? 
       
       Kappert-Gonther: In manchen Bereichen brauchen wir mehr Regulierung, in
       anderen nicht. Dringend nötig wäre zum Beispiel ein Tabakwerbeverbot. Es
       ist ein Unding, dass Deutschland alle Präventionsmaßnahmen beim giftigen
       Nikotin konterkariert, indem es als einziges EU-Land großformatige
       Werbeflächen für Tabakprodukte zulässt. Gleichzeitig sage ich: Wo Verbote
       unsinnig sind, lösen wir sie auf. Die kontrollierte Abgabe von Cannabis ist
       immer noch nicht erlaubt. Dieses Verbot halten die Konservativen gegen jede
       Vernunft hoch.
       
       Özdemir: Ein Beispiel aus meinem Bereich, der Verkehrspolitik: Wir werden
       Diesel und Benzin verteuern müssen. Wenn man eine CO2-Bepreisung plant,
       geht es nicht anders. Was viele Leute vergessen, ist, dass die EU bereits
       sagt, die Fahrzeuge müssen bis zum Jahr 2030 um 37,5 Prozent effektiver
       werden. Autos werden also weniger verbrauchen. Steigende Preise beim Sprit
       werden dadurch kompensiert. Die Grünen müssen die ökologische
       Modernisierung sozial durchbuchstabieren, sie darf arme Leute nicht
       treffen. Wir brauchen nicht nur die S-Klasse mit Elektroantrieb, sondern
       genauso saubere Kleinwagen. Es geht aber auch um weniger Autos und dafür
       braucht es eine deutlich besser ausgebaute Bahn, einen starken, günstigen
       öffentlichen Nahverkehr und mehr sichere Fahrrad- und Gehwege.
       
       Im Moment prägen die Parteivorsitzenden Annalena Baerbock und Robert
       Habeck das Bild der Grünen. Die Fraktion arbeitet zu und versteht sich als
       Maschinenraum. Muss sich an dieser Rollenverteilung etwas ändern? 
       
       Özdemir: Das Bild vom Maschinenraum gefällt mir. Davon verstehe ich was.
       Ich komme ja aus einer Arbeiterfamilie und musste früher in den Ferien in
       der Fabrik arbeiten. Aber den Maschinenraum muss man auch ausfüllen. Die
       Partei würde davon profitieren, wenn die Fraktion einen stärkeren Beitrag
       in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung leistet.
       
       Das verstehen wir nicht. Einerseits bleibt die Fraktion der Maschinenraum,
       andererseits drängen Sie stärker in den Vordergrund? 
       
       Kappert-Gonther: Annalena Baerbock und Robert Habeck haben ein mitreißendes
       Auftreten, sie finden eine Supersprache, sie sind in jeder Hinsicht
       großartig. Es ist nicht unser Ziel, sie zu überstrahlen. Aber wichtige
       Auseinandersetzungen finden im Bundestag statt. Die wollen wir offensiver
       angehen, als es jetzt der Fall ist.
       
       Herrn Özdemir wird [1][von einigen Abgeordneten unterstellt], er neige zu
       Egotrips. Mit ihm sei die Harmonie zwischen Partei- und Fraktionsspitze in
       Gefahr und damit auch der Höhenflug der Grünen. 
       
       Kappert-Gonther: Das möchte ich beantworten.
       
       Özdemir: Gerne.
       
       Kappert-Gonther: Vor unserer Kandidatur musste ich für mich prüfen, ob ich
       mir das Bündnis vorstellen kann – auch mit unseren unterschiedlichen
       Sichtweisen auf relevante Themen. Mein Eindruck war: Cem ist ein
       Teamplayer, mit dem man unterschiedliche Positionen besprechen kann, ohne
       sie als etwas Spaltendes zu betrachten. Das ist wichtig. Das ist wie in
       Familien, die sagen, bei ihnen zu Hause werde nie gestritten: Entweder
       stimmt es nicht oder sie streiten wirklich nicht offen. Das schadet dem
       Familienzusammenhalt.
       
       Da kommt wieder Ihr beruflicher Hintergrund durch. Der hilft bei den Grünen
       vielleicht. 
       
       Kappert-Gonther: Wenn Menschen zu mir in Behandlung kamen und gesagt haben,
       dass sie sich nie mit ihrem Partner streiten – dann war klar, worüber wir
       sprechen mussten. Mit unterschiedlichen Positionen umzugehen, beweist
       Stärke. Konflikte zu deckeln, ist ein Ausdruck von Angst.
       
       Herr Özdemir, Sie haben viereinhalb Jahre zusammen mit Simone Peter die
       Partei geführt. Sie galten als zerstrittenes Duo infernale. Was haben Sie
       rückblickend aus dieser Zeit gelernt? 
       
       Özdemir: Ich bin bestimmt kein Heiliger und es fällt mir auch kein Zacken
       aus der Krone, wenn ich das zugebe. In meiner Abschiedsrede als
       Vorsitzender auf dem Parteitag 2018 habe ich mich bei Simone Peter
       entschuldigt. Umgekehrt hat sie gesagt, dass wir zwar politische Konflikte
       hatten, aber auf der menschlichen Ebene immer anständig miteinander
       umgegangen sind. Das war uns beiden wichtig.
       
       Noch mal: Was würden Sie in einer Doppelspitze heute anders machen als
       damals? 
       
       Özdemir: Das Wichtigste ist, dass man Konflikte intern klärt und das
       Ergebnis nach außen gemeinsam vertritt.
       
       Wann haben Sie sich eigentlich dazu entschieden, gemeinsam anzutreten? 
       
       Kappert-Gonther: Die endgültige Entscheidung haben wir am Freitag vor zwei
       Wochen getroffen.
       
       Wer hat wen gefragt? 
       
       Kappert-Gonther: Es gab nicht die eine Frage: Willst du mit mir gehen? Wir
       haben uns während des Sommers über die Fraktion und die Erwartungen an uns
       Grüne unterhalten. Irgendwann haben wir uns dann gefragt: Könnten wir nicht
       ein gemeinsames Angebot machen – in unserer Vielfalt, mit unseren
       unterschiedlichen Biografien und persönlichen Erfahrungen. Es gibt ja den
       Vorwurf, Cem sei schon ewig dabei, ich dagegen sei noch nicht lange genug
       in der Bundespolitik. Ich finde aber, dass gerade in der Kombination eine
       Stärke liegt.
       
       Özdemir: Mittlerweile unterschätzt keiner mehr Kirsten Kappert-Gonther, nur
       weil sie erst seit zwei Jahren im Bundestag sitzt. Ich finde es fragwürdig,
       dass einige die beiden Kandidaturen anfangs nicht als gleichberechtigt
       wahrgenommen haben.
       
       Sie sind seit Jahren einer der prominentesten Grünen, Frau Kappert-Gonther
       war in der breiten Öffentlichkeit bisher unbekannt. Sind da Fragen nach der
       Augenhöhe nicht legitim? 
       
       Kappert-Gonther: Wir Grüne messen Qualifikation nicht nur an der Zeit, die
       ein Mensch schon in der Bundespolitik gearbeitet hat. Wer sich mit meiner
       Biografie beschäftigt hat, weiß, dass ich in den Bereichen Verhandlung,
       Leitung und Entscheidung viel mitbringe. Meine Erfahrungen als Ärztin
       ergänzen sich mit meiner jahrelangen politischen Tätigkeit in Kommunal- und
       Landesparlamenten und nun eben im Bundestag.
       
       Keine Angst, dass der eine die andere [2][zur Seite drängt]? 
       
       Özdemir: Kirsten Kappert-Gonther lässt sich nicht die Butter vom Brot
       nehmen, so viel ist sicher.
       
       Kappert-Gonther: Ich habe mich als Frau in einem damals noch
       männerdominierten Beruf durchgesetzt. Ich musste immer doppelt so gut sein,
       um bestimmte Karriereschritte zu machen. Sie dürfen voraussetzen, dass ich
       gewappnet bin.
       
       18 Sep 2019
       
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