# taz.de -- Über den Osten sprechen: Wege aus der Desaster-Rhetorik
       
       > Was hilft denn nun gegen rechts? „Sachlichkeit“, heißt es häufig. Aber
       > reden wir eigentlich sachlich über den Osten des Landes?
       
 (IMG) Bild: Die neue Aufgabe ist jetzt, die AfD-Mehrheit zu verhindern
       
       In Sachsen und [1][Brandenburg] wurde letzten Sonntag gewählt. Obwohl sehr
       viele Menschen – vielleicht zum ersten Mal in dieser Breite und Buntheit –
       für die Demokratie in Ostdeutschland gekämpft haben, haben die extremen
       Rechten ihre Stärke gezeigt. Eine bunte, junge, engagierte
       Zivilgesellschaft hat sich gewehrt, aber fürs Erste nicht gewonnen. Dafür
       kommen neue Stimmen und ein neuer Ton in die [2][Debatten im und über den
       Osten].
       
       Seit Jahrzehnten spielt sich der Diskurs in den immer gleichen
       Defizitschleifen ab: Die Wirtschaft, ja, die Menschen der DDR waren so
       marode, dass mit ihnen der Aufbau einer sozialen Marktwirtschaft und
       demokratischer Strukturen nicht als Nachbau der westdeutschen Verhältnisse
       gelingen konnte. Als offenbar wurde, dass diese Kopie misslingen würde,
       hauten die Ostler massenweise in den Westen ab, und die Frauen unter ihnen
       stellten das Kinderkriegen ein. Daher leben, so eine Meldung von vor dem
       Sommer, heute im Osten so wenige Menschen wie 1905. Die bleiben mussten,
       drängten der Mehrheit im neuen Deutschland ihre Thematik der abgehängten
       Regionen auf: Sie neigen autoritär-populistischen Gestalten zu und sind
       voll Rachegelüsten gegenüber der Mehrheit. Das ist in etwa die rhetorische
       Schleife seit 20, 25 Jahren.
       
       Was hilft denn nun gegen rechts? „Sachlichkeit“, heißt es häufig. Aber wird
       eigentlich sachlich über Ostdeutschland gesprochen? Ich war zwei Tage vor
       den Wahlen in Demmin. Zwei mecklenburg-vorpommersche Staatssekretäre hatten
       zur Sommertour geladen. Die Leute vom T30 – einem Kultur-, Kunst- und
       Demokratieladen schräg gegenüber dem AfD-Büro – sollten besucht werden. Sie
       hatten zur Vorbereitung andere Vereine und Menschen mit Ideen für ihre
       Stadt gebeten, Zukunftsprojekte zu erarbeiten, die in großer Runde mit der
       Politik diskutiert werden könnten. Heraus kamen 15 Vorschläge, wie das
       Leben in Demmin angenehmer gemacht werden könnte. Doch die Diskussion
       drohte im Würgegriff der Demografie zu ersticken: Tags zuvor waren die
       neuesten Prognosen bekannt geworden, wonach Demmin in 20 oder 30 Jahren
       noch einmal stark schrumpfen würde.
       
       So geht die „sachliche Debatte“ seit Jahren: Engagement läuft ins Leere,
       weil wir in Zukunft weniger werden. Aber wer sagt eigentlich, dass
       Gesellschaften sich so entwickeln müssen, dass überall gleich viele
       Menschen leben? Können nicht auch kleinere Dörfer und Städte in dünn
       besiedelten Regionen ein gutes Leben führen? Ist nicht die Art und Weise,
       wie die Leute zusammenleben, wie sie Gesellschaft an jedem Ort selber
       machen, wesentlicher als die Anzahl der Bewohner?
       
       ## Falsche neoliberale Politik
       
       Hinter der demografischen Desaster-Rhetorik verbirgt sich etwas viel
       Entscheidenderes: Irgendwie sind die Menschen, die da weggehen oder nicht
       hingehen, die älter werden und erst recht die Frauen, die keine oder nicht
       genügend Kinder kriegen, schuld, dass es dem Ort und der Region
       schlechtgeht. Für die verantwortliche Politik ist das bequem, enthebt es
       sie doch scheinbar der Aufgabe, dafür politische Entscheidungen zu treffen
       und am Ende womöglich für eine Region, in der sich die Leute so sehr selbst
       schädigen, mehr statt weniger Geld auszugeben.
       
       Ein Blick in die Berichte zum Stand der deutschen Vereinigung der
       Bundesregierung belegt das. Im ersten rot-grünen Bericht von 1999 steht,
       dass [3][die Politik der schnellen Treuhand-Privatisierung] mit ihren
       Fehleinschätzungen den Zusammenbruch der Industrie zur Folge hatte. 2007
       liest sich das ganz anders. Da wird der demografische Wandel dafür
       verantwortlich gemacht, dass der Osten weiter zurückbleibt. An die Stelle
       falscher neoliberaler Politik tritt eine ganz und gar unpolitische Sicht
       auf die Gesellschaft: Wo Menschen weniger und älter werden, ist staatliche
       Politik außen vor. Der Staat kann nur noch die Schrumpfung moderieren und
       hier und da ein Mehrgenerationenhaus einweihen. Diese Lesart dominiert
       seitdem als „sachliche Expertensicht“.
       
       Auch die Autoritätshörigkeitsscheife beherrscht seit vielen Jahren die
       Talkshows, Kommentare und Berichte zu Ostdeutschland. Erst der Typ mit der
       nassen Hose, später die NPD-Kader, die von der Straße in die Parlamente
       drängten. Die Alternative für Deutschland ist da allerdings von einer
       anderen Qualität. Sie bietet eine Projektionsfläche für alles Misslungene
       und Ungerechte.
       
       ## Eine Art Lumpenproletariat
       
       Lange konnten die in den Parlamenten vertretenen Parteien gut damit leben,
       dass ein Teil ihrer Wählerschaft keineswegs ihren Werten anhing, solange er
       ihnen die Mehrheit brachte. Unter denen, die freundlich als Protestwähler
       gezählt werden, befindet sich schon seit 1990 eine Art Lumpenproletariat,
       Gabriel hat es mal Mob genannt, das so lange willkommen war, wie es auf die
       Verheißungen der blühenden Landschaften hereinfiel und die bittere Medizin,
       dass aus der DDR ohnehin nichts zu retten gewesen wäre, brav geschluckt
       hat. Das sind die gleichen Leute, die aus dem emanzipativen Ruf „Wir sind
       das Volk!“ die Konsumformel „Wir sind ein Volk!“ gemacht und damit eine
       gesellschaftliche Revolution gekapert haben.
       
       Jetzt wenden sich viele, ironischerweise wieder mit der Emanzipationsformel
       „Wir sind das Volk!“ von den Parteien ab, deren Werte sie zwar nicht
       vertreten, die ihnen aber Unterschlupf geboten haben. Mehr noch, sie wenden
       sich vom parlamentarischen System ab und bekämpfen es. Nun ist die Not groß
       – so groß, dass selbst die ehemalige Protest- und Staatspartei
       koalitionsfähig wird, auf jeden Fall dazugehört zur Demokratie.
       
       Die neue Aufgabe ist jetzt, die AfD-Mehrheit zu verhindern. Nein, wir reden
       nicht über die durch Verwaltungs- und andere Reformen ausgedünnten
       demokratischen Strukturen. Wir reden nicht darüber, auf welch absurde Weise
       aus Staatseigentum für eine kurze Zeit Volkseigentum und schließlich für
       immer Privateigentum wurde. Zwar regt es viele Menschen mächtig auf, sich
       BMW als Genossenschaft vorzustellen, wenn aber unzählige Genossenschaften
       aus der DDR zu privat betriebenen Agrarfabriken werden, wird das verteidigt
       als die für unseren Wohlstand unabdingbare freie Marktwirtschaft.
       
       ## Gleichheit, Gleichberechtigung, Gleichwertigkeit
       
       Wenn die Mehrheit, die sich von den verbohrten Racheengeln nicht Themen
       diktieren lassen darf, so weiter macht, bleibt auch den anderen
       DDR-Bürgern, in Thüringen etwa, auf kurze Distanz gar nichts anderes übrig,
       als die AfD zu wählen, wenn er oder sie es denen da drüben oder der
       Mehrheit mal so richtig zeigen will. Das erinnert an die Nazis in der DDR:
       Mit wenigem konnte man so stark provozieren wie mit der Ablehnung des
       staatlichen Antifaschismus.
       
       Gleichheit und Gleichberechtigung stellt man nicht her, wenn man mit den
       Fingern auf die anderen zeigt. Die Gleichwertigkeit, die eine
       Regierungskommission gerade hastig untersucht, kann nur durch eine
       Verabredung unter Gleichen zustande kommen. Daher wäre auch die Mehrheit
       gut beraten, sich auf einen Verfassungsprozess einzulassen, an dessen
       diskursivem Ende ein Akt der Vereinigung und nicht des Beitritts steht.
       
       Hier liegt eine Wurzel der paradoxen Situation für die Leute im Osten. In
       dem Augenblick, in dem sie die Freiheit und das Konsumwunder erreicht
       hatten, wurden ihre Betriebe verramscht, wurden sie massenweise arbeitslos
       und durften sie das, was die neuen Eigentümer nicht gebrauchen konnten,
       wegräumen. Freiheit ohne Zukunftsperspektiven ist auch keine wirkliche
       Freiheit.
       
       Es ist daher höchste Zeit, über die Art und Weise, wie mit dem
       Volkseigentum von 16 Millionen DDR-Bürgern umgegangen wurde, zu reden. Die
       neuen Interessenten, die überall herkommen durften, nur nicht aus dem
       Osten, mussten noch nicht mal tricksen oder kriminell sein – sie fanden
       eine komfortable Situation vor, die sie geradezu dazu zwang, den Preis für
       die DDR-Wirtschaft zu drücken: Die konnte ja nichts wert sein, sonst wäre
       das politische Regime nicht so leicht beiseitezuschieben gewesen. Die
       Parole hieß vielmehr: Nehmt uns den Plunder bloß ab, wir bezahlen für
       alles. Nur erspart der neuen gesamtdeutschen Politik das Gejammer, die
       Berlin- und Bonn-Reisen ganzer Belegschaften, das erpresserische
       Hungergestreike.
       
       ## Die Erfahrung, beschissen worden zu sein
       
       Es müssen die unzähligen Verpflichtungen überprüft werden, die
       Westunternehmer leichthin unterschrieben haben, um an dieses Eigentum zu
       kommen. Es muss nachgezählt und nachgerechnet werden, was dieses damals
       erworbene Eigentum eingebracht hat und heute einbringt. Und es muss dafür
       Sorge getragen werden, dass der Finanzstrom, der längst in gleicher Größe
       von Ost nach West fließt, gestoppt wird. Im Zweifel muss das Eigentum
       wieder Volkseigentum werden. Das aufzuklären ist deshalb wichtig, weil
       jeder im Osten, der damals betroffen war, eine Geschichte der
       Ungerechtigkeit erzählen kann. Vieles ist mythisch mittlerweile, vieles
       wurde hinzugedichtet – und doch bleibt [4][die Erfahrung, irgendwie
       beschissen worden zu sein].
       
       Diese Debatte und eine Verständigung darüber, wie wir mit Volkseigentum
       umgehen wollen, ist auch wichtig, um zukünftige Veränderungsprozesse
       angehen zu können. Das betrifft den Umbruch in der Lausitz beim
       Kohleausstieg, wo die extremen Rechten besonders viele Stimmen holen, beim
       Umbau zu mehr Windkraft, wo die Freien Wähler in Brandenburg punkten können
       oder das Landgrabbing durch Investoren, das auf Jahre hinaus die
       Entwicklung ländlicher Räume dominieren wird.
       
       Aber der zentrale politisch zu gestaltende Punkt ist, dass endlich die
       Defizit-Demografie-Desaster-Schleife beerdigt wird. Zugunsten einer neuen
       Aufmerksamkeit für jene, die sich Tag für Tag dort, wo sie leben und
       arbeiten, dafür einsetzen, dass Gesellschaften wieder zum Laufen kommen,
       dass Orte der Begegnung geschaffen werden, Alltagspolitik wieder möglich
       wird. Die neuen Ostdeutschen, die diese Vereinigung täglich machen, kommen
       übrigens aus der DDR und eben auch aus dem Westen.
       
       Die Landtagswahlen sollten uns gelehrt haben, dass die
       Engagementgesellschaft viel stärker und präsenter ist als bisher
       angenommen. Wir brauchen einen neuen Solidaritätspakt für jene, die diese
       Gesellschaft auf ihren oft noch schwachen Schultern tragen.
       
       8 Sep 2019
       
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