# taz.de -- Krise in Venezuela: Überforderte Nachbarn
       
       > 1,3 Millionen Venezolaner*innen leben mittlerweile in Kolumbien.
       > Staatliche Hilfe können sie dort nicht erwarten. Dafür ist die
       > Solidarität groß.
       
 (IMG) Bild: Ab nach Kolumbien: Auch während der Grenzschließlung emigrierten viele Venezolaner*innen
       
       Cúcuta/Villa del Rosario/Bogotá taz Als Roybert Aponte im kolumbianischen
       Grenzort Cúcuta ankam, war er halbtot. Der Busfahrer hatte ihn nicht zur
       Grenze mitnehmen wollen, weil er Angst hatte, Aponte würde ihm wegsterben.
       Der 26-jährige Venezolaner wog zu dem Zeitpunkt unter 30 Kilo. Aponte ist
       Diabetiker. In seiner Heimat hatte er kein Insulin auftreiben können – und
       auch nur eine Mahlzeit am Tag, meistens Reis.
       
       Eine Keksverkäuferin versprach, auf ihn aufzupassen. „Sie war mein Segen“,
       sagt Roybert Aponte. „Ich bin auf allen vieren in den Bus gekrochen, wie
       eine Katze.“ Tränen laufen ihm übers Gesicht. Der Mann mit der
       orangegefärbten Tolle sieht immer noch zerbrechlich aus, die Knochen stehen
       spitz hervor, um seine Augen sind dunkle Schatten, rechts fehlt ihm ein
       Zahn. Aber er wiegt jetzt 48 Kilo bei 1,79 Meter Körpergröße, erzählt er
       stolz. Und er kann wieder gehen.
       
       Apontes Glück war, dass er in Cúcuta auf die Intensivstation und von dort
       in die Fundación Censurados kam. Die Stiftung nimmt Menschen aus Venezuela
       auf, die HIV-positiv sind und – wie Roybert Aponte – nicht heterosexuell
       sind. Die 35 Plätze reichen bei Weitem nicht. Denn wie in anderen Ländern
       Südamerikas sind LGBTI-Personen auch in Venezuela besonders gefährdet.
       Apontes zweites Glück war, dass er noch über die Grenze kam, [1][bevor sie
       monatelang gesperrt] wurde.
       
       Am Samstag hat die venezolanische Regierung die Grenzübergänge zum
       Nachbarland Kolumbien zumindest teilweise wieder geöffnet. Auch der
       wichtigste, die Simón-Bolívar-Brücke zwischen dem kolumbianischen Villa del
       Rosario im Süden von Cúcuta und dem venezolanischen San Antonio del
       Táchira. Allein am ersten Tag querten 70.000 Menschen die Grenze, sagt der
       Direktor der kolumbianischen Migrationsbehörde, Christian Krüger Sarmiento.
       Das sind so viele, wie vor der Schließung täglich ein und aus gingen. Mit
       einem Unterschied: Am Samstag betraten 37.000 Venezolaner*innen Kolumbien
       und 40.0000 verließen das Land. Vor der Schließung war es so, dass
       [2][jeden Tag Tausende in Kolumbien blieben].
       
       ## Grenze erstmals seit Februar offen
       
       Die Schließung im Februar war die Reaktion von Venezuelas Präsident Nicolás
       Maduro [3][auf das Solidaritätskonzert in Cúcuta], das auf die dramatische
       humanitäre Situation im Nachbarland aufmerksam machen sollte. Mit der
       Aktion hatte der selbsternannte Übergangspräsident Juan Guaidó versucht,
       Hilfsgüter nach Venezuela zu schaffen. Ein Versuch, der genauso misslang
       wie seine späteren Bemühungen, [4][das venezolanische Militär auf seine
       Seite zu ziehen]. Ob Venezuela die Grenze dauerhaft öffnet, ist unklar.
       Fest steht, dass die Schließung die Situation im Grenzgebiet für
       Flüchtlinge deutlich gefährlicher gemacht hat.
       
       Denn weil die venezolanische Grenzpolizei nur noch Mütter mit kleinen
       Kindern, Alte und Kranke über die Grenzbrücke ließ, versuchten jeden Tag
       Tausende, über die illegalen Grenzübergänge nach Kolumbien einzureisen.
       Doch auf den „trochas“ lauerten und lauern kriminelle Gruppen:
       kolumbianische Guerillas, Maduro-treue Schlägertrupps und Drogenbanden.
       Monatelang kreuzten schwer bepackte Menschen auf jenen Trampelpfaden rechts
       und links der Simón-Bolívar-Brücke den Grenzfluss Táchira – und mussten
       sich gegen skrupellose Entführer, Erpresser und Vergewaltiger zur Wehr
       setzen.
       
       Doch all die Gefahren hielten die Venezolaner*innen nicht auf. Roybert
       Aponte, der unterernährte Diabetiker, wird nun mit dem Bus zu seinem Onkel
       nach Bucaramanga fahren, der Hauptstadt der angrenzenden Provinz Santander.
       Tausende gehen die 195 Kilometer von Cúcuta zu Fuß.
       
       Für sie hat das Rote Kreuz eine Karte entwickelt, welche die
       Mitarbeiter*innen im medizinischen Versorgungsposten wenige Kilometer von
       der Simón-Bolívar-Brücke an die erschöpften Menschen verteilen, mit
       Notfallrufnummern, Kilometerangaben – und vor allem Temperaturwerten. Die
       Strecke führt durch den Páramo de Berlín, eine Hochtundra auf 3.000 Metern,
       in der oft eisige null Grad herrschen. Temperaturen, auf die viele
       caminantes nicht vorbereitet sind und die schon einige das Leben gekostet
       haben.
       
       ## Schon vier Millionen im Exil
       
       Vier Millionen Venezolaner*innen haben nach Angaben des
       UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR bereits ihr Land verlassen. Gut ein Drittel
       von ihnen leben heute im Kolumbien. Es ist die größte Migration in der
       lateinamerikanischen Geschichte. Der kolumbianische Außenminister Carlos
       Holmes Trujillo sagte [5][beim Besuch des deutschen Außenministers Heiko
       Maas im Mai], dass er mit 1,8 Millionen weiteren Flüchtlingen rechnet,
       sollte die politische und wirtschaftliche Krise in Venezuela anhalten.
       
       Derzeit sieht es ganz danach aus. Präsident Maduro ist trotz der
       Massenproteste gegen seine Regierung immer noch an der Macht, die Armee
       steht nach der gescheiterten „Operation Freiheit“ der Opposition weiter
       geschlossen hinter Maduro. Selbst Herausforderer Guaidó musste nach dem
       verpufften Putschversuch einräumen, dass er die Unterstützung der Armee für
       den Umsturz überschätzt hatte.
       
       Eine Regierung aber, die die humanitäre Krise im Land nicht anerkennt und
       Hilfe von außen kategorisch ablehnt, wird wohl kaum den Massenexodus ihrer
       Bürger*innen stoppen können. Bis Ende dieses Jahres sollen knapp 16 Prozent
       der Bevölkerung – etwa 5,3 Millionen – das Land verlassen haben, schätzt
       das UNHCR. Dass Peru seine Einreisebestimmungen ab Mitte Juni massiv
       verschärft, dürfte viele von der Weiterreise abhalten und die Situation in
       Kolumbien weiter anspannen.
       
       Die vielen Flüchtlinge im Land belastet vor allem das Gesundheitssystem.
       Erst Ende Mai warnte der kolumbianische Außenminister Carlos Holmes
       Trujillo vor der Überlastung der staatlichen Ressourcen. „Mehr
       internationale Hilfe ist dringend nötig, weil die Migration immer weiter
       zunimmt und damit auch der Bedarf an Ressourcen.“ Tatsächlich sind die
       Venezolaner*innen aus dem Straßenbild schon längst nicht mehr wegzudenken:
       Nicht nur im Grenzort Cúcuta putzen sie Scheiben, jonglieren oder verkaufen
       Blumen, Bonbons, Kekse oder Stifte.
       
       ## Historisch eng verbunden
       
       Auch in der Hauptstadt Bogotá sieht man sie an Ampeln und in den
       öffentlichen Bussen, manche bitten mit Pappschildern und kleinen Kindern
       auf dem Arm um Almosen. Legale Arbeit finden die wenigsten. Wer irgendwo
       einen Job ergattert, muss damit rechnen, ausgebeutet zu werden, vor allem
       auch in der wuseligen Handelsstadt Cúcuta.
       
       Im Vergleich zu anderen Ländern in der Region sei die
       Ausländerfeindlichkeit gegenüber den Migrant*innen aber gering, sagt Jozef
       Merkx, Repräsentant des UNHCR in Kolumbien. Die beiden Länder sind
       historisch eng verbunden. Viele Kolumbianer*innen flüchteten in dem
       jahrzehntelangen Bürgerkrieg vor der Gewalt nach Venezuela, als es dem Land
       noch gut ging. Deshalb gibt es viele gemischte Familien, die jetzt nach
       Kolumbien zurückkehren.
       
       Vor allem vertrat die Regierung in Bogotá stets die Haltung, dass Kolumbien
       den „venezolanischen Brüdern“ helfen müsse, und hat deshalb die legalen
       Aufenthaltsmöglichkeiten für Venezolaner*innen erleichtert. Infrastruktur
       oder gar Leistungen für Flüchtlinge wie in Deutschland gibt es so gut wie
       nicht – genauso wenig wie für die eigenen über sieben Millionen
       Binnenflüchtlinge, die [6][das Ergebnis von mehr als 50 Jahren bewaffneten
       Konflikts] zwischen linken Guerillagruppen, Staat und Paramilitärs sind.
       
       „Kolumbien hat Erfahrung darin, Flüchtlinge zu produzieren, aber nicht
       damit, welche aufzunehmen“, glaubt Merkx. Vor drei Jahren sollte er im Zuge
       des Friedensabkommens mit der größten Rebellengruppe Farc eigentlich die
       Präsenz des UNHCR abwickeln. Doch dann kam die Massenflucht aus Venezuela,
       und Kolumbien blieb ein Brennpunkt. Im März eröffneten die Vereinten
       Nationen und der UNHCR an der Grenze das erste Flüchtlingslager für
       Migrant*innen aus Venezuela: eine Zeltsiedlung für 200 Menschen im
       nördlichsten Zipfel Kolumbiens, der Wüstenregion La Guajira. Ein Tropfen
       auf den heißen Stein. Deswegen springen viele Kolumbianer*innen ein.
       Menschen wie Henry Ardila.
       
       ## Endlich eine Cola
       
       Eines Nachts standen sie vor seiner Tür, erzählt der Schuhfabrikant aus Las
       Delicias, einem Stadtteil von Cúcuta. Drei Frauen und vier Männer, es war
       stockdunkel, Abendbrotzeit, und die sieben Venezolaner*innen hatten den
       ganzen Tag nichts gegessen. „Da habe ich sie eingeladen, mit uns zu essen“,
       sagt Ardila. Maisfladen mit Käse und Coca-Cola. „Die hatten sie sich
       gewünscht, weil sie in Venezuela so lange keine mehr bekommen hatten“, sagt
       Ardila, ein kleiner, kräftiger Mann mit Strubbelhaar, Shorts und dem gelben
       Trikot der Nationalmannschaft. Sie blieben fünf Tage. Die Frauen schliefen
       bei Henrys Familie, die Männer gegenüber bei den Nachbarn.
       
       So fing das vor über einem Jahr an mit den Flüchtlingen in Las Delicias.
       Viele Familien haben ihr Haus für Menschen aus dem Nachbarland geöffnet.
       Derzeit leben etwa 250 Flüchtlinge bei Familien in Las Delicias. Sie
       bleiben ein paar Tage, Wochen, Monate. Henry Ardila und seine Familie haben
       in ihrem bescheidenen Heim bislang etwa 60 Venezolaner*innen aufgenommen.
       
       Henry Ardila ist Schuhfabrikant. In seinem Haus näht er mit seinen sieben
       Mitarbeiterinnen Einzelteile zu Schuhen für eine größere Firma in Cúcuta
       zusammen. Tagsüber ist das Zimmer voll mit den beiden alten Nähmaschinen
       und den Nachbarinnen, die bei Ardila arbeiten. „Ganz am Anfang haben sie
       Henry hier im Viertel komisch angeschaut“, sagt Nachbarin und Näherin
       Liseth. „Aber heute ist die Beziehung zu den Venezolaner*innen normal.“
       Tatsächlich lässt sich am Umgang miteinander nicht erraten, wer Verwandte,
       Nachbarinnen oder Flüchtlinge sind. „Wir sind alle Brüder und Schwestern“,
       sagt Henry Ardila, der tief gläubig ist.
       
       Und tatsächlich teilen die Bewohner*innen und die Flüchtlinge nicht nur die
       Häuser. Rund die Hälfte der Bewohner*innen von Las Delicias sind selbst
       Vertriebene. Und alle, die sich in der illegalen Siedlung außerhalb Cúcutas
       niedergelassen haben, kennen die Armut. Bis vor Kurzem gab es in Las
       Delicias weder Strom noch fließend Wasser. Erst 2016 hat die Stadt Cúcuta
       die Siedlung legalisiert. Die Familie, der das Land gehört, verkaufte den
       Grund zu einem symbolischen Preis an die neuen Bewohner*innen. Mit der
       Legalisierung kam die Infrastruktur – und vor gut einem Jahr begannen die
       Anwohner*innen, Flüchtlinge aus Venezuela aufzunehmen.
       
       ## Vertriebene helfen Vertriebenen
       
       „Wir verstehen nicht, warum sie das tun“, sagt Tiana Anaya vom UNHCR, die
       die Gemeinde schon lange vor dem ersten Flüchtling aus Venezuela betreute.
       „Das lässt sich wissenschaftlich nicht erklären.“ Was Anaya aber weiß: Die
       Gastfreundschaft hat mit der eigenen Lebenserfahrung zu tun. „Sie sagen:
       Wir wissen, was sie erleben, denn wir haben das selbst durchgemacht.“
       
       Henry Ardila ist zwar kein Binnenflüchtling. Doch auch er hat sein Land
       unfreiwillig verlassen. Neun Jahre lebte der Kolumbianer in Venezuela. „Ich
       hatte hier in Cúcuta eine Schuhfirma mit zwölf Mitarbeiter*innen, aber ich
       wurde von Banden erpresst“, behauptet er. Irgendwann sei das Schutzgeld so
       hoch gewesen, dass er ins Nachbarland gehen musste. Vor fünf Jahren kehrte
       er wieder in seine Heimatstadt zurück und wagte einen zweiten Versuch mit
       seiner Schuhfabrik.
       
       „Ich glaube, es war Gott, der die Venezolaner*innen zu mir brachte“,
       sagt Henry Ardila. „Mir ist es genauso passiert. Ich klopfte an, und sie
       öffneten mir.“ Jetzt teilen er und seine Familie ihr Heim und ihr oft
       knappes Essen mit ihnen. Und Henry Ardila gibt denen Arbeit, die bei ihm
       wohnen. Die Firma bezahlt Ardila für die abgelieferten Schuhe jede Woche
       zwischen 143 und 171 Euro, sagt er. Yuzmaira, eine 40-jährige
       Venezolanerin, die mit ihren beiden Söhnen bei ihm wohnt und für ihn
       arbeitet, bekommt von ihm 15.000 Peso am Tag, etwa 4,20 Euro.
       
       Die Frau im pinkfarbenen Glitzer-T-Shirt mit dem Wort „Love“ und der
       Venezuela-Schirmmütze spricht voller Dankbarkeit von ihrem Arbeitgeber und
       scherzt mit ihren Kolleginnen. Doch fragt man sie nach ihrem Land, schießen
       ihr Tränen in die Augen. „Ich liebe mein Venezuela“, sagt Yuzmaira. „Ich
       hatte meine Heimat, meine Familie, mein Haus.“ Weil ihr ältester Sohn, der
       Polizist ist, nach seinem Kündigungswunsch Repressalien fürchtete, floh die
       halbe Familie. Eltern, Bruder, Schwester und Nichte sind noch in Venezuela.
       Aber an Rückkehr ist erst einmal nicht zu denken, auch weil die
       Wirtschaftskrise ihr Land beutelt. Auch ihr Sohn hat jetzt eine Arbeit in
       einer Schuhfabrik in der Stadt.
       
       Der großzügige Schuhfabrikant Henry Ardila jedoch gibt sich ganz
       bescheiden: „Ich habe einen Traum“, sagt er. „Ich will vielen Leuten etwas
       beibringen, vor allem Venezolaner*innen.“ Alle hätten das Recht, etwas zu
       lernen, so Henry Ardila. „Wenn sie ein Handwerk beherrschen, können sie
       überall überleben.“
       
       Die Recherche wurde unterstützt von der Deutschen Gesellschaft für die
       Vereinten Nationen (DGVN).
       
       Update 13.9.2019: Roybert Aponte ist tot. Was genau geschah, ist unklar.
       Die Hoffnung auf seine Verwandtschaft in Bucaramanga wurde enttäuscht. Er
       wusste zeitweise nicht, wo er schlafen sollte, konnte nicht genug Essen
       auftreiben und magerte wieder ab. Dabei hatte ihm die Hilfsorganisation
       UNHCR noch Zugang zum kolumbianischen Gesundheitssystem Sisben und
       Diabetes-Medikamente verschafft. Mitte August wurde er ausgeraubt. Er war
       verzweifelt. Wenige Tage später reiste er zurück nach Venezuela, wo er
       knapp eine Woche später starb. Er wurde 26 Jahre alt.
       
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