# taz.de -- Juristin über die Neuregelung von § 219a: „Das ist völlig widersprüchlich“
       
       > Erstmals seit der Paragraf geändert wurde, steht wieder eine Ärztin vor
       > Gericht. Juristin Ulrike Lembke über die Chance, dass es noch zu einem
       > besseren Gesetz kommt.
       
 (IMG) Bild: Jahrzehntealte Forderungen, die in ihrer Aktualität nichts eingebüßt haben
       
       taz: Frau Lembke, die Berliner Ärztin [1][Bettina Gaber] ist die Erste,
       deren Fall nach der Neuregelung des Paragrafen 219a verhandelt wird.
       Angeklagt war Gaber aber schon zuvor. Welches Recht kommt zur Anwendung,
       das neue oder das alte? 
       
       Ulrike Lembke: Das neue, weil es milder ist. Mit der alten Regelung war
       sanktionierbar, als ÄrztIn überhaupt zu sagen, dass man
       Schwangerschaftsabbrüche macht. Das war keine Grauzone, wie oft behauptet
       wird, sondern völlig unstreitig. Jetzt ist zumindest erlaubt, diese
       Tatsache mitzuteilen.
       
       Gaber hat den relevanten Satz auf ihrer Website leicht verändert. Heute
       steht dort: „Auch ein medikamentöser, narkosefreier Schwangerschaftsabbruch
       gehört zu den Leistungen von Frau Dr. Gaber.“ 
       
       Das wird ihr nicht helfen. Es ist ja weiterhin verboten, über die Art und
       Weise zu informieren, wie Abbrüche durchgeführt werden. Nicht dass das
       sinnvoll wäre – aber sie darf nur schreiben: „Ich nehme
       Schwangerschaftsabbrüche vor.“ Ich gehe davon aus, dass sie verurteilt
       wird.
       
       Ein anderer Fall – derjenige der Ärztin [2][Kristina Hänel], deren Anklage
       die Debatte um den Paragrafen ins Rollen brachte – liegt beim
       Oberlandesgericht Frankfurt am Main. Es entscheidet in nichtöffentlicher
       Sitzung über ihre Revision, das Urteil wird derzeit erwartet. Sollte sie
       schuldig gesprochen werden, will sie vor das Bundesverfassungsgericht
       ziehen, um den Paragrafen 219a zu kippen. Wie stünden ihre Chancen? 
       
       Hier gibt es grundsätzlich zwei Möglichkeiten. Zum einen könnte sich das
       Gericht schlicht den § 219a an sich anschauen. Unangemessene Werbung
       verbietet das deutsche Recht für ÄrztInnen ohnehin, und warum es hier eine
       Sondernorm gibt, überdies aus dem Strafrecht, ist schwer zu begründen. Wenn
       das Gericht sich also darauf bezieht, stünden die Chancen ziemlich gut. Ich
       glaube aber nicht, dass es das tut.
       
       Sondern? 
       
       Die wahrscheinlichere Möglichkeit wäre, dass das Gericht argumentiert, der
       § 219a gehöre untrennbar zur Gesamtregelung in den § 218 ff, die den
       Schwangerschaftsabbruch in Deutschland verbieten und Ausnahmen von diesem
       Verbot regeln. Das Urteil wäre dann eine Entscheidung über das Schutzgut
       des ungeborenen Lebens. Diese Setzung würde aber wiederum mich nicht
       überzeugen.
       
       Warum nicht? 
       
       Dafür muss man sich die Rechtsgeschichte etwas genauer anschauen. Der §
       219a wurde im Nationalsozialismus 1933 eingeführt. Den Nazis war es
       bevölkerungspolitisch ein Anliegen, Abtreibung unter den „arischen
       Volksgenossinnen“ extrem einzuschränken, später unter Androhung der
       Todesstrafe ganz zu verbieten. ÄrztInnen, sehr oft jüdisch, atheistisch
       oder sozialistisch, erwischte man aber schneller, indem schon Informationen
       über Abbrüche verboten wurden – deshalb der § 219a. Letztmals wesentlich
       geändert wurde der Paragraf 1974 im Zuge der Diskussion um eine
       bundesdeutsche Fristenregelung, um der Befürchtung zu begegnen, dass
       Schwangerschaftsabbrüche nun kommerzialisiert und normalisiert würden. Mit
       der heutigen Regelung in §§ 218 ff, wie sie seit 1995 im Strafgesetzbuch
       steht, hat § 219a insofern nichts zu tun. Der § 219a von 1974 wurde dabei
       übernommen, ohne dass auch nur ein Wort darüber gesprochen wurde.
       
       Wie entstand die heutige Regelung des Paragrafen 218? 
       
       Der Paragraf steht seit 1871 im deutschen Strafgesetzbuch. Die heutige
       Regelung entstand nach der deutschen Einheit. Mit dieser prallten zwei
       völlig verschiedene Rechtslagen und Vorstellungen von der Rolle der Frau in
       der Gesellschaft aufeinander. Am Ende einer der längsten Bundestagsdebatten
       der Geschichte stand im Juni 1992 mit großer fraktionsübergreifender
       Mehrheit die Fristenlösung mit Beratungspflicht. Das
       Bundesverfassungsgericht akzeptierte das aber nicht und gab detailliert den
       Inhalt jener Regelungen vor, die 1995 als §§ 218ff in Kraft traten. Im
       Urteil legte das Gericht auch fest, dass eine ungewollt Schwangere die
       Pflicht hat, die Schwangerschaft auszutragen. Wenn ich das meinen
       Studierenden sage, glauben die, ich mache Witze. Aber das steht da, das
       gilt und das ist auch so gemeint. Als Frau liest man das einmal und
       vergisst es nie wieder.
       
       Wie wird diese Austragungspflicht legitimiert? 
       
       Mit dem Lebensschutz. Aber es gibt einen großen Denkfehler. Die Idee der
       grundrechtlichen Schutzpflicht geht davon aus, dass sich der Staat
       schützend zwischen zwei Personen stellt und verlangt, dass die eine die
       Beeinträchtigung der anderen unterlässt. Aber hier ist es juristisch
       kategorial anders: Die ungewollt Schwangere und der Embryo sind nicht
       trennbar. Solange ein Fötus mit dem Körper der Schwangeren verbunden ist,
       gibt es kein Dreieck, sondern ein bilaterales Verhältnis von ungewollt
       Schwangerer und Staat. Von der ungewollt schwanger Gewordenen wird überdies
       nicht nur ein Unterlassen verlangt, sondern dass sie gegen ihren Willen
       ihren Körper dem Embryo zur Verfügung stellt.
       
       Der Staat greift auf ihren Körper zu? 
       
       Das gesamte deutsche Recht kennt kein Leistungsrecht an Körpern. Man kann
       nicht einmal zu Blutspenden gezwungen werden, auch nicht, wenn direkt
       nebenan jemand stirbt. Aber dieser Widerspruch wird nicht thematisiert. Das
       ist das Schöne, wenn man das Bundesverfassungsgericht ist: Man beantwortet
       nur die Fragen, die man sich selbst stellt.
       
       Wo bleiben die Grundrechte der Frau? 
       
       Die Gerichtsmehrheit – vier Männer und eine Frau – benennt zwar die
       Grundrechte der Frau, setzt sich aber nicht wirklich damit auseinander.
       Sobald der Embryo ins Bild kommt, ist die Frau irgendwie weg. Ein Problem
       im deutschen Rechtsdiskurs zum Schwangerschaftsabbruch ist, dass er extrem
       homogen ist. Es gibt so gut wie keine juristische Literatur in Deutschland,
       die eine andere Position einnimmt.
       
       Woher kommt der Gedanke vom [3][schützenswerten Embryo]? 
       
       Das hat vermutlich auch mit dem deutschen Muttermythos zu tun. Das
       Bundesverfassungsgericht rekurriert auf sein Urteil von 1975, eines der
       sexistischsten überhaupt. Die natürliche Bestimmung der Frau ist demnach
       die der Mutter, und die ungewollt Schwangere hat die Pflicht, diese Rolle
       zu übernehmen. Bei den Debatten im Bundestag 1992 berief man sich dann auf
       ein humanitäres Menschenbild und sagte, es stünde dem Staat nicht zu, über
       den Wert von Leben zu entscheiden. Korrekt – aber es steht ihm auch nicht
       zu, über den Körper seiner Bürgerinnen zu entscheiden.
       
       Zurück zu Kristina Hänel: Wenn das Bundesverfassungsgericht also
       argumentieren würde, das Schutzgut von 219a sei das ungeborene Leben – was
       dann? 
       
       Dann würde es eigentlich sehen müssen, dass die Neuregelung vom Februar
       2019 in sich völlig widersprüchlich ist: Wie sollte § 219a denn ungeborenes
       Leben schützen, indem ÄrztInnen ausgerechnet nicht über die Methoden von
       Abbrüchen informieren dürfen – aber über die Tatsache, dass sie Abbrüche
       machen, schon? Und wie soll die ärztliche Versorgung ungewollt Schwangerer
       – ein Kernstück der Regelung von 1995 – denn weiterhin funktionieren, wenn
       ÄrztInnen kriminalisiert werden? Schwierig wird es für Hänel, wenn das
       Gericht sein Urteil von 1993 zugrunde legt und sich auf den Schutz des
       ungeborenen Lebens bezieht. Ich bin insgesamt also skeptisch, was die
       Erfolgsaussichten angeht. Aber ich lasse mich gern überraschen.
       
       Was müsste passieren, damit das Bundesverfassungsgericht sich noch einmal
       grundsätzlich mit dem 218 beschäftigt? 
       
       Eine direkte Verfassungsbeschwerde ist nicht möglich, die Frist dafür ist
       längst abgelaufen. Verurteilungen wie beim § 219a sind unwahrscheinlich.
       ÄrztInnen in Deutschland halten sich natürlich an die Regeln und
       Ausnahmeregeln in §§ 218 und § 218a. Es müsste also der Gesetzgeber ran,
       was derzeit ebenfalls sehr unwahrscheinlich ist. Allerdings könnte das
       Bundesverfassungsgericht anlässlich der Entscheidung zu § 219a auch etwas
       zum § 218 sagen, wenn es das gern möchte. Ich glaube aber nicht, dass das
       passiert.
       
       Vor fast 40 Jahren wurde die Frauenrechtskonvention der Vereinten Nationen
       Cedaw beschlossen. Seitdem ermahnt der Ausschuss, der die Einhaltung der
       Konvention überwacht, Deutschland immer mal wieder. Warum? 
       
       Der Cedaw-Ausschuss sagt seit Langem, in Deutschland müsse es sichere und
       legale Wege zu Schwangerschaftsabbrüchen geben. Die Pflichtberatung und die
       Bedenkfrist sollten abgeschafft und Schwangerschaftsabbrüche von den
       Krankenkassen bezahlt werden. Der Ausschuss bezieht sich dabei auch auf die
       Weltgesundheitsorganisation, die sagt, die deutsche Regelung bevormunde
       Frauen.
       
       Verstößt Deutschland damit gegen internationale Verträge? 
       
       Die Konvention ist nicht genau dasselbe wie das, was der Ausschuss sagt.
       Die Konvention bindet Deutschland rechtlich, der Ausschuss interpretiert
       die Konvention. Aber wenn Deutschland behaupten will, es halte sich ans
       Völkerrecht, muss es schon gut begründen, warum es meint, Cedaw besser zu
       verstehen als der dafür zuständige UN-Ausschuss.
       
       Wer könnte eine solche Begründung einfordern? 
       
       Der Cedaw-Ausschuss selbst. Er wartet seit Monaten auf Antwort, was die
       Bundesregierung in Sachen Schwangerschaftsabbruch zu tun gedenkt. Aber die
       stellt sich tot. Nun kann man Deutschland nicht ohne Weiteres verklagen.
       Aber ungewollt Schwangere oder auch vom Informationsverbot betroffene
       ÄrztInnen könnten über Individualbeschwerden vor dem Cedaw-Ausschuss
       nachdenken. Und die Zivilgesellschaft muss der Bundesregierung immer wieder
       klarmachen, dass diese zwar anderen Staaten gern Vorschriften macht, sich
       aber selbst nicht an internationales Recht hält. Das wären Möglichkeiten,
       auch im deutschen Recht etwas zu verändern.
       
       10 Jun 2019
       
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