# taz.de -- Interview mit Lola Randl: „Ich bin keine Wurzelpflanze“
       
       > In Gerswalde in der Uckermark trifft sich Berlin. Mit Lola Randl hat das
       > angefangen. Nun hat sie mit einem Film und Buch ihr Leben dort
       > verarbeitet.
       
 (IMG) Bild: Lola Randl in ihrem Garten in Gerswalde
       
       Es ist der erste Tag der Saison in Gerswalde. Die Sonne scheint, auf dem
       Dorfplatz ist Flohmarkt, unter die Anwohner mischen sich Ausflügler aus
       Berlin. Mittendrin Filmemacherin Lola Randl. Sie hat vor zehn Jahren das
       Haus neben Dorfplatz und Kirche gekauft, dazu gehört der „Große Garten“
       nebenan, der alte Schlossgarten. Japanerinnen betreiben zwei Cafés, die
       Fischräucherei „Glut und Späne“ aus der Berliner Markthalle 9 ist
       hergezogen, Gästezimmer, Bühne und mehr sind in der Mache. Alles fing mit
       Randl an. Sie holt Gläser und eine Karaffe aus dem Café im Großen Garten
       und schlägt einen Platz davor unter einem Baum vor. 
       
       taz: Frau Randl, haben Sie auf dem Flohmarkt schon was gefunden? 
       
       Lola Randl: Nein, ich habe nur im Vorbeigehen ein bisschen geguckt. Der
       Flohmarkt ist vor allem ein Gemeinschaftsprojekt, das tut dem Dorf gut.
       
       Inwiefern? 
       
       Man fühlt doch eine Notwendigkeit von Integration. Obwohl das ja absurd
       ist: Wieso soll man als Neu-Gerswalder einen Alt-Gerswalder irgendwohin
       integrieren wollen? Aber solche Projekte verbinden, sie sind wohltuend,
       weil man ja doch sehr nah aneinander wohnt und viel voneinander mitbekommt.
       Nach den zehn Jahren bin ich nun entspannter. Es kann Verschiedenes in
       einem Dorf geben, ohne alles angleichen zu müssen. Können wir uns duzen?
       
       Klar. Wie lange wolltest du damals bleiben? 
       
       Am Anfang hatte ich mir nicht viel überlegt. Also eigentlich gar nichts.
       Vielleicht konnte sich so viel daraus entwickeln, weil es keinen Plan gab.
       Das ist ja auch beim Gärtnern so: Wenn man den Pflanzen Raum lässt zum
       Wachsen, können die ganz prächtig werden.
       
       Jetzt ist es so prächtig gewachsen, dass Gerswalde zu einem Pilgerort
       geworden ist. Im Regionalexpress nach Wilmersdorf, dem nächsten Bahnhof
       hier in der Uckermark, stiegen zwei Japanerinnen aus, und man wusste, wo
       sie hin wollen. 
       
       Das hatte ich mir nicht ausgemalt damals. Freunde kamen mal, wenn man am
       Wochenende ein Feuer im Garten gemacht hat. Zu den Arbeitseinsätzen, um den
       Schlossgarten neu zu machen, mussten die Leute noch mit tollem Essen
       gelockt werden. Dass sie jetzt einfach so kommen, war undenkbar. Damals
       suchten die Berliner Wochenendler nach Häusern mit Seeblick. Ein Betonklotz
       in der Mitte eines Dorfs, wo rechts und links eine Straße ist und du
       überall reinschauen kannst, war für die Horror. Für alle, die jetzt
       rauswollen, ist die Infrastruktur auf dem Dorf auf einmal ganz wichtig.
       Weil man eben doch die Apotheke, die Sparkasse und die zehn Sachen, die
       unser Dorf hat, zum Leben braucht. Ich fand es sowieso unverschämt, dass es
       diesen Ort so gibt. Dieser Ort musste einfach geteilt werden. Jetzt halt
       mit vielen.
       
       Wie gefällt dir das? 
       
       Es ist mir jetzt auf jeden Fall zu viel Pilgerort. Aber ich will es auch
       nicht verhindern. Wenn es fruchtet und Dinge wachsen, die offenbar jemand
       braucht, kann ich mich schwer dagegenstellen. Früher hat jemand diesen Ort
       hier entdeckt und war verzaubert. Heute hat jemand davon gelesen und will
       es dann sehen. Die Ausflügler kommen mit einer Erwartungshaltung. Die
       stehen dann hier und fragen sich: Wo ist denn jetzt das japanische Café?
       
       Zwischendurch sagtest du deshalb lange: Nee, Leute, keine Interviews mehr.
       Und jetzt … 
       
       … das Buch und der Film über Gerswalde, ja.
       
       Wie passt das zusammen? 
       
       Das lässt sich schwer voneinander trennen. Ich hatte tatsächlich eine Weile
       Nein zu allem gesagt, weil zu viele Menschen kamen. Ich saß oben in meiner
       Wohnung und fühlte mich gefangen von den Geistern, die ich rief. Die Frage
       ist: Bekomme ich es noch umgeleitet? Ich habe darauf noch keine Antwort.
       Aber Lust, das System zu stürzen, schon.
       
       Wieso bist du denn damals überhaupt nach Brandenburg? 
       
       Ich lebte in dieser Berlin-Mitte-Torstraße-Ecke. Da waren alle Kreative die
       etwas mit Medien oder Kunst gemacht haben, alle im gleichen Alter mit
       ähnlichem Geschmack, alle so dicht aufeinander. Das hat mich fast in die
       Depression getrieben. Ich hatte eine Landlust, aber nicht im Sinne von: Ich
       mache jetzt Kirschmarmelade. Sondern Lust auf das Dorf, wie früher in der
       Oberpfalz, wo ich aufgewachsen bin.
       
       Aber wieso hierher? 
       
       Ich fuhr damals diese Strecke durch die Uckermark mit dem Zug, die so
       unvorstellbar toll ist. Eine romantische Landschaft. Dann habe ich völlig
       ohne Ahnung bei Immobilienscout im Umkreis von anderthalb Stunden um Berlin
       gesucht. Nach zehn Minuten habe ich das Haus hier entdeckt: Es war ganz
       grau fotografiert, eine Mehrzweckhalle mitten im Dorf. Man sah alle
       Schichten, das Kino, das Gasthaus, die vollen Dachböden. Man ahnte, wie
       viele Leute schon die Treppe runtergefallen sind. Ich war völlig
       fasziniert, dass es das überhaupt gibt. Ich hatte zwei, drei Filme gemacht,
       und keiner konnte verstehen, wieso ich mich aus Mitte rausziehe.
       
       sie schaut sich um, die Tische drumherum sind besetzt.
       
       Können wir uns woanders hinsetzen? Es ist schon so voll hier.
       
       Die Ausflügler sehen aus wie stereotype Mitte-Kreative. Wolltest du vor
       zehn Jahren nicht weg von denen? 
       
       Das ist ein Widerspruch, absolut. Der aber so als Widerspruch gilt. Ich
       weiß nicht, ob dahinter meine Angst vorm Alleinsein steckt oder meine
       Projektwut. Vielleicht lernt man hier, was man in der Stadt nicht schaffte:
       zusammen zu sein.
       
       Hat keiner hier gesagt: Sorry, Lola, Buch und Film über unseren Alltag, das
       ist zu viel? 
       
       Ich dachte nicht, dass die Lust von anderen, alles eins zu eins
       wiederzufinden, so groß ist: „Ist das der schiefe Baum? Und das das Haus in
       der Kurve? Aha!“ Noch ist in der Dorfmitte keiner, der unbedingt geschützt
       sein will von Projektmenschen und Berlinern. Aber sollten hier irgendwann
       Reisegruppen aussteigen mit dem Buch, glaube ich schon, dass es ein Problem
       wird. Das will ich versuchen zu vermeiden.
       
       Gerswalde ist längst ein Symbol: ein Ort auf dem Land, aber mit einer
       bestimmten Berliner Crowd. Die einen sagen dazu: super! Die anderen: bloß
       nicht. 
       
       Ehrlich? Diese Dimension ist einem hier gar nicht so bewusst. Das ist nur
       ein Berliner Bild von Gerswalde. Von Montag bis Freitag ist es still und im
       Winter gibt es gar keine Besucher. Was heißt schon „Hipster-Dorf“. Du
       könntest jeden fragen, der hier fest lebt: Man hat nicht das Gefühl,
       überrannt zu werden. Außer an den Wochenenden. Es gibt eben nicht so viele
       Ausflugslokale anderthalb Stunden entfernt von Berlin.
       
       In Mitte, Prenzlauer Berg, Neukölln, überall sind diese Aufkleber zu sehen:
       „Hamptons“ durchgestrichen, darunter Uckermark, im Tagesspiegel hieß es,
       Wim Wenders habe hier gefragt, ob es noch Häuser zu kaufen gebe. Was macht
       das mit dir? 
       
       Ich denke nicht: Oh Gott, ich will hier nicht sein. Eher: Was ist dieser
       Hype, wie kann man das umverteilen? Meine ganzen Filme haben wenig
       Aufmerksamkeit bekommen im Vergleich zu dem ganzen Gerswalde-Ding. Die
       Wenders-Geschichte taucht immer wieder auf und die Hamptons-Aufkleber sind
       von Micha von „Glut und Späne“. Er und die Japanerinnen brauchen das
       Geschäft, sie haben ihr Leben darauf aufgebaut. Und ich sehe mich nicht in
       der Position, hier ein Instagram-Verbot aufzustellen. Ich war gerade auf
       einer japanischen Insel, dort gibt es auch so eine Landbewegung – die haben
       sogar Schilder samt der Hashtags, mit denen man die Bilder verbreiten soll.
       
       Die Wenders-Anekdote zeigt: Die Gentrifizierung ist in den Dörfern
       angekommen. Und hier? 
       
       Das Problem ist ähnlich wie in der Stadt. Der Wohnraum wird hier schon
       knapp. Die Häuserpreise steigen immens. Manche können sie sich schon nicht
       mehr leisten. Das ist sehr schade. Wenn jemand Neues kommt, fragt man sich
       schon, ob das nur Wochenendler sind. Die kommen mit ihrem voll gefüllten
       Kofferraum und machen Erholung. Wenn man an Häusern vorbeifährt, wo nie
       jemand da ist, ist das sehr schade.
       
       Was macht das mit der Dorfgemeinschaft? 
       
       Aus meiner Sicht geht es darum, anwesend zu sein. Man braucht nicht
       unbedingt ein gemeinsames Projekt und muss auch nicht einer Meinung sein.
       Wichtig ist, dass man seinen Alltag zusammen hier hat, eine Realität teilt.
       Aber das hier ist auch eine offenere Heimat als andere. Etwa weil nach dem
       Krieg Flüchtlinge kamen. In dem oberpfälzischen Dorf, aus dem ich komme,
       gelten Werte, die nicht so leicht anders zu besetzen gewesen wären. Dass so
       ein paar Dahergelaufene gegenüber der Kirche einziehen, wäre dort nie
       passiert. Zehn Neue haben nun fest ihr Leben im Dorfmitte-Universum, sie
       haben ihren Beruf hierhin verlegt oder so neu erfunden, dass er hierher
       passt.
       
       Damit setzt ihr auch dem demografischen Wandel der Gegend etwas entgegen.
       Hat sich der Bürgermeister schon bedankt? 
       
       Die Gemeindevertreter sehen das durchaus positiv. Aufhalten kann man das ja
       sowieso nicht. Die Paradieschenbar im Großen Garten ist jetzt die einzige
       Bar im Dorf und solche Orte braucht ein Dorf. Die ist oft rappelvoll, und
       jetzt, nach zwei Jahren, kommen auch viele Alt-Dörfler. Da werden dann auch
       mal Schlager gesungen. Häufig ist da bis zwei, drei, vier Uhr was los – und
       nicht wegen der Ausflügler.
       
       Wie oft bekommst du einen Dorfkoller? 
       
       Ich war gerade in Japan, vielleicht auch wegen des Dorfkollers. Dass
       Menschen ihr ganzes Leben dafür arbeiten, um in einer winzig kleinen
       Wohnung sein zu können, kommt einem von hier aus ganz schön absurd vor.
       
       Japan ist für eine Dorfkollerkur ganz schön weit. 
       
       Ich hab jetzt auch plötzlich ein ganz schlechtes Gewissen damit. Man darf
       nicht mehr so rumfliegen in der Welt, aber ich habe gedreht und eine
       unserer Japanerinnen hat geheiratet. Es ist eben schwer, anzufangen mit dem
       Aufhören. Und für den kleinen Dorfkoller reicht auch Angermünde. Irgendwo,
       wo man nicht erkannt und bei allem beobachtet wird. In unserem Landmarkt
       stehen die Tampons irgendwo, wo man nicht alleine rankommt. Das war für
       mich beim ersten Mal so seltsam, dass ich sie nicht kaufen konnte.
       
       Und beim großen Dorfkoller geht’s nach Berlin? 
       
       Leider habe ich momentan kaum Zeit wegen all der Baustellen hier, aber es
       reicht auch, wenn ich dann mal eine halbe Stunde U8 fahre. Blöd ist, dass
       ich in Berlin wieder nur über Gerswalde rede, weil alle danach fragen.
       
       Zu deinem Sprechen über Gerswalde gehört im Film und im Buch eine Geste
       ironischer Distanz, Motto: Machen wir uns nix vor als postkapitalistische
       Individuen. 
       
       Mit dieser Distanz bin ich schon geboren. Es ist für mich schwierig, wenn
       ich nicht einen Beobachterstandpunkt haben kann. Die Distanz braucht es, um
       überhaupt so offen sein zu können. Mit den Wahrheiten ist es ja nicht so
       einfach. Die sind auch nicht immer nur ganz richtig. Und so kommt mir das
       Ökosystem aus Halbwahrheiten irgendwie wahrer vor.
       
       Den perfekten Beobachterposten hast du. Euer Haus in der Dorfmitte,
       gegenüber der Kirche, da kommt jeder vorbei. 
       
       Der Ort ist für die Dorfgemeinschaft total wichtig, weil er so zentral ist.
       Deswegen dachte ich früh, da muss man ein Café aufmachen. Obwohl mir nichts
       ferner lag. Meistens hing nur ein Schild draußen mit meiner Telefonnummer
       und der Info, dass ich gerade nicht da bin. Deswegen war es auch
       beglückend, dass es dank der Japanerinnen ein Knotenpunkt wurde, ohne dass
       ich die Top-Kommunikatorin dabei sein muss. Ich bin nur noch eine Idee von
       dem Anfang davon.
       
       Es erscheinen gerade viele Bücher, in denen Menschen sich in der Natur
       spiegeln. Wie erklärst du dir das? 
       
       Man versucht immer wieder, Teil der Natur zu sein. Und der Garten ist als
       Therapeut deswegen so gut, weil man ihn sich anschauen und überlegen kann:
       Wär’s für mich nicht leichter als Biene? Kann ich mein Leben so aufbauen?
       Eine Gartentherapie ist nicht das Schlechteste.
       
       Was hat sie dir gebracht? 
       
       Nimm die Brombeeren hier. Man kann sagen: Ich will nicht, dass die da
       wachsen. Man kann auch einfach sagen: Hier will eine Brombeere wachsen. Man
       kann sagen: Löwenzahn ist Unkraut und muss raus. Oder: Löwenzahn wächst
       hier prächtig, was kann man damit machen? Ah, wir veredeln ihn zu einem
       jungen Löwenzahnsalat.
       
       Wie viel arbeitest du selbst im Garten? 
       
       Ich versuche es immer wieder. Aber da muss man diszipliniert sein. Und ich
       bin halt doch so ungeduldig. Im Garten kann ich mich mit meinen
       Schwierigkeiten treffen. Die Frage ist, ob es nicht doch auch Fluchten
       gibt, die einem seine Unmöglichkeiten weniger aufzeigen. Das Tolle an
       meinem Beet ist, dass sich die Kiwis, die meine Mutter niemals zulassen
       wollte, an diesem Standort super machen.
       
       Wenn du hier im Garten stehst und hoch schaust aufs Café und die
       Ausflügler: Was geht dir durch den Kopf? 
       
       Der Verlust der eigenen Naivität der Anfangszeit kann einen schon ein
       bisschen melancholisch stimmen. Jetzt hat es dieses Eigenleben bekommen,
       dem ich etwas entfremdet zuschaue. Aber der Motor läuft und ich sitze drin.
       Was soll ich machen? Gegen die Wand fahren? Das ist auch keine Alternative.
       Soll ich überall rumlaufen und „Hallo“ rufen? Soll ich wegfahren? Nee,
       damit muss man schon noch was anstellen.
       
       Sie schaut auf das Gewusel, hält inne, deutet auf einen Weg zwischen den
       Beeten. 
       
       Es wäre mir recht, wenn wir links runtergehen, es ist mir zu viel los.
       
       Aber das ist doch alles deins. 
       
       Ja, das ist wirklich total traurig. Sollen wir uns verstecken? Wir gehen
       nicht durch die Massen, wir verschwinden jetzt hintenrum. Dann zeige ich
       dir noch die Ausstellung vom Heimatmuseum und der neuen Dorfmitte-Galerie
       mit nie verwirklichten Plänen von Gerswalde.
       
       Pläne? Vielleicht als Inspiration? 
       
       Inspiration habe ich wirklich schon genug. Das Gästehaus soll neu gemacht
       werden, ein Proberaum, ein Ensemble soll gegründet, eine Bühne gebaut
       werden und eine Akademie und noch eine Halle und ein Teehaus. Nur das
       Nötigste eben. Es dauert alles, weil wir kein Geld haben und viel selber
       machen. Ein schlimmes Geflecht an Projekten, die sich immer weiter ranken.
       Ich muss rausfinden, wie ich aus diesen Schlingen rauskommen könnte.
       Deswegen ist die Ausstellung so interessant: Die Schönheit von
       nichtverwirklichten Dingen ist toll.
       
       In deinem Buch heißt es an einer Stelle übers Pflanzenwachstum: „Irgendwann
       stellen die Pflanzen fest, dass sie nicht mehr wegkommen.“ Fühlst du dich
       auch so? 
       
       Es geht hier nicht um meine Wurzeln – ich wollte meinen Kindern die
       Möglichkeit geben, hier welche zu bekommen. Meine Wurzeln gehen nicht so
       irrsinnig tief in den Boden rein, egal wo ich bin. Ich bin keine
       Wurzelpflanze, eher eine Geflechtpflanze oder doch eine Flugsamenpflanze.
       Auch wenn man als Kurzwurzler natürlich auch mal umgeweht werden kann.
       
       2 Jun 2019
       
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