# taz.de -- Die Wahrheit: Obdachlosenoptimierung
       
       > Obdachlosen gibt man Geld und bekommt dafür ein gutes Gewissen. Das
       > System, das sie auf die Straße brachte, endet dort nicht.​
       
 (IMG) Bild: Drei Jahre lebte Damyanov unter der Reichenbachbrücke, ein Brand zerstörte das Obdachlosenlager
       
       Wenn Sie Ihre Füße vom fußbodenbeheizten Walnussparkett auf den kalten
       Steinboden deutscher Innenstädte setzen, um zu Ihrem präferierten
       Falafelladen zu laufen, begegnen Sie zwangsläufig den Menschen, deren
       Lebensraum Sie gerade betreten haben: Obdachlose. Zumindest mir passiert
       das regelmäßig, sodass ich mich mittlerweile in der Lage sehe, eine
       Besonderheit dieser Spezies, neben ihrer Obdachlosigkeit, ausmachen zu
       können.
       
       Der Grund, warum einen Obdachlose ansprechen, ist und bleibt stets der
       gleiche: Geld soll aus meiner Tasche in die löchrige des Gegenübers
       wechseln, und nein, das stellt für mich kein Problem dar. Mache ich mich
       schon mal auf den schwierigen Weg zum Falafelladen, bin ich in der Regel
       bestens drauf und spendiere gerne! Doch an dieser Stelle sei allen
       Obdachlosen einmal ins Ohr geflüstert, auf dass sie es sich merken: Bitte
       erzählt mir nicht eure gesamte Lebensgeschichte!
       
       „Entschuldigung, darf ich Sie kurz stören?“, wird das Gespräch meist
       begonnen und bevor man erwidern kann: „Nein, meine hart erarbeitete
       Falafellust soll jetzt bitte nicht durch ihr Leid geschmälert werden!“,
       wird einem alles an Rückschlägen, die der arme Tropf bis dato einstecken
       musste, langwierig erzählt.
       
       Ein Arbeitsunfall ist der Anfang vom Leid. Eine Palette fällt ungünstig und
       trifft sein Knie, wodurch der Mann arbeitsunfähig wird und seinen Job
       verliert. Aha, o. k. Obwohl das ja ganz so nicht stimmt. Der Anfang ist
       eigentlich eine Depression, die ihn erst so unachtsam werden lässt, dass es
       zum Palettenunfall kommt. Und weiter? Dann hängt er nur noch zu Hause
       herum, kann ja nichts machen. Arbeit ist unmöglich und Lust rauszugehen,
       sich an den schönen Seiten des Lebens zu erfreuen, danach steht ihm auch
       nicht gerade der Sinn.
       
       Logisch, dass sich seine Frau deshalb ziemlich schnell von ihm scheiden
       lässt und die Kinder mitnimmt, klar. Dann wird ihm auch noch plötzlich die
       Miete erhöht und heute, na heute freut sich eben jemand anderes über die
       schöne, geräumige Wohnung. Hm, ja, schon blöd. Jetzt lebt er seit
       mittlerweile vier Jahren auf der Straße und ich bekomme langsam das Gefühl,
       er will mich auffordern, sein Biograf zu werden.
       
       Aber das wäre ja Quatsch. Leute, die da wortwörtlich auf der Straße stehen,
       lesen keine Biografien. Und deshalb: Liebe Obdachlose! Bitte behandelt
       dieses Zusammentreffen als das, was es ist: ein Geschäft. Man gibt Geld und
       bekommt dafür ein gutes Gewissen. Das System, dass euch auf die Straße
       brachte, endet hier doch nicht.
       
       Übrigens: Ich bin nun durch einen Unfall seit vier Jahren arbeitsunfähig.
       Meine Miete kann ich nur knapp zahlen. Das einzige Einkommen erziele ich
       durch das Schreiben meiner Leidensgeschichte. Schön, dass Sie diese gelesen
       haben und ich ein wenig Geld dafür erhalte. Mögen Sie ein gutes Gewissen
       bekommen.
       
       24 May 2019
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Niklas Hüttner
       
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