# taz.de -- Anselm Nefts „Die bessere Geschichte“: Unter dem Deckmantel der Lockerheit
       
       > Anselm Neft thematisiert in seinem neuen Roman sexualisierte Gewalt. Wer
       > bis zum Ende liest, versteht besser, warum so viele Betroffene schweigen.
       
 (IMG) Bild: Angelehnt an die Ereignisse an der Odenwaldschule: der Roman „Die bessere Geschichte“
       
       Vor den Sommerferien galt der 13-jährige Tilman als schwieriger Fall: ein
       empfindsamer Einzelgänger, die Mutter tot, der Vater überfordert. Das neue
       Schuljahr aber beginnt er als Auserwählter, als Schüler der Freien Schule
       Schwanhagen (FSS). Das neugegründete Internat an der Ostsee gilt als Labor
       einer unkonventionellen Pädagogik. Dort lebt man in Kleinfamilien zusammen,
       das Lernen ist selbstbestimmt. Aber, so wird gemunkelt, diese Schule sei
       nicht für alle, manche hielten der Freiheit nicht stand.
       
       Tilman ist entschlossen, so frei wie möglich zu werden. Von der ersten
       Minute an verschreibt er sich dem Credo der FSS: „Werde, der du bist.“ Um
       sich vom Korsett bürgerlicher Moralvorstellungen zu emanzipieren, strebt er
       die Mitgliedschaft in der coolsten aller Familien an. Bei dem
       charismatischen Lehrerpaar Salvador und Valerie Wieland soll es besonders
       wild zugehen, außerdem wohnt Ella dort, die Tilman anhimmelt. Nach einem
       bizarren Aufnahmeritual ist er drin. Und beide Familienoberhäupter scheinen
       dem Neuling ein außergewöhnlich liebevolles Interesse entgegen zu bringen.
       
       „Die bessere Geschichte“ ist erkennbar ein Roman über die
       [1][Odenwaldschule] (OSO). Das Lernen „vom Kinde aus“, die ideologische
       Selbstüberhöhung, die Lage des Campus im Abgeschiedenen: Nur einige Details
       sind verfremdet, wie die Verlegung der Schule vom Hessischen an die Ostsee.
       Das Wesentliche aber, nämlich das Leben in „Kleinfamilien“, in denen unter
       dem Deckmantel der Lockerheit Kinder und Jugendliche von Erwachsenen
       sexuell ausgebeutet wurden, kommt dem nahe, was Ehemalige des abgewickelten
       reformpädagogischen Landerziehungsheims über ihre Schulzeit erzählen.
       
       Valerie und Salvador, dieses liberale Pädagogenpaar aus der Hölle, könnte
       es so wirklich gegeben haben. Sie nehmen nur die schwierigen Fälle: das
       verhaltensauffällige Jugendamtskind, die Tochter einer Sektenanhängerin,
       die traumatisierten Waisengeschwister. Eine Truppe, aus der sie mit Bedacht
       eine Art Geheimzirkel formen, mit Gruppenritualen im Keller und
       „Einzelsitzungen“ in ihrer Datscha. Dort lernen die Heranwachsenden, wie
       man sich locker macht. Und wenn jemand unlocker ist, wird halt
       nachgeholfen. Mit Alkohol, Drogen und manchmal mit Gewalt. Ein
       Grooming-Prozess wie aus dem Lehrbuch – und eine Falle, der auch der
       Protagonist nicht entkommen kann.
       
       ## Ins Trauma eingekapselt
       
       Der Bonner Autor Anselm Neft hat für seinen Roman bei Betroffenenverbänden
       und Altschülern der OSO recherchiert. Selbst war Neft auf dem jesuitischen
       Aloisiuskolleg, auf dem ebenfalls Schüler von Lehrkräften sexuelle Gewalt
       angetan wurde. Die Enthebung des Handlungsrahmens auf ein dem Autor nicht
       nahestehendes Milieu war ein kluger Schachzug.
       
       So kommt man beim Lesen nicht in Versuchung, ständig nach autobiografischen
       Spuren zu suchen, und kann sich dem Erzählfluss der Geschichte anvertrauen.
       Dieser ist flüssig, stimmig und mitreißend. Man wird hineingesogen in eine
       zweideutige Atmosphäre aus Freiheit und Zwang, Fürsorge und Manipulation,
       in der Zwangs-Fellatio in der Foto-Dunkelkammer ebenso an der Tagesordnung
       ist wie das gemeinschaftliche Pornos-Nachspielen mit dem Lehrerpaar am
       Sonntagmorgen.
       
       Besonders interessant wird es, als beschrieben wird, wie die
       „Wieland-Kinder“ nach der Schulzeit mit dem Erlebten umgehen. Während
       Tilmans Jugendliebe Ella mit aller Kraft versucht, eine
       Aufarbeitungskampagne anzustoßen, hat sich der Protagonist in seinem Trauma
       eingekapselt: „Ich brauchte keine Erzieherinnen, die mir bei der
       Anerkennung meiner ,schweren Traumata' auf die Sprünge halfen. Ich schrieb
       den anderen ja auch nicht vor, wie sie ihre Erlebnisse für sich zu deuten
       hatten. Wenn Ella ein Opfer sein wollte, so war das ihr gutes Recht, auch
       wenn sie sich damit keinen Gefallen tat.“ Tilman will zunächst von
       Aufarbeitung nichts wissen. Vielmehr ist er selbst kurz davor, selbst zum
       Täter zu werden. Sexuell auf sehr junge Mädchen fixiert, kreisen seine
       Fantasien zunehmend um Ellas 13-jährige Tochter Lucia.
       
       ## Transgenerationelle Weitergabe
       
       Was Anselm Neft da ziemlich kenntnisreich beschreibt, ist das Phänomen, das
       Psychologen transgenerationelle Weitergabe nennen. Bleibt in der Kindheit
       erlittene Gewalt unbearbeitet, bricht sich das Trauma später Bahn. Der
       (oder die) Erwachsene gibt die Ohnmacht, die Scham, den Ekel und die Wut
       weiter, indem er (oder sie) selbst zum Täter wird. Es gehört zu den
       stärksten – und schlimmsten – Passagen des Buchs, wie Tilman sich im
       Selbstmitleid des Pädophilen suhlt und versucht, sein Begehren zu
       rechtfertigen, wie schon Nabokovs „Lolita“-Erzähler Humbert Humbert und
       unzählige vor ihm.
       
       „Dass täglich Tausende von Kindern in Deutschland von den Erwartungen ihrer
       Eltern verformt und für eine angebliche Leistungsgesellschaft abgerichtet
       wurden – nicht weiter erwähnenswert. Dass ich Lucia liebte, galt hingegen
       in den Augen dieser braven Bürger als eines der größten denkbaren
       Verbrechen.“
       
       Menschen, die als Kinder sexueller Gewalt ausgesetzt waren, haben
       tatsächlich ein erhöhtes Risiko, selbst zu Tätern zu werden. Was hingegen
       als wissenschaftlich widerlegt gilt, ist die von Pädosexuellen gern
       vorgebrachte und im Roman wiederholte These, dass es nur die Tabuisierung
       durch die Gesellschaft sei und nicht das sexuelle Erlebnisse mit einem
       Erwachsenen, was Kindern schade.
       
       ## Außerordentlich mutig
       
       Tilman zieht gerade noch die Reißleine: Er bricht den Kontakt zu Mutter und
       Tochter ab und zieht sich in die schwedischen Wälder zurück. Man kann von
       diesem bilderbuchhaften Ende halten, was man will: Dieser Roman ist
       außerordentlich mutig, weil er sich traut, den Missbrauch jenseits von
       Täter-Opfer-Schemata zu erzählen. Sichtbar werden dadurch die
       vielschichtigen Abhängigkeitsgeflechte hinter pädosexuellen Beziehungen.
       
       Leicht verdaulich ist das nicht. Doch wer bis zum Ende liest, versteht
       etwas besser, warum so viele Betroffene erst Jahrzehnte später über das
       Erlebte sprechen, warum sie so selten Anzeige erstatten und [2][manchmal
       ganz schweigen]. Dieser Erkenntnisgewinn ist ein großes Verdienst dieses
       spannenden Buches.
       
       17 May 2019
       
       ## LINKS
       
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