# taz.de -- „Herkunft“ von Saša Stanišić: Der Festlegung entgehen
       
       > Saša Stanišić erzählt von seiner Fluchtgeschichte und setzt seiner
       > Großmutter ein Denkmal. Herausgekommen ist das fantastische Buch
       > „Herkunft“.
       
 (IMG) Bild: Will von sich und seiner Geschichte erzählen: Autor Saša Stanišić
       
       Nun gut. Dass man von außen auf eine eindeutige Identität und Herkunft
       reduziert und festgelegt werden kann, ist ganz bestimmt eine verstörende
       Erfahrung. Aber wie davon erzählen?
       
       In einer Szene, in der [1][Saša Stanišić] diese Erfahrung aufblitzen lässt,
       wird er, der Erzähler, der sonst alle Register zu ziehen weiß, ganz
       kurzatmig und ungewohnt uneloquent. Die Szene geht so: Jemand kommt ins
       Klassenzimmer, mit einem Blatt Papier in der Hand, auf dem drei Spalten
       vorbereitet sind: Moslem, Serbe, Kroate. Es sind die frühen neunziger Jahre
       in Bosnien. Alle sollen sich eintragen. Zuerst zögern die Schüler, dann
       schreiben die ersten ihren Namen in die jeweiligen Spalten.
       
       Dann macht jemand eine vierte Spalte auf: „Weiß nicht“. Jemand anders setzt
       noch eine fünfte Spalte hinzu: „Jugoslawe“. Streit in der Klasse,
       Schubsereien. Einer fügt eine sechste Spalte an: „Fickt euch alle.“ Doch
       alle Zögerlichkeit und alle Abwehr helfen nicht: Die Maschinerie der
       Festlegungen läuft längst. Der Erzähler beendet die Szene mit einem
       sachlichen Kommentar: „Moslems wurde ein paar Monate später in manchen
       Städten befohlen, ein weißes Tuch am Ärmel zu tragen.“
       
       „Herkunft“ heißt dieses Buch, und das klingt zunächst wenig originell. Aber
       davon sollte man sich nicht abhalten lassen, es zu lesen. In dieser Szene –
       so etwas wie die noch unschuldige Version einer Urszene, die sich später an
       vielen Fronten Exjugoslawiens mit Waffengewalt wiederholen wird – hat der
       Schriftsteller Saša Stanišić gleich zwei Heimaten verloren: Višegrad, die
       Kleinstadt an der Drina, in der er 1978 geboren wurde, und Jugoslawien, den
       Vielvölkerstaat, der sich eben nicht auf nationale, religiöse oder
       kulturelle Identitäten berief und zerfiel.
       
       ## Ein Kommentar zu Europa
       
       Zugleich lässt sich die Szene in diesem auf vielen Ebenen operierenden Buch
       auch als aktueller Kommentar zur Lage in Deutschland und Europa verstehen.
       Schon bald darauf muss Stanišić, zusammen mit seinen areligiösen Eltern als
       Moslems markiert, nach Deutschland fliehen.
       
       Er kommt nach Heidelberg, hat viel Glück, zieht später nach Hamburg, wo er
       heute mit seiner Familie lebt und Kirschbäume sieht, die ihn an die
       Kirschbäume seiner Jugend erinnern, schreibt großartige Romane vor dem
       Hintergrund des Krieges in Exjugoslawien („Wie der Soldat das Grammofon
       repariert“) und auch über das Leben in der Uckermark („Vor dem Fest“), also
       ohne sich auf eine Herkunft reduzieren lassen zu wollen – und denkt jetzt
       eben doch über seine Herkunft nach, und zwar „in einer Zeit, in der
       Abstammung und Geburtsort wieder als Unterscheidungsmerkmale dienten […].
       In einer Zeit, als Ausgrenzung programmatisch und wieder wählbar wurde.“
       
       Die Spalten und die Listen, sie sind zumindest in vielen Köpfen wieder da.
       Und man kann dieses Buch nun so lesen, dass Saša Stanišić neben den kurzen
       Spalten noch eine weitere, allerdings ganz lange und im Grunde nie zu
       füllende Spalte gesetzt hat: die, in der man wirklich von seiner Herkunft
       erzählt, mit allen Ambivalenzen und allen vielfältigen Kreisen der
       Zugehörigkeit und der Ablösung.
       
       Das Buch ist großartig, eins von der Sorte, die man nicht nur lesen,
       sondern eigentlich adoptieren möchte. Zwischen Višegrad und Jugoslawien,
       Heidelberg und Hamburg springt der Erzähler mehrfach hin und her. Für
       Jugoslawien steht der Fußball: Wie die multiethnische Mannschaft von Roter
       Stern Belgrad sich Anfang der neunziger Jahre gegen Bayern München
       behauptete.
       
       ## Abschiednehmen statt Rückkehr
       
       Das schildert Stanišić fast wehmütig. Als er als Jugendlicher in einer
       anderen Szene den Staffelstab der Jugend halten muss, der als
       sozialistisches Ritual durch ganz Jugoslawien getragen wurde, kommen aber
       auch Ironie und Witz zum Zug.
       
       In den Episoden rund um Višegrad geht es dagegen um die konkreten Dinge und
       Menschen. Saša Stanišić besucht seine Großmutter, die noch an seinem
       Geburtsort lebt und, dement werdend, ihre Erinnerungen verliert. Er besucht
       den Friedhof von Oskoruša, auf dem Vorfahren von ihm liegen, beschreibt den
       Alltag und den Werdegang der Menschen.
       
       Der Nostalgieverdacht ist oft nicht weit beim Nachdenken über solche
       Bücher, in denen der Erzähler an den Ort seiner Kindheit zurückkehrt. Bei
       Saša Stanišić geht es aber nicht um Rückkehr, eher um ein Abschiednehmen,
       in dem Szenen und Details der Vergangenheit erst hell aufleuchten. Die
       Drina, die Wälder, die Gesten der Menschen, die Gestalt der Großmutter, der
       Stanišić mit diesem Buch auch eine Art Denkmal setzt: Das alles lässt die
       Erzählung aufleben.
       
       Ein unschuldiger Blick zurück ist das keineswegs. Einmal resümiert der
       Erzähler: „Unbeschwert ist an Višegrad für mich kaum ein Ort mehr. Kaum
       eine Erinnerung nur persönlich. Kaum eine kommt ohne Nachtrag, ohne eine
       Fußnote von Tätern und Opfern und Gräueltaten, die sich dort abgespielt
       haben.“
       
       ## Die Unwahrscheinlichkeit der Integration
       
       In den Heidelberg-Abschnitten ändert sich der Ton. Saša Stanišić hat
       wirklich unglaubliches Glück und weiß das auch. Er kommt an die richtige
       Schule, hat engagierte Lehrer und darf schließlich – während seine Eltern
       Deutschland verlassen müssen und in die USA weiterziehen – auch bleiben.
       
       Stanišić erzählt von der Aral-Tankstelle, die für seine Clique zum
       Treffpunkt wurde, vom Heidelberger Schloss und dem Strampeln seiner Eltern,
       sich in ihrer neuen Lage zurechtzufinden, dazwischen hört man schiere
       Verwunderung heraus: „In Bosnien hat es geschossen am 24. August 1992, in
       Heidelberg hat es geregnet. […] Jedes Zuhause ist ein zufälliges. […] Glück
       hat, wer den Zufall beeinflussen kann.“
       
       Saša Stanišić beschreibt also eine gelingende Integrationsgeschichte und
       ihre Unwahrscheinlichkeit gleich mit. An vielen Stellen hört man dünnes Eis
       bedrohlich knacken. Da ist mehrfach die Wendung von einer „drohenden
       Abschiebung“. Da ist der Gedanke: „Müssten wir jetzt fliehen, wären also
       die Zustände an den Grenzen 1992 so restriktiv gewesen wie an den
       EU-Außengrenzen heute, würden wir Heidelberg nie erreichen. Die Reise wäre
       vor einem ungarischen Stacheldrahtzaun zu Ende.“
       
       ## Jede Herkunft ist speziell
       
       Der Glutkern des Buches aber, das, was Saša Stanišić den
       vereinheitlichenden Listen entgegenhält, ist der Wille, sich auch von all
       den falschen Heimat- und Herkunfts-Diskursen nicht davon abhalten zu
       lassen, seiner Herkunft nachzuforschen und sie sich erzählend anzueignen,
       so vorläufig und tastend das auch nur gehen mag. Saša Stanišić will
       wirklich von seiner Großmutter und von sich erzählen.
       
       Jede Herkunft, kann man in dem Buch erfahren, ist speziell. Jede
       Geschichte, sobald man sie erst genauer ansieht, wird kompliziert und damit
       erst interessant. Auch das ist etwas, was Menschen, die an die
       Einheitlichkeit von Kulturen und Heimaten glauben, nie verstehen werden.
       
       21 Mar 2019
       
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