# taz.de -- Didier Fassins „Der Wille zum Strafen“: Die Irrationalität des Strafens
       
       > Der Sozialwissenschaftler Didier Fassin kritisiert in „Der Wille zum
       > Strafen“ unser Verständnis von Bestrafung und „persönlicher Schuld“.
       
 (IMG) Bild: Um eine Gesellschaft zu verstehen, muss man untersuchen, wie, warum und wen sie bestraft
       
       In einer kleinen Glosse aus dem Jahr 1930 lobt Kurt Tucholsky die
       Eigentümlichkeit des großen Reporters Egon Erwin Kisch, sich in fremden
       Ländern immer zuerst die Gefängnisse anzusehen: „Denn maßgeblich für eine
       Kultur ist nicht ihre Spitzenleistung; maßgebend ist die unterste, die
       letzte Stufe, jene, die dort gerade noch möglich ist.“
       
       Der in Princeton lehrende Sozialwissenschaftler Didier Fassin würde dem
       zustimmen. In seinem Buch „Der Wille zum Strafen“ wird er sogar noch
       grundlegender: Das gesamte staatliche Strafsystem sei als „soziale
       Institution“ ein Indikator für die Affekte und Werte, von denen die soziale
       Welt durchdrungen ist. Um die Gesellschaft besser zu verstehen, müsse man
       deshalb untersuchen, wie und warum sie bestraft und vor allem: wen.
       
       In einem statistischen Parforceritt rechnet Fassin vor, dass in fast allen
       westlichen Gesellschaften, insbesondere in den USA (dem Land mit der
       höchsten Gefangenenquote weltweit), die Häftlingszahlen stark angestiegen
       sind, trotz rückläufiger Kriminalitätsraten. Er begründet diese Entwicklung
       mit einer sinkenden Toleranzschwelle der Gesellschaft gegenüber
       abweichendem Verhalten und einem steigenden Fokus der Politik auf
       Sicherheitsfragen.
       
       Wer hofft, dass Fassin im Lauf seiner Abhandlung auf diese Thesen
       zurückkommt, wird allerdings enttäuscht. Sein Ziel ist ein anderes:
       Basierend auf 10 Jahren ethnografischer Feldforschung in Polizei, Gerichten
       und Gefängnissen will Fassin vermeintliche Selbstverständlichkeiten und
       fixe Definitionen dessen überwinden, was Strafen ist und wie es
       gerechtfertigt wird.
       
       Das beginnt bei einer Antwort auf die Frage, was überhaupt als Strafe gilt.
       Sehr erhellend ist dazu die scheinbar simple Feststellung, dass ein Fokus
       auf Verurteilungen und Haftstrafen viel zu kurz greift. Das zeige nicht nur
       das sehr häufig eingesetzte Mittel des Arrests oder der Untersuchungshaft.
       Insbesondere die Polizei und damit eine Institution, die gar nicht für
       Bestrafung zuständig ist, bezeichnet Fassin als „Erfüllungsgehilfin“ von
       außergerichtlichen Strafen, was er, etwas selektiv, mit einem umfangreichen
       Fallbeispiel polizeilicher Praxis in einem französischen
       Sozialwohnungsviertel veranschaulicht.
       
       ## Zusammenhang von Strafe und Leid
       
       Ein weiteres Definitionsmerkmal, das sich Fassin vornimmt, ist der
       Zusammenhang von Strafe und Leid. Dass Strafen immer mit dem Zufügen von
       Leid einhergehe (etwa in Form einer Inhaftierung), sei für unsere Gegenwart
       zwar richtig. Selbstverständlich ist aber auch das nicht: Denn vormoderne
       Gesellschaften folgten eher einer Wiedergutmachungslogik, also der
       Kompensation einer Straftat durch eine Ausgleichszahlung an das Opfer oder
       seine Familie. Im Deutschen zeugt der etymologische Zusammenhang von
       „Schuld“ und „Schulden“ davon.
       
       Erst mit dem Vormarsch des Christentums im Mittelalter kommt es zu einer
       „moralischen Ökonomie der Strafe“, also einer Verlagerung von der
       Wiedergutmachungs- zur Vergeltungslogik, deren essenzieller Bestandteil das
       Leiden des Täters ist. Vorbild: das Martyrium Jesu, der die Sünden der Welt
       auf sich nimmt. Damit einher geht auch eine individuelle Zurechenbarkeit
       der Strafe, die zur moralischen Besserung des Täters auferlegt wird.
       
       Was Fassin mit dieser theologischen Begründung des Zusammenhangs von Strafe
       und Leiden wenig berücksichtigt, sind politische Faktoren: Der Übergang von
       der (privatrechtlichen) Kompensation zum strafenden Leid läuft parallel zu
       einer wachsenden Relevanz des Staates, der „allgemeingefährliche“
       Handlungen ahndet, die nicht mehr nur Täter und Opfer betreffen, sondern
       die gesamte Gemeinschaft.
       
       So gab es bereits im Rom des dritten Jahrhunderts nach Christus eine Art
       Strafverfolgungsbehörde, geleitet von der Vorstellung, dass bestimmte
       Verbrechen auch Vergehen gegen den Staat sind. Auch sind kompensatorische
       Leistungen nicht gänzlich aus dem modernen Strafrecht getilgt worden: In
       Deutschland gibt es etwa die gesetzliche Regelung eines
       Täter-Opfer-Ausgleichs in Form einer „Schadenswiedergutmachung“, die die
       Strafe mildert oder gar ersetzt.
       
       ## Lust am Strafen
       
       Warum aber wird überhaupt gestraft? Präventiven Theorien zufolge liegt der
       Zweck darin, weitere Straftaten zu verhindern: Am Täter wird ein
       wirkungsvolles Exempel statuiert und die Strafe trägt zu seiner
       (moralischen) Besserung bei. Im Gegensatz dazu geht es der sogenannten
       Vergeltungstheorie nicht um soziale Wirksamkeit: Vielmehr soll die durch
       die Tat verletzte Rechtsordnung wiederhergestellt werden, indem die Schuld
       des Täters durch die Strafe aufgewogen wird.
       
       Interessanterweise entspricht diese Idee vom Schuldausgleich der aktuellen
       Rechtsprechung in Deutschland: 2017 hat der Bundesgerichtshof geurteilt,
       die Grundlage des Strafmaßes sei „die Schwere der Tat in ihrer Bedeutung
       für die verletzte‑ Rechtsordnung und der Grad der persönlichen Schuld des
       Täters“.
       
       Fassin findet auf die Frage nach dem Warum der Strafe noch eine andere,
       kontroversere Begründung: Er unterstellt der Gesellschaft eine Lust am
       Strafen. Indem die Öffentlichkeit immer höhere Strafmaße fordere, vollziehe
       sie die Bestrafung indirekt selbst, mit Hilfe von „Stellvertretern“,
       nämlich der Polizei und den Gerichten.
       
       Fassin erkundet psychoanalytisches Terrain, wenn er mit Begriffen wie
       „Genuss“, „Pornografie“ oder „Erregung“ der Irrationalität des Strafens
       nachspürt. Konventionelle Theorien würden dieser Beobachtung nicht
       ausreichend Rechnung tragen. Ihm selbst gelingt das allerdings auch nur
       bedingt, da sein Ausflug in die Psyche der Gesellschaft sehr knapp
       ausfällt.
       
       ## „Verleugnung der Realität“
       
       Unabhängig davon vernachlässigen alle Theorien des Strafzwecks die zentrale
       Frage danach, wer vor allem betroffen ist von staatlicher Bestrafung. Im
       eindringlichsten Kapitel des Buches macht Fassin sowohl statistisch als
       auch anhand von Fallstudien aus den USA und Frankreich deutlich, dass es
       sozial Unterprivilegierte und ethnische Minderheiten sind, die am stärksten
       unter dem strafenden Staat leiden.
       
       Diese Tatsache lässt sich mitnichten damit erklären, dass bestimmte Teile
       der Bevölkerung nun einmal krimineller sind als andere. So werden schwarze
       Menschen in den USA zum Beispiel drei Mal so oft wegen Verstößen gegen das
       Betäubungsmittelgesetz verurteilt wie Weiße, obwohl sie statistisch weniger
       konsumieren. Dennoch, so Fassin, konzentriere sich die Polizeiarbeit auf
       von vorwiegend Schwarzen bewohnte Sozialwohnungsviertel.
       
       Seine zentrale Kritik: Bei der scheinbar gerechten Zuschreibung
       persönlicher Schuld beziehungsweise Verantwortung für Straftaten handle es
       sich um eine „Verleugnung der Realität“. „Indem sie den Einzelnen mit
       seiner Tat allein lässt, stiehlt sich die Gesellschaft aus der ihr bei den
       sozialen Entstehungs- und Konstruktionsbedingungen der Gesetzesbrüche
       zukommenden Verantwortung“, schreibt Fassin.
       
       In anderen Worten: Man wird nicht verurteilt, weil man schuldig ist,
       sondern man ist schuldig, weil man verurteilt wird. Da mit zunehmender
       sozialer Ungleichheit auch die Gefängnispopulationen ansteigen, sei es
       widersprüchlich, darauf zu pochen, dass ein Verbrechen (oder das, was als
       Verbrechen konstruiert wird) immer die Folge individueller Entscheidungen
       ist.
       
       Man könnte hier nun einwerfen, dass die persönliche Verantwortung für
       Straftaten immer noch eines der zentralsten Mittel unseres Rechtsstaats
       ist, um Willkür und Ungerechtigkeit zu verhindern. Aber Fassin hat Recht:
       Strafen kann nicht mehr nur als Thema philosophischer Gerechtigkeit
       untersucht werden, wenn die sozialen Fragen der (Un-)Gleichheit so
       offensichtlich sind. Seine Studie wirft damit helles Licht auf blinde
       Flecken unseres Strafsystems, das schon lange nicht mehr als Lösung,
       sondern selbst als Problem verstanden werden muss.
       
       25 Feb 2019
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Valentin Feneberg
       
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