# taz.de -- Berlinale – 18. Perspektive Deutsches Kino: Universelles im Persönlichen finden
       
       > Nonkonforme Lebensmodelle, Türsteher und ein verlassenes Venedig: Sven
       > Marquardt und Demenzpatienten in aktuellen Debütfilmen.
       
 (IMG) Bild: Die Perspektive deutsches Kino soll als Plattform dienen: Szene des Films „easy love“
       
       „Ab heute erwachsen“ steht über dem Programm der Perspektive Deutsches
       Kino, die tatsächlich vor 18 Jahren als eine der ersten Amtshandlungen des
       damals neuen Festivalleiters Dieter Kosslick ins Leben gerufen wurde. Dem
       deutschen Filmnachwuchs eine Plattform zu geben war das Ziel, das zunächst
       Alfred Holighaus und dann seine Nachfolgerin Linda Söffker verfolgten.
       
       Etliche spannende Regisseure zeigten hier erste Filme. In früheren
       Jahrgängen waren zum Beispiel Werke von Franz Müller, Volker Sattel, Jan
       Krüger, Robert Thalheim, Dietrich Brüggemann, Sonja Heiss, RP Kahl, Ziska
       Riemann, Jakob Lass, Tom Sommerlatte, Julian Radlmaier oder Susan
       Gordanshekan zu sehen, bevor etliche von ihnen in andere Sektionen
       wechselten, ja, aufstiegen.
       
       Und damit kommt man schon an das Problem, das die Reihe von Anfang an
       begleitete und das auch in diesem Jahr wieder besonders stark zu spüren
       ist: Wenn Regisseure die Möglichkeit haben, dann zeigen sie ihre Filme
       lieber im Forum oder im Panorama, noch lieber natürlich im Wettbewerb. So
       verwundert es wenig, dass die Perspektive Deutsches Kino im Wust der
       Berlinale oft kaum wahrgenommen wird, gerade auch von nicht Deutschen
       Fachbesuchern eher stiefmütterlich behandelt wird, was ihrer Intention als
       Plattform der Zukunft des deutschen Kinos doch etwas entgegenläuft.
       
       ## Zwischen Anfang 20 und Ende 30
       
       Auch in diesem Jahr finden sich etliche vielversprechende Debütfilme in
       anderen Sektionen, von Erik Schmitts „Cleo“ in der Generation, über Xaver
       Böhms „O Beautiful Night“ im Panorama, bis zu Nora Fingscheidts
       „Systemsprenger“ im Wettbewerb, was allerdings auch nicht heißt, dass in
       der Perspektive keine Entdeckungen zu machen wären.
       
       Gleich der Eröffnungsfilm ist da zu nennen, „easy love“ von Tamer Jandali,
       der sich thematisch ganz dem Zeitgeist verschreibt: Um unkonventionelle
       Lebensmodelle geht es, zumindest um Lebensformen, die nicht der
       gesellschaftlichen Norm einer monogamen, heterosexuellen Partnerschaft mit
       ein, zwei Kindern entsprechen. Vier Menschen beschreibt „easy love“, vier
       Charaktere zwischen Anfang 20 und Ende 30, die sich einen Sommer in Köln
       rumtreiben, leben, lieben, Drogen nehmen, sich ausprobieren.
       
       ## Genau beobachtet
       
       Der besondere Ansatz, der Jandalis Film deutlich über allzu viele andere
       Befindlichkeitsfilme ähnlicher Art heraushebt, liegt in der
       semidokumentarischen Form. „Dokumentarischer Spielfilm“ nennt sich das in
       diesem Film, eigentlich ein Widerspruch in sich, der hier aber zu großer
       Nähe und Authentizität führt. Alle vier Typen, vom Enddreißiger Sören, ein
       notorischer Aufreißer, der fast jede Nacht mit einer anderen Frau im Bett
       landet, über die lesbische Lenny, die mit einer Frau zusammen ist, die
       nicht weiß, ob das mehr ist als eine Phase, bis zu Stella, einem
       Hippie-Mädchen, das mit ihrem Freund in einer offenen Beziehung lebt,
       reicht die Bandbreite, die offenbar mehr oder weniger dem Leben der
       Darsteller entspricht.
       
       Wie weit diese Übereinstimmung geht, bleibt offen und ist letztendlich auch
       irrelevant. Was zählt, ist das Ergebnis, und da überzeugt „easy love“ durch
       genau beobachtete Szenen, die in loser Dramaturgie, aber ohne betonte
       Zuspitzung andeuten, wie schwierig es fällt, das theoretisch wunderbar
       funktionierende Lebensmodell mit den Fallstricken der Praxis in Einklang zu
       bringen.
       
       Auch dieser Film fühlt sich deutlich dem ebenso beliebten wie
       problematischen Lehrsatz „Macht Filme über das, was ihr kennt“ verbunden,
       doch was Jandali im Gegensatz zu vielen seiner anderen jüngeren Kollegen
       versteht, ist das Universelle im Persönlichen zu finden. Im Gegensatz zu
       den unvermeidlichen Berlin-Filmen der diesjährigen Perspektive, „Dreißig“
       von Simona Kostova und „Heute oder morgen“ von Thomas Moritz Helm, die kaum
       mehr wagen, als im eigenen Saft zu schmoren. Um die 30-Jährige, die in
       Berlin, meist in Neukölln feiern, das ist das wenig originelle Sujet beider
       Filme, die zudem auch noch frei von stilistischem Gestaltungswillen sind.
       „Hier darf man sich ausprobieren, spielen und auch provozieren.“ heißt es
       in der Selbstbeschreibung der Perspektive, doch davon ist in vielen Filmen
       nicht allzu viel zu spüren.
       
       ## Alltag einer Pflegestation
       
       Was bei klassischen Dokumentation wie David Dietls „Berlin Bouncer“, der
       einen nostalgisch gefärbten Blick auf bekannte Berliner Türsteher wie Frank
       Künster, Smiley Baldwin und – natürlich – Sven Marquardt wirft, oder Stefan
       Sicks „Das innere Leuchten“, der den Alltag von Demenzpatienten in einer
       Pflegeeinrichtung schildert, nicht weiter stört, bei fiktiven Arbeiten aber
       doch irritiert. Willkommene Ausnahme ist „Fisch lernt fliegen“ von Deniz
       Cooper, ein Wiener, der in Venedig gedreht hat. Und das in einem Venedig,
       das auf surreale Weise von Menschen verlassen scheint: Die Gassen leer, die
       Brücken einsam über den Kanälen und in dieser Welt eine junge Frau, die
       ihren toten Goldfisch dem Meer übergeben will. Doch dann hält sie etwas
       zurück, ein Gefühl, ein Gedanke, eine Eingebung, der sie fortan folgt.
       
       In losen Szenen voller absurdem Humor und musikalischen Einsprengseln
       inszeniert Cooper seinen Film, der an die Verspieltheit und vor allem
       Unbekümmertheit der Nouvelle Vague erinnert. Das ist junges, originelles
       Kino, Konventionen ignorierend, ikonoklastisch, vielleicht auch noch so roh
       und aneckend, dass es nicht so recht für die gesetzteren Kategorien der
       Berlinale passt. Doch leider sind solche Solitäre auch in der Perspektive
       Deutsches Kino rar gesät.
       
       8 Feb 2019
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Michael Meyns
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Schwerpunkt Berlinale
 (DIR) Kinonachwuchs
 (DIR) Türsteher
 (DIR) Schwerpunkt Berlinale
 (DIR) Deutscher Film
 (DIR) Skateboard
 (DIR) Schwerpunkt Berlinale
 (DIR) Berghain
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Deutsches Kino auf der Berlinale: Wege in die Zukunft
       
       Die Berlinale-Sektion Perspektive Deutsches Kino bietet aufstrebenden
       Filmemachern ein Forum. Ihr aktueller Jahrgang ist wagemutig.
       
 (DIR) Neuer Film von Tom Sommerlatte: Wo zu Boney M. getanzt wird
       
       Tom Sommerlatte erkundet in seiner Balladenkomödie „Bruder Schwester Herz“
       das Potenzial des Westerngenres in Ostdeutschland.
       
 (DIR) Berlinale „Mid90s“: Devianz unter kalifornischer Sonne
       
       Ein Teenie entflieht der Familienhölle und gewinnt Streetsmartness in der
       Skaterszene. Über das Regiedebüt des Schauspielers Jonah Hill.
       
 (DIR) Berlinale „Born in Evin“: Die Rettung des iranischen Films
       
       Maryam Zarees Werk berichtet von den Nachwirkungen der Iranischen
       Revolution im Exil und ist ein Highlight aus der Perspektive Deutsches
       Kino.
       
 (DIR) Zehn Jahre Berghain: Urschrei und Knäckebrot
       
       Wer sich in dieser Stadt mit Pop beschäftigt, wem das Nachtleben etwas
       bedeutet, der kommt am Berghain nicht vorbei. Zum Jubiläum.
       
 (DIR) Deutsche Filme auf der Berlinale: Wider die Fernseh-Versuppung
       
       Eltern, Nebenjobs, Filmstiftung: Es gibt viele Möglichkeiten, Kinofilme zu
       finanzieren. Das beweisen die jungen Regisseure auf der Berlinale.