# taz.de -- Schachweltmeister Bobby Fischer: Der lange Abstieg einer Legende
       
       > Bobby Fischer verbrachte die letzten Jahre seines Lebens als gebrochener
       > Mann in Island. Erstmals spricht nun der Priester, der ihm den letzten
       > Segen gab.
       
 (IMG) Bild: 1. August 1972: Bobby Fischer (rechts) bei seinem historischen WM-Erfolg gegen Boris Spasski
       
       Laugardælir/Reykjavík taz | Das Ende, der Schnee, die Nacht, die nicht
       vergehen will. Es hat mächtig geschneit, fast einen Meter hoch. Mühsam hat
       ein kleiner Bagger ein Grab ausgehoben, gleich links vom Eingang zur
       Dorfkirche von Laugardælir. Sie liegt neben einem Gehöft in der Nähe des
       Städtchen Selfoss im Süden von Island. Fast am Ende der Welt.
       
       Nun tritt eine Handvoll Trauernde vor die Grube. Unter dem Licht der
       Scheinwerfer des Baggers wird ein einfacher Holzsarg in die Erde
       hinabgelassen. Still ist es und noch stockdunkel. Das Morgengrauen ist
       hier, hoch im Norden, Mitte Januar bloß zu erahnen, auch jetzt noch, gegen
       zehn Uhr früh. Jakob Rolland, ein katholischer Priester, macht ein
       Kreuzzeichen über dem Grab, spricht den Segen – der letzte Liebesdienst,
       den die Kirche einem Menschen erweisen kann. Die Trauernden schauen dem
       Sarg hinterher. Mehr ist nicht zu sagen. Mehr ist nicht zu tun. Dann geht
       es zum Frühstück.
       
       Vor elf Jahren, am 21. Januar 2008, wird so in aller Heimlichkeit ein
       genialer, sehr schwieriger Mensch beerdigt, einst ein Meister seines
       Metiers, dessen unbestrittener Ruhm jedoch schon lange verblasst war, aus
       eigener Schuld: Bobby Fischer, von 1972 bis 1975 der 11. Schachweltmeister,
       über den viele andere Großmeister seiner und späterer Generationen
       urteilen, er sei der Beste gewesen, den das brutale Spiel mit den kleinen
       Figuren je gesehen habe.
       
       Aber wie kam es dazu, dass Fischer so heimlich beerdigt wurde? Und warum,
       obwohl jüdischer Herkunft, von einem katholischen Priester?
       
       Jakob Rolland ist ein feiner Herr elsässischer Herkunft von Mitte 60.
       Aufmerksam und zugewandt sitzt er in einem kleinen Besprechungsraum der
       Verwaltungszentrale des Bistums von Reykjavík, zu dem die ganze Insel
       gehört, in einem schmucklosen Flachbau, der ein wenig einem Volksschulheim
       aus den 1960ern gleicht.
       
       Vater („Séra“) Jakob hat noch nie mehr als zwei Sätze über die Beerdigung
       von Bobby Fischer verloren – obwohl kurz nach dessen heimlicher Beisetzung
       Presseleute aus der ganzen Welt ihn bedrängten. Erst jetzt, nach knapp elf
       Jahren, sieht er die Zeit dafür gekommen.
       
       Druckreif spricht Jakob Rolland Deutsch, sein französischer Akzent ist nur
       ein Hauch. Vor Jahrzehnten kam er nach Island, um der winzigen katholischen
       Minderheit auf der Insel im Nordatlantik als Seelsorger beizustehen. An
       diesem dunklen Januarmorgen vor elf Jahren hat er sich um eine besondere
       Seele gekümmert, die eines Champions, der eigentlich schon lange am Ende
       war, einer tragischen Figur, nur noch ein Schatten ihrer selbst.
       
       ## Gnadenloser Spieler
       
       Bobby Fischer, der in diesem Jahr 76 geworden wäre, [1][ist für etwa zwei
       Jahrzehnte, ab Mitte der 1950er Jahre, eine Größe im Schach.] Zunächst wird
       er in seiner Heimat, den USA, als Wunderkind des Spiels bestaunt, dann
       weltweit als meist aggressiver, gnadenlos attackierender Meister
       gefürchtet. „Ich mag den Moment, wenn ich das Ego eines Mannes breche“, hat
       er damals gesagt.
       
       Anfang der 1970er Jahre gelingt es Fischer, die Jahrzehnte anhaltende
       Dominanz der russisch-sowjetischen Schachweltmeister zu brechen. Der
       schlaksige Amerikaner wird für viele eine Symbolfigur für die angebliche
       Überlegenheit des Westens im Kalten Krieg. Noch heute erscheinen Bücher und
       Filme über Fischer. Der norwegische amtierende Weltmeister Magnus Carlsen,
       der ebenfalls auf eine Vergangenheit als Schachwunderkind zurückblicken
       kann, sagte vor drei Jahren, Fischer wäre ein Traumgegner. Er ist eine
       Legende schon zu Lebzeiten und ein Erneuerer des uralten Spiels.
       
       Und Island war der Ort seines größten Triumphs. Ab dem 11. Juli 1972
       spielen in einer Sporthalle in Reykjavík der damals 35 Jahre alte
       amtierende Schachweltmeister Boris Spasski aus der Sowjetunion und Bobby
       Fischer, 29, um den Weltmeistertitel. Es werden 21 Partien in knapp zwei
       Monaten – ein weltweit beachtetes Spektakel, auch dank der teilweise
       skurrilen Marotten der beiden Spieler.
       
       Schon nach dem ersten Spiel weigert sich Fischer weiterzuspielen, solange
       nicht alle Kameras entfernt worden seien: Sie surrten zu laut. Das dritte
       Spiel, das verlangt Fischer ultimativ, wird in einem Nebenraum ohne
       Zuschauer gespielt. Das Publikum im Saal bekommt lediglich eine
       TV-Übertragung zu sehen. Zum vierten Spiel kehren Spasski und Fischer
       wieder in den Saal zurück, auch wenn sich Fischer beklagt, dass das
       Schachbrett zu viel Licht reflektiere. Spasski beklagt sich seinerseits
       über ein angebliches Hilfsgerät der Gegenseite, mit dem seine Gehirnwellen
       gestört würden.
       
       ## Antisemitische Verschwörungsfantasien
       
       Der Wettkampf wird von Fachleuten häufig als das „Match des Jahrhunderts“
       bezeichnet und endet mit einem beeindruckenden 12,5:8,5-Sieg Fischers. Es
       wird sein einziger Weltmeistertitel bleiben. Sowohl spielerisch wie mental
       geht es mit ihm anschließend bergab. Er zieht sich vom Turnierschach zurück
       und verliert seinen Titel 1975 automatisch an Anatoli Karpow.
       
       Nur noch einmal spielt Fischer einen Wettkampf, 1992, wieder gegen Spasski.
       Er findet in Jugoslawien statt – und gilt als Verstoß gegen das von den USA
       wegen des Bosnienkrieges über den zerbrechenden Balkanstaat verhängte
       Wirtschaftsembargo. Weil Fischer deshalb eine Haftstrafe von bis zu zehn
       Jahren und eine Geldstrafe von 250.000 Dollar drohen, reist er niemals mehr
       in die USA ein.
       
       Fischer irrt nun in der Welt herum, heimatlos. Immer häufiger übt er
       überaus scharfe Kritik an seinem Heimatland – bis zu seinem Tiefpunkt am
       Tag der Anschläge vom 11. September 2001. In einem Interview mit einem
       philippinischen Radiosender [2][bezeichnet er das gezielte Massaker, in dem
       knapp 3.000 Menschen umkamen, als wunderbar:] Es sei an der Zeit gewesen,
       dass die beschissenen USA mal einen Tritt in die Fresse bekommen hätten, er
       sähe die USA gern ausgelöscht.
       
       [3][Ähnlich irre und verletzend entwickelt sich die Judenfeindlichkeit
       Fischers.] Sie wird zu einer Manie, einer Konstante seines Denkens, samt
       den üblichen Verschwörungstheorien, und das, obwohl er eine jüdische Mutter
       hat, was er nach Möglichkeit verschweigt. Im September 2000 erklärt er
       öffentlich, „die Juden“ kontrollierten die USA total, die US-Regierung sei
       eine Fassade: „Das ist nur eine Puppe in den Händen von Juden, ein
       Spielzeug der Juden.“ Ein Jahr zuvor hatte Fischer schon den Holocaust
       geleugnet.
       
       ## Neunmonatige Haft in Japan
       
       Seit 2000 lebt Fischer in Japan bei seiner Freundin Miyoko Watai –
       ebenfalls eine Schachmeisterin und bis heute eine hohe Funktionärin im
       japanischen Schachverband. Dabei reist er alle drei Monate jeweils kurz
       aus, etwa nach Manila, um bei der Wiedereinreise nach Japan ein neues
       Touristenvisum zu erhalten.
       
       Bis am 13. Juli 2004 ein japanischer Beamter am Internationalen Flughafen
       von Tokio, auf Drängen des US-Außenministeriums im Hintergrund, Fischers
       amerikanischem Pass einen „Ungültig“-Stempel verpasst. Fischer wird immer
       noch per Haftbefehl gesucht, nicht nur wegen Unterlaufens der Sanktionen
       gegen Jugoslawien, sondern offenbar auch wegen hoher Steuerschulden:
       Öffentlich rühmt er sich, seit Jahren keine Steuern mehr gezahlt zu haben.
       
       Es folgt eine neunmonatige Haft in Japan, ehe die isländische Regierung ihm
       als „humanitäre Geste“ die Staatsbürgerschaft anbietet. Er nimmt an und
       lässt sich 2005 mit Miyoko Watai – die er im Gefängnis geheiratet hatte –
       in Reykjavík nieder. Doch schon damals ist Fischer ein gebrochener und
       kranker Mann. Selbst Freunde von ihm kommen zu dem Urteil, dass er unter
       Verfolgungswahn leidet. Menschen meidet er. „Bobby Fischer ging vor sich
       her, ohne die Leute zu grüßen – und dann ging er in einen Buchladen, ein
       Antiquariat, und hat Comics gelesen, Donald Duck und so“, erinnert sich
       Jakob Rolland. „So hat er den Tag verbracht. Also irgendwie war mit ihm
       etwas nicht ganz richtig.“
       
       In dieser letzten Phase seines Lebens wird der isländische Journalist,
       Autor und Menschenrechtsaktivist Garðar Sverrisson der beste Freund
       Fischers – ihm vertraut er völlig, wie Fischer bekundet. Der
       Hobbyschachspieler Garðar hatte zu den Menschen gehört, die sich für die
       Entlassung Fischers aus japanischer Haft und die Aufnahme in Island
       einsetzten.
       
       ## Schmerzmittel abgelehnt
       
       Fischer macht Ausflüge mit Sverrisson und seiner Frau, sie gehen zusammen
       schwimmen. „Sie wohnten im gleichen Block, im gleichen Haus in ihren
       Wohnungen“, sagt Jakob Rolland, „Bobby Fischer war fast jeden Tag bei ihm.
       Garðar hat alles für ihn getan.“ Auch Rolland ist mit Sverrisson
       befreundet, der Geistliche hatte ihn in die katholische Kirche aufgenommen.
       
       Im Januar 2008 verschlechtert sich Fischers Gesundheitszustand immer mehr.
       „Als er krank wurde, am Ende litt er an Nierenversagen, wollte er nicht,
       dass die Ärzte mit Dialyse und solchen Dingen bei ihm anfangen“, erzählt
       Jakob Rolland. Warum? Dafür hat der Priester diese auf Gesprächen mit
       Sverrisson beruhende Erklärung: „Das war nach Bobby Fischers Ansicht gemäß
       der Natur. Wenn Organe nicht mehr funktionieren, dann soll es so sein. Dann
       muss man das respektieren.“ Auch Schmerzmittel soll Fischer abgelehnt
       haben.
       
       Ganz zum Schluss wird er aber doch ins Krankenhaus Landspítali in Reykjavík
       eingewiesen. [4][Hier stirbt Bobby Fischer am 17. Januar 2008, im Alter
       von 64 Jahren.] Garðar Sverrisson ist bei ihm. Dass es plötzlich so schnell
       gehen wird, ahnen sie nicht.
       
       Es ist mitten am Tag. Sverrisson ruft Rolland an, fragt, ob er zum
       Krankenhaus kommen kann. „ ‚Da ist ein Freund von mir gestorben‘, hat er
       gesagt. Er hat den Namen nicht genannt.“ Rolland eilt sofort zum
       Landspítali. „Vor der Zimmertür sagte Garðar zu mir: ‚Das ist Bobby
       Fischer. Kannst du ein paar Gebete für ihn sprechen?‘ “
       
       ## Gebete für den Toten
       
       Jakob Rolland ist überrascht, aber auch Profi. Er geht ins Totenzimmer,
       Fischer erkennt er kaum. Dann verrichtet er ein paar Gebete für den Toten.
       
       Christliche Gebete für einen Toten jüdischer Herkunft? Rolland sagt, nach
       Auskunft Sverrissons sei das im Sinne Fischers gewesen. Er habe einen
       katholischen Priester gewollt. Fischer habe zu seinem Freund Sverrisson
       gesagt, als dieser zum Katholizismus konvertierte: „Das ist die richtige
       Entscheidung. Die katholische Kirche ist etwas, worauf du dich verlassen
       kannst.“
       
       Fischer habe auch eine katholische Beerdigung gewünscht, das offenbart
       Sverrisson Rolland noch im Krankenhaus. Keine Beerdigung in aller
       Öffentlichkeit mit all den Leuten, die ihn für sich vereinnahmen wollten,
       vom Isländischen Schachverband, von der Regierung und so weiter. „Da fühlte
       er sich in Beschlag genommen. Das wollte er nicht“, sagt Rolland. „Er
       wollte eine Beerdigung in aller Schlichtheit.“
       
       Schnell wird klar: Sverrisson hat schon alles vorbereitet: „Seine Frau kam
       von einem Hof bei Selfoss, dort gibt es eine kleine Kirche, um die sich
       ihre Eltern kümmerten. Wir könnten ihn dort beerdigen, am Montag, möglichst
       früh, wenn alles dunkel ist.“
       
       Vier Tage später ist es so weit. In der Nacht zuvor hat es heftig
       geschneit. „Ich dachte: ‚Meine Güte, da komme ich vielleicht gar nicht hin
       in meinem kleinen Auto!‘“, erinnert sich Jakob Rolland. Doch der wegen der
       Journalisten leicht getarnte Leichenwagen hatte die Spur schon vorgegeben,
       Rolland braucht ihr nur zu folgen, zum Gehöft und der Kirche in der Nähe
       von Selfoss.
       
       ## Eine intime Beerdigung
       
       Nur vier weitere Trauergäste sind außer ihm anwesend, erinnert sich Jakob
       Rolland: Bobby Fischers Ehefrau Miyoko Watai, Garðar Sverrisson, dessen
       Frau und ihre gemeinsame Tochter. „Ich konnte eigentlich keine katholische
       Beerdigung in dem Sinne abhalten. Denn ich wusste nicht, ob Bobby Fischer
       wirklich gläubig ist. Ich habe dann allgemein für ihn gebetet. Und
       ebenfalls für seine Angehörigen.“
       
       An seine Predigt erinnert sich Jakob Rolland nur noch in Grundzügen. Er
       sprach über Menschen, die die Geschichte der Menschheit wesentlich
       verändert haben. „Ich habe Mozart erwähnt – bei seiner Beerdigung waren nur
       sechs Leute. Und doch gibt es in der Welt der Musik keinen Größeren als
       Mozart.“ Und auch von Jesus spricht Rolland, denn auch hier sieht er eine
       Parallele: „Als Jesus starb, waren da nur seine Mutter und ein paar Frauen,
       sonst hat ihn niemand begleitet, nicht einmal seine Jünger. Aber ein
       römischer Soldat war da – der sagte angesichts dieses Geschehens am
       Karfreitag: ‚Wahrhaft, dieser Mann war der Sohn Gottes.‘ Ich habe gesagt:
       So ist es heute. Dieser Mann, Bobby Fischer, wird jetzt beerdigt, ohne dass
       die Welt davon erfährt. Aber was er hinterlässt, hat auch eine Bedeutung
       für die ganze Menschheit.“
       
       Der Grabstein von Bobby Fischer ist sehr schlicht – nur wenige Touristen
       oder Schachfans verirren sich hierher. Die Bescheidenheit der Grabstätte
       ist anrührend. Sie imponiert Jakob Rolland bis heute. „Das war sein Wunsch.
       Alles, was groß und bombastisch war, war überhaupt nicht sein Stil. Er
       wollte still und in Einklang mit der Natur und dem Schöpfer leben und
       sterben. ‚Schöpfer‘ – ob er das gesagt hat, weiß ich nicht, aber so hat es
       sein Freund Garðar geschildert.“
       
       Es war das der letzte Sieg des brillanten Taktikers. Der tief gefallene
       Bobby Fischer hat am Ende, durch ein paar Tricks, bekommen, was er sich
       gewünscht hatte: eine stille Beerdigung. „So still wie jeder Mensch“, sagt
       Jakob Rolland.
       
       Epilog: Wenige Jahre nach der Beerdigung wird die Totenruhe Bobby Fischers
       gestört. Seine sterblichen Überreste werden exhumiert, es werden DNA-Proben
       entnommen, um eine etwaige Vaterschaft zu klären. Dabei stellt sich heraus,
       dass die junge Frau, die sich als seine Tochter ausgibt, nicht sein Kind
       ist. Seitdem darf Bobby Fischer wieder ruhig in seinem stillen Grab liegen,
       im Süden Islands.
       
       18 Jan 2019
       
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