# taz.de -- Vergabe von Psychotherapieplätzen: Krank genug?
       
       > Jens Spahns Idee zur Vergabe von Therapieplätzen ist absurd. Die Suche
       > nach PsychotherapeutInnen wird noch schwerer, als sie jetzt schon ist.
       
 (IMG) Bild: „Erkrankte realisieren oft nicht, dass sie krank sind“
       
       Die [1][Reformidee von Jens Spahn] trägt den recht sperrigen Titel
       Terminservice- und Versorgungsgesetz. Damit will der
       Bundesgesundheitsminister (CDU) erreichen, dass gesetzlich Versicherte
       schneller Arzttermine bekommen, vor allem auch Plätze bei
       PsychotherapeutInnen. Der Gesetzesentwurf sieht außerdem vor, dass, bevor
       der oder die Kranke eineN TherapeutIn sieht, „GutachterInnen“ in einem
       Vorgespräch über die Dringlichkeit einer Therapie entscheiden. Die
       Entscheidung, wer wirklich krank ist und wer nicht, läge dann in der Hand
       einer dritten Person. Das klingt wie: Therapieplätze muss man sich
       verdienen – so wie alles im Leben, nicht wahr?
       
       Doch Spahn hat nicht nur ein abstruses Gesetz vorgelegt, er heizte die
       Diskussion außerdem mit unsensiblen und faktisch falschen Aussagen an. So
       stellte er zum Beispiel die steile These auf, dass mehr
       PsychotherapeutInnen mehr Nachfrage schaffen würden. „Die Stadt mit dem
       höchsten Versorgungsgrad in der psychotherapeutischen Versorgung ist
       Freiburg; die Stadt mit den längsten Wartezeiten ist – Freiburg“, hatte er
       schon im September im Bundestag gesagt.
       
       Damit behandelt er die geistige Gesundheit von Menschen und das Bedürfnis
       nach deren Aufrechterhaltung nach denselben marktwirtschaftlichen
       Prinzipien wie Smartphones, Make-up oder Süßigkeiten. Nicht nur, dass die
       PsychotherapeutInnenkammer die Annahme, dass mehr TherapeutInnen zu mehr
       Nachfrage führten, längst widerlegen konnte. Ich als Betroffene, die selbst
       aufgrund einer posttraumatischen Belastungsstörung – laut Spahns Definition
       vermutlich krank genug – akut nach einem Therapieplatz gesucht hat, denke
       mir: Ja, und? Was ist verkehrt an einer hohen Nachfrage? An PatientInnen,
       die im Spahn’schen Sinne vielleicht gar nicht „krank genug“ sind, sondern
       die präventiv eine Therapie machen?
       
       Ich habe FreundInnen, die „nur“ wegen Liebeskummer zur Therapie gingen,
       andere suchten lediglich jemanden zum Reden. Habe ich deshalb das Gefühl,
       dass mir dadurch etwas weggenommen wird? Nein. Ändern solche Aussagen etwas
       an der Tatsache, dass Menschen durchschnittlich 20 Wochen auf einen
       Therapieplatz warten müssen? Mitnichten.
       
       Besonders kompliziert an psychischen Krankheiten ist die Diagnose.
       Erkrankte realisieren oft nicht, dass sie krank sind. Man kann sich nicht
       einfach ein Thermometer unter den Arm klemmen und wissen: Ja, ab einer
       Körpertemperatur von 38,3 Grad leide ich an Depressionen. Außerdem äußern
       sich viele Krankheiten auch in Episoden und in unterschiedlichen
       Intensitäten.
       
       ## Barrieren verhindern Hilfe
       
       Spahn möchte nun, dass „ExpertInnen“ in einem Vorgespräch die optimale
       Diagnostik aufstellen. Nicht nur, dass Betroffene dadurch eine zusätzliche
       Hürde bewältigen müssen. TherapeutInnen wird außerdem ihre Expertise
       abgesprochen. Klar, auch den besten TherapeutInnen unterlaufen
       Fehldiagnosen und auch diese ziehen vielleicht mal „die falschen“
       PatientInnen vor. Vielleicht müssen wir uns auch von dem Gedanken
       verabschieden, dass PsychotherapeutInnen grundsätzlich engelsgleiche, mit
       Helferkomplex beladene Gestalten sind. Ich persönlich vertraue darauf, dass
       sie nach bestem Wissen und Gewissen handeln. Ohne dieses Vertrauen
       funktioniert Psychotherapie schon mal gar nicht.
       
       Viele Menschen holen sowieso freiwillig (!) eine weitere Meinung ein, sei
       es bei einer Beratungsstelle, weil man sich in der bürokratischen Einöde
       nicht zurechtfindet, bei HausärztInnen oder PsychiaterInnen, die zum
       Beispiel auch einschätzen können, ob eine medikamentöse Behandlung oder
       eine Gesprächstherapie oder beides in Frage kommt. Bei mir war es meine
       Hausärztin, die sich meine körperlichen Schmerzen nur noch durch
       Psychosomatik erklären konnte. Entscheidet man sich selbst, einen weiteren
       Experten zu konsultieren, tut man das ohne Angst, dass man schon bei einer
       ersten Anlaufstelle von einer fremden Person abgeschmettert wird, die,
       dramatisch ausgedrückt, über dein Leben entscheidet.
       
       Besonders dreist finde ich Spahns Aussagen über Angebot und Nachfrage, weil
       ich am eigenen Leibe erfahren habe, wie kompliziert es sowieso schon ist,
       erst einmal auf dem heißbegehrten Therapiestuhl zu sitzen. Denkt er
       wirklich, dass Leute, die das alles gar nicht nötig haben, sich den Stress,
       die Erniedrigung und den Seelen-Striptease antun wollen? Hier kommen wir
       nämlich zum eigentlichen Problem: Menschen, die nach Spahns Definition
       Therapie wirklich nötig haben, werden so viele Hürden in den Weg gestellt,
       dass sie sie oft kaum bewältigen können. Sie fallen dann durch das Raster.
       Wenn also ein „gesunder“ Mensch einem „kranken“ etwas wegnimmt, dann nicht,
       weil das Angebot zu groß ist, sondern weil das System ihn/sie daran
       hindert. Wenn dann noch (Sprach-)Barrieren und andere (psychische)
       Erkrankungen, wie eine Sozialphobie, die alleine schon ein Telefonat
       unmöglich macht, hinzukommen, ist die Teilnahme am Therapiefindungsprozess
       quasi unmöglich.
       
       ## Zwei Klassen und Papierberge
       
       Sprechen wir über das Kassensystem. Natürlich greift das
       Zwei-K(l)assen-System auch bei der psychotherapeutischen Versorgung. Viele
       TherapeutInnen lassen sich nur privat bezahlen. Menschen, die mehr Geld
       haben, bekommen hier eindeutig den Vortritt. Wenn man bedenkt, dass Spahn
       dieses klassistische System stützt – auch wenn er dazu immer wieder
       uneindeutige Meinungen vortrug –, dann steht das im Widerspruch zu seinen
       Reformplänen. Findet man als KassenpatientIn keinen einfachen Kassenplatz,
       kann man ein Kostenerstattungsverfahren anstreben. Dafür muss man beweisen
       und protokollieren, dass man schon von mindestens fünf KassentherapeutInnen
       abgewiesen wurde. In meinem Fall musste ich sogar sieben Ablehnungen
       nachweisen.
       
       Meine Erfahrung: Auf circa 30 Anrufe bei TherapeutInnen kommt eine
       Einladung zum Erstgespräch. Für sehr dringende Fälle gibt es seit 2017 eine
       Regelung, die eine Einladung garantieren soll. Die meisten dieser 30
       Nachrichten, die man in einem verzweifelten Moment nachts auf den
       Anrufbeantworter geweint hat, bleiben ohne Reaktion. Selbst wenn man ein
       Erstgespräch ergattert, ist das noch keine Zusage zu einer vollwertigen
       Therapie. Vorher heißt es googeln, herumfragen, Straßen abklappern, Nummern
       und Mails notieren.
       
       Und, noch wichtiger: Welche Therapieform möchte man überhaupt machen? Eine
       tiefenpsychologisch fundierte oder eine Verhaltenstherapie? Oder doch eine
       analytische? Und was ist überhaupt eine systemische Therapie? Wenn man dann
       eine Zusage hat, aber feststellt, dass Therapiemodell und/oder BehandlerIn
       nicht zu einem passen, geht die Tortur von vorne los.
       
       Die Anträge für das Kostenerstattungsverfahren bedeuten wieder Papierberge
       für PatientIn und TherapeutIn und aus eigener Erfahrung weiß ich, dass die
       Kassen in den meisten Fällen den Antrag erst einmal ablehnen. Ein bis zwei
       Widersprüche muss der TherapeutIn in der Regel einlegen. Das bedeutet: Man
       verliert Zeit. Wenn man nun also dringend Hilfe sucht, eine geeignete
       Stelle gefunden hat, sich wohlfühlt und endlich loslegen kann, muss man auf
       die Kasse warten und wieder Angst haben, dass es im schlimmsten Fall bei
       einer Ablehnung bleibt. Ein zwingend notwendiger Konsiliarbericht – der
       meiner Meinung nach schon längst die „ExpertInnenmeinung“, die Spahn
       fordert, darstellt – wirkt bei dem bürokratischen Aufwand wie ein
       Schmierzettel.
       
       ## Vermisste Empathie
       
       Immerhin: Der Widerstand gegen Spahns Gesetzesvorhaben ist immens.
       PsychotherapeutInnen wehren sich, die Bundespsychotherapeutenkammer und die
       Kassenärztliche Vereinigung haben Spahns Thesen bereits widerlegt. Eine
       Petition gegen das geplante Gesetz wurde von fast 160.000 Menschen
       unterschrieben
       
       Jens Spahn hat nun angekündigt, kompromissbereit zu sein. Am vergangenen
       Donnerstag wurde sein Gesetzesvorhaben zum ersten Mal im Bundestag gelesen.
       
       Dennoch: So richtig freuen kann ich mich nicht darüber, denn die Versorgung
       bleibt weiterhin miserabel. Auch die Petition macht mir kaum Hoffnung: Sind
       die 160.000 Stimmen Solidaritätsbekundungen oder alles verzweifelte
       Betroffene?
       
       Wenn man bedenkt, dass laut Bundespsychotherapeutenkammer in Deutschland
       jährlich etwa 19 Millionen Menschen von einer psychischen Erkrankung
       betroffen sind, wirkt der Gegenwind wie ein laues Lüftchen.
       
       Ich frage mich, wie psychische Erkrankungen endlich entstigmatisiert werden
       können, wenn nicht einmal der Gesundheitsminister einen Funken Empathie
       oder Verständnis dafür hat.
       
       17 Dec 2018
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
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