# taz.de -- Vom Leben mit einer bipolaren Störung: Plötzlich ist nichts mehr normal
       
       > Jens Cencarka-Lisec ist Mitte 40, als er die Diagnose erhält. Nun soll er
       > einen Teil von sich bekämpfen. Und lernt, damit umgehen.
       
 (IMG) Bild: Von den letzten fünf Jahren hat Jens Cencarka-Lisec etwa acht Monate in Kliniken verbracht
       
       In mir herrscht Krieg. Ich habe einen inneren Feind, gegen den ich immerzu
       kämpfe. Gegen diesen Feind schicke ich meine Heerscharen, aber die kommen
       geschlagen zurück. Noch habe ich nur Schlachten verloren. Den Krieg darf
       ich nicht verlieren.
       
       Das Absurde aber ist: Mir ist gar nicht richtig klar, warum ich gegen
       diesen Feind überhaupt kämpfe. Der ist doch ein Teil von mir. Zwar ein Teil
       von mir, den ich nicht erklären kann, der auch gern den Schalter umlegt,
       mal in die, mal in die andere Richtung – aber eben ein Teil von mir. Ich
       muss versuchen, eine halbwegs vernünftige Koexistenz herzustellen, wenn ich
       mit der Bipolaren Störung umgehen will. Aber befrieden kann ich den Zustand
       nicht. Der Krieg in mir wird den Rest meines Lebens weitergehen.
       
       ## * * * 
       
       Was mit mir los ist, wurde richtig klar 2014, da war ich 44 Jahre alt. Das
       Jahr war eine Zäsur. Ich ging mit Freunden auf eine Reise, die gründlich
       schief ging. Geplant war ein Segeltörn von New York nach Deutschland. Schon
       New York hat mich gestresst, die Stadt war so laut und wahnsinnig heiß. Als
       wir dann aus New York raus gefahren sind, den Hudson hinunter, vorbei an
       der Freiheitsstatue, habe ich den Anker eingepackt – und mir wurde
       schlecht. Zuerst dachte ich noch: Ist ja normal, ich habe ja gerade nach
       unten geguckt. Oder ich bin seekrank. Aber das ging nicht mehr weg. Das war
       dann doch eine andere Nummer.
       
       Mir war permanent komisch auf dieser Reise – außer, es ist gerade was
       passiert, es waren Wale da oder irgendeine Action, wie an dem Tag, an dem
       wir jemanden aus Seenot gerettet haben. Ansonsten habe ich in meiner Koje
       gelegen und trübe vor mich hingestarrt. Alles war schlimm und schrecklich.
       Die anderen haben irgendwann Angst bekommen, dass ich über die Reling
       hüpfe, und beschlossen, dass ich nach Hause muss. Also sind wir abgebogen
       zu den Bermudas. Von da aus bin ich dann zurückgeflogen, begleitet von
       einem meiner Freunde.
       
       Über den Sommer habe ich mich erholt, hatte in der Freien Schule, in der
       ich damals als Geschäftsführer arbeitete, viel zu tun und dachte, mir
       geht’s wieder gut. Bis mich die Kollegen eines Tages zum Teamgespräch
       geladen und mir gesagt haben: So, Jens, du packst jetzt deine Sachen, gehst
       nach Hause, lässt dich krankschreiben und kommst mindestens zwei Wochen
       nicht wieder.
       
       Ich habe gar nicht verstanden, was die meinen, was die von mir wollen. Die
       sagten: Du bist unerträglich, ein völliger Kontrollfreak. Du bist unfassbar
       nervig und gereizt. Okay, hab ich mir da gesagt, geh ich morgen halt mal zu
       meiner Hausärztin. Und die hat mich dann direkt einweisen wollen. Das war
       noch komischer, das habe ich erst recht nicht verstanden, mich aber
       trotzdem krankschreiben lassen.
       
       Also habe ich zu Hause rumgehangen, und mich mit meiner Frau so schwer
       gestritten, so existenziell, das sie mir nach 19 Jahren Ehe mit Trennung
       gedroht hat. Am darauf folgenden Tag bin ich völlig zusammengeklappt: Ich
       habe nur noch geheult, ich konnte mich nicht mehr bewegen, ich war tief
       verzweifelt. Ein Freund hat mich in die Klinik gebracht, da haben sie mich
       erst einmal zwei Wochen ruhiggestellt.
       
       Dann ging die Diagnostik los, aber das ist nicht ganz einfach. Schon weil
       die Bipolare Störung so ein breites Spektrum hat. Man kann nicht sagen: Die
       Störung beginnt hier und endet dort. In meiner Selbsthilfegruppe erzählt
       keiner dieselbe Geschichte, die Krankheitsverläufe sind immer anders. Bei
       den einen geht das im Wochentakt oder sogar täglich hoch und runter, das
       nennt man Rapid Cycling. Bei anderen baut es sich ganz langsam auf, da
       können die Perioden anderthalb Jahre dauern. Andere fliegen ein paar Tage
       ab, wie man das aus dem Kino kennt.
       
       Bei mir war das zudem noch schwieriger zu diagnostizieren, weil ich ein
       Hypomaniker bin. Das heißt, man merkt nicht so richtig, dass ich manisch
       werde. Es steigert sich langsam über Wochen, manchmal Monate, und ich
       funktioniere auch in der Manie noch ganz gut. Während schwere Maniker Haus
       und Hof versetzen, laufe ich zur Hochform auf, bin unheimlich kreativ,
       schaffe viel weg, fange aber auch irrsinnig viel an und bringe es nicht zu
       Ende.
       
       Ich war bei einer Reha, aber da hatten sie nicht wirklich eine Ahnung, was
       bipolar bedeutet, und haben mich machen lassen: In den sechs Wochen habe
       ich ein Buch gemacht, einen dicken Folianten mit Gedichten und Zeichnungen,
       dazu noch eine ganze Serie mit anderen Arbeiten, ich hab für meine Frau
       eine Isländer-Strickjacke gestrickt und mich nebenbei noch in eine
       Mitpatientin verliebt, die gar nichts von mir wollte. Aber da steckte ich
       eben schon mitten im Wahn, ohne es zu merken. Mit Anfang 20 habe ich mal
       ein Theaterstück geschrieben und wollte das dann nicht nur inszenieren,
       sondern auch gleich die Hauptrolle übernehmen, die Kostüme, alles. Am
       Schluss war ich fest überzeugt: Ich bin ein großer Künstler! Ich kann
       alles!
       
       Der Wahn ist gigantisch. Plötzlich ist der Himmel offen, und ich habe das
       Gefühl, alles schaffen zu können. Aber man kriegt dann eben auch sein Leben
       nicht mehr geregelt, der Alltag ist einem egal. In solchen Phasen würde ich
       am liebsten alles hinschmeißen, den Job, die Beziehung, und nur noch Kunst
       machen. Aber das hält eben nur eine Weile an, und dann macht es puff, und
       alles ist vorbei, und man fällt in die Depression.
       
       Die Depression ist dann, als würde mir jemand Tropfen für Tropfen Blei ins
       Hirn gießen. In letzter Konsequenz ist es wie eine Starre, aus der ich
       nicht mehr herauskomme. Außerdem tut mir auch körperlich alles weh, der
       ganze Körper schmerzt. Und mir ist ständig kalt, ich lege mich jeden Tag in
       die Badewanne. In solchen Augenblicken denke ich, ich habe keine Haut mehr.
       
       Und dann kommen natürlich die Suizidgedanken. Ich stand schon mal an einer
       der meist befahrenen Bahnstrecken Europas, da kommt alle paar Minuten ein
       Zug lang. Aber ich konnte mich nicht vor einen werfen, weil mir der
       Lokführer leid tat. Letztes Jahr wollte ich auf die Autobahn rennen, aber
       ich machte mir Sorgen um den Lkw-Fahrer. Tatsächlich sind es solche
       Gedanken, die mich schon ein paarmal gerettet haben.
       
       2014 in der Klinik sollte ich mein Leben aufschreiben, meine
       Stimmungsbrüche protokollieren. Da habe ich zwei Tage drüber gesessen – und
       dann haben wir festgestellt, dass es immer schon so war. Spätestens mit 17
       hatte ich die erste heftige manische Episode, gefolgt von einer schweren
       Depression. Da erst wurde mir klar, dass über Jahre in Abständen immer
       wieder dasselbe passierte: Auf Phasen extremer Aktivität folgte ein
       Zusammenbruch, einmal auch mitten auf der Straße. Doch da wurde gesagt: Das
       ist ja normal, der hat zu viel gearbeitet, und jetzt ist er halt schlapp.
       Das hieß mal Überlastungssyndrom, später Burnout. Da macht man eine Pause,
       vielleicht eine Therapie, und dann geht es wieder.
       
       Nach acht Wochen in der Klinik stand die Diagnose fest: Bipolare Störung.
       Seitdem werde ich mit Medikamenten eingestellt.
       
       ## * * * 
       
       In der Zeit danach war ich erst einmal sehr wütend, weil mir bewusst wurde,
       um was es ging: Der Jens, der ich bin, wurde von allen und auch von mir
       selbst zum Kranken erklärt. Der sollte jetzt ein Medikament wie Lithium
       nehmen, das ihn unter eine Käseglocke verbannt, ihn gefühllos macht.
       
       Vor unserem Haus steht eine Kletterrose. Ein irres Ding, das quasi
       explodiert, wenn sie blüht. Das sind Gerüche und Farben, Wahnsinn. Wenn ich
       unter Lithium bin, dann weiß ich nur, dass die Rose schön ist. Aber ich
       spüre es nicht mehr.
       
       Noch schlimmer: Die Medikamente produzieren einen Jens, der angeblich
       normal ist, den ich aber gar nicht kenne. Dagegen habe ich mich lange
       gewehrt. Ich wollte das nicht wahrhaben und habe gesagt: Leckt mich doch,
       ich bin eben so. Geht doch selber damit um! Von angeblich normalen Menschen
       wird doch auch nicht erwartet, anders zu sein als sie sind. Von mir aber
       wird etwas verlangt, was ich nicht leisten kann. Was ich nur unter dem
       Einfluss von Medikamenten leisten kann.
       
       Von außen kommt ganz viel Unverständnis. Denn es gibt ein großes
       Missverständnis zwischen den Bipolaren und ihrer Umwelt: Ich kann
       niemandem, absolut niemandem beschreiben, wie ich mich fühle. Jemand, der
       keine Depressionen hat, dem kann man nicht vermitteln, was eine Depression
       ist. Ich kann umschreiben, immer neue Adjektive finden. Aber die anderen
       können nicht wissen, wie man sich fühlt.
       
       Mir ging das ja selbst so: Ich habe vorher ja auch gehört, was andere über
       Depressionen oder die Manie berichten, ich habe Bücher gelesen. Trotzdem
       wusste ich nicht, dass ich krank war, weil es bei mir ganz anders war.
       
       Vielleicht kann man es so erklären: Ich sitze in einem Rollstuhl, nur sieht
       ihn keiner. Ich bin wie ein Rollstuhlfahrer, der nach dem Unfall versuchen
       muss, sein Leben im Rollstuhl zu leben, der sich damit arrangieren muss.
       Ich hoffe, ich lerne mit dem Rollstuhl zu leben. Aber ich weiß, ich werde
       nie wieder aus dem Rollstuhl rauskommen.
       
       Bloß verlangt niemand von einem Rollstuhlfahrer, dass er aufsteht und geht.
       Von Bipolaren wird das verlangt. Wir müssen diese mehr oder weniger
       schrecklichen Medikamente nehmen, damit wir normal werden – was immer das
       ist. Das heißt aber, dass ich meine innere Normalität verleugnen muss, und
       das verletzt mich: Ich darf nicht mehr der sein, der ich eigentlich bin.
       
       Ich verstehe dieses Ansinnen total, denn wir sind zeitweise schlimm
       anstrengend. Aber ich empfinde es auch als extrem verletzend, dass ich mich
       mit Medikamenten kastrieren soll. Dass ich ständig auf mich selbst achten
       muss. Andere dürfen doch auch einfach sie selbst sein.
       
       Schließlich habe ich doch jahrelang wie jeder andere daran geglaubt, dass
       ich der bin, der ich bin. Jemand, der kreativ ist, der viel schafft. Ich
       habe immer Kunst gemacht, gemalt und gebildhauert, ich war Meisterschüler
       an der Hochschule der Künste in Berlin, ich habe ausgestellt. Wir haben in
       der Prignitz ein Haus gekauft und ausgebaut, eine kleine Firma aufgebaut,
       wir haben Kräutertee hergestellt und verkauft, nebenbei habe ich
       mitgeholfen, dort in der Einöde eine freie Schule aufzubauen. Nachdem wir
       in die Nähe von Dresden umgezogen sind, haben wir einen zweiten Hof
       renoviert, und die Freie Schule Dresden wurde mit mir als Geschäftsführer
       immer größer, Schulneubau inklusive. Und das alles, während wir vier Kinder
       großgezogen haben.
       
       Im Nachhinein betrachtet klingt das auch für mich irre und überfordernd,
       aber damals war das völlig normal. Ich war so. Ich habe Sachen in meinem
       Leben geschafft, auf die ich stolz bin. Sachen, die manch anderer nicht
       geschafft hätte. Sachen, die ich aber eben ohne die Störung vielleicht nie
       angegangen hätte, vielleicht nie geschafft hätte.
       
       Aber jetzt soll ich etwas ganz anderes sein. Der Jens, den ich kenne, der
       ist seit der Diagnose krank. Der Jens ist jetzt bipolar, und das geht
       nicht. Ich soll jetzt ein anderer Jens sein, ich soll der normale Jens
       sein. Aber dieser Jens will ich eigentlich nicht sein.
       
       Es ist nur die Vernunft, die mir sagt: Versuche dieser normale Jens zu
       sein. Denn mittlerweile habe ich verstanden und akzeptiert, dass ich die
       Krankheit in den Griff bekommen muss, weil sie selbstzerstörerisch ist.
       Weil mein Rücken, mein ganzer Körper die manischen Phasen auf Dauer nicht
       mitmachen würde, weil ich meine Frau nicht verlieren will, nicht verlieren
       kann, weil ich meine sozialen Beziehungen nicht zerstören will, weil ich
       mich irgendwann umbringen würde. Also nehme ich meine Medikamente.
       
       Das Lithium, das ich früher nehmen musste, war schrecklich. Das hat mich
       lahmgelegt und dafür gesorgt, dass die Phasen sich zum Teil täglich
       abgewechselt haben. Mittlerweile nehme ich ein neues Medikament, das heißt
       Quetiapin und ist zwar sehr viel besser, aber auch das hat Nebenwirkungen.
       Ich muss genau planen, wann ich es einnehme, weil ich manchmal eine Stunde
       später einfach ausgeschaltet werde und einschlafe.
       
       Eine andere Nebenwirkung ist, dass ich mich an fast jeden Traum erinnern
       kann. Ich wache morgens auf und statt die Träume zu vergessen wie andere,
       verfolgen sie mich den ganzen Tag lang. Einige sind so präsent, die muss
       ich aufschreiben, sonst werde ich sie nicht mehr los. Letzte Nacht habe ich
       zum Beispiel geträumt, ich bin Regaleinräumer in einem Großmarkt. Aber ich
       mache alles falsch, was man falsch machen kann. Und jedes Mal, wenn ich
       etwas falsch mache, wird mir nach einem komischen Punktesystem etwas vom
       Lohn abgezogen, so dass ich am Schluss gar nichts mehr verdiene. So was ist
       noch kein echter Albtraum, aber wenn man das dann den ganzen Tag mit sich
       rumschleppt, ist das auch scheiße.
       
       Es gibt auch richtige Albträume, wo ich nachts schreiend aufwache, weil ich
       ermordet werde. Oft haben sie mit meiner Familie zu tun, zum Beispiel:
       Vater fliegt ein Flugzeug. Mutter steigt auf die Tragfläche, redet die
       ganze Zeit, bindet sich fest und stellt sich wie ein Artist vor das
       Cockpit. Ich klammere mich an auf der Tragfläche liegende Seile und habe
       furchtbare Höhenangst. Vater sitzt jetzt am Ende der Tragfläche und lacht.
       Später beschimpfe ich ihn wegen seiner Ignoranz und werfe Meißner Teller
       mit Zwiebelmuster, von denen nur der Rand etwas angeschlagen ist.
       
       ## * * * 
       
       Ich weiß, ich werde nie gesund werden. Die Bipolare Störung heißt nicht
       umsonst Störung und nicht Krankheit, weil das suggerieren würde, sie wäre
       heilbar. Ich bin nicht krank, ich bin so. Das ist das Problem.
       
       Man kann nur versuchen, mit den Medikamenten die höchsten Spitzen und die
       tiefsten Tiefen zu kappen. Jemand, der nicht bipolar ist, kann sich das
       wahrscheinlich nicht vorstellen: Ich kapiere nicht, dass ich in einer
       Notsituation stecke. Ich registriere schon, dass alles schräg ist, dass
       Menschen auf mich seltsam reagieren, aber ich denke dann nicht daran, mir
       helfen zu lassen.
       
       Es gibt beispielsweise gemischte Episoden, in denen man gleichzeitig
       manisch und depressiv ist. Das sind eigentlich die gefährlichsten
       Situationen. Mitten in so einer Episode bin ich einmal losgelaufen und
       meinte, Deutschland zu Fuß durchqueren zu müssen. Ich bin kreuz und quer
       durch die Gegend gewandert. Von Dresden nach Leipzig, mit dem Zug nach
       Prenzlau, von dort an die Ostsee, die ganze Küste lang und das Grüne Band,
       also die ehemalige innerdeutsche Grenze, bis zum Brocken, durch den Südharz
       und das Saaletal.
       
       Insgesamt waren es 1.300 Kilometer in sechs Wochen, manchmal bin ich mehr
       als 50 Kilometer am Tag gelaufen. Ich hatte so viel Druck im Kopf, so viel
       Druck auf den Schultern, ich wusste, dass etwas Blödes passieren würde,
       wenn ich nicht weiterlaufe. Kurz vorm Saaletal war der Druck dann so groß,
       dass ich das Bedürfnis hatte, mich umzubringen. Dann bin ich von da aus
       nach Bad Kösen in eine Reha-Klinik gelaufen, die ich schon kannte, damit
       die mich auffangen.
       
       Deshalb ist es wahnsinnig wichtig, dass man ein funktionierendes soziales
       Umfeld hat. Menschen, die einen auffangen und notfalls eben einweisen. Denn
       eine schwere Depression bedeutet: Wenn ich jetzt nicht in die Klinik komme,
       bringe ich mich wahrscheinlich um.
       
       Viele Bipolare haben aber kein funktionierendes soziales Umfeld mehr, weil
       sie es im Wahn zerstört haben. Ich habe meine Frau, ich habe einen
       Freundeskreis, eine Arbeit. Meine Frau und unsere beiden besten Freunde
       haben sich schon zwei-, dreimal zusammengesetzt und mir anschließend die
       Pistole auf die Brust gesetzt: Du musst jetzt in die Klinik.
       
       Doch wird das Umfeld koabhängig von meiner Störung, vor allem meine Frau
       natürlich. Die hat den ganzen Scheiß dann allein an der Backe, muss sich
       nicht nur um mich kümmern, sondern auch um die Kinder, um den Hof, um
       alles, was liegen bleibt, weil ich depressiv in der Ecke hänge oder in der
       Klinik bin. Ihr Leben und zum Teil auch das meiner Kinder muss sich während
       der Episoden nach mir ausrichten: Der Kranke mit seinen Höhen und Tiefen
       bestimmt das Leben aller anderen. Dass meine Frau trotzdem bei mir bleibt,
       ist auch der Beweis, wie sehr sie mich liebt.
       
       Deswegen trage ich aber auch immer eine Schuld mit mir herum. Es sagt zwar
       niemand zu mir: Du bist doch wieder manisch! Du bist doch wieder depressiv!
       Aber ich hinterfrage das andauernd. Ich beobachte mich ständig selbst. Das
       ist eine permanente unfreiwillige Selbstkontrolle. Immerzu frage ich mich:
       Bin ich normal? Oder schon manisch? Oder depressiv? Heute, wenn ich auf
       Arbeit einen Fehler mache, dann sage ich mir nicht: Jeder macht mal einen
       Fehler. Stattdessen frage ich mich: War das jetzt die Krankheit?
       
       Ich darf nicht einfach leben wie andere, ich muss immerzu mich selbst
       reflektieren und jede meiner Handlungen hinterfragen. Das nervt, das ist
       wahnsinnig anstrengend. Diese ständige Schuld werde ich nicht los.
       
       Auf der anderen Seite hilft einem die Gesellschaft nicht. Es ist klar, dass
       ich keine 40 Stunden die Woche arbeiten kann, weil mich der Stress so
       antriggern würde, dass eine manische oder depressive Periode ausgelöst
       werden würde. Und so ein Aufenthalt in der Psychiatrie ist kein Spaß, das
       ist großer Scheiß. Weggesperrt zu werden, weil du dich im Ernstfall
       umbringen könntest.
       
       Also habe ich einen Antrag auf Erwerbsminderungsrente gestellt. Es ist
       klar, ich habe diese Störung. Es ist klar, dass ist eine der zehn
       schlimmsten psychischen Störungen, die es gibt. Es ist klar, bis zu 30
       Prozent der Bipolaren bringen sich um. Aber ich kriege keine
       Erwerbsminderungsrente, weil ich nicht vor 1961 geboren wurde. Das ist die
       Begründung. Es gibt einen Stichtag, ab dem kriegt man die Rente nicht mehr.
       Stattdessen sagen Rentenversicherung und Arbeitsamt: Wenn ich den Job, den
       ich mache, nicht mehr machen kann, soll ich mir einen neuen suchen. Aber
       das ist totaler Quatsch: Dieser Job ist ja gerade ein wichtiger Teil meines
       sozialen Umfelds, das ich brauche, um mit der Störung leben zu können, weil
       es akzeptiert, dass ich jederzeit ausfallen kann.
       
       Das Amt will das nicht verstehen. Da ist man verzweifelt. Ich sage mir dann
       selber: Steh doch einfach auf aus deinem Rollstuhl und fang an zu laufen.
       Das ist so entwürdigend: Ich bin krank, hab diese scheiß Kiste an der
       Backe, die Gesellschaft erwartet von mir, ihre Normen einzuhalten, aber
       weil man es mir nicht ansieht, habe ich nichts zu erwarten. Darunter leide
       ich sehr.
       
       ## * * * 
       
       Wenn ich in meine Familiengeschichte blicke, dann ist das alles keine
       Überraschung: Eine Großmutter und wahrscheinlich auch ein Großvater haben
       Selbstmord begangen. Mein Vater hat sich in Raten umgebracht mit Alkohol,
       Nikotin und Kaffee. Auch meine Mutter hat versucht, sich umzubringen, und
       außerdem ist sie möglicherweise eine Borderlinerin: Man konnte nie sicher
       sein, ob man sich eine einfing oder ob sie im nächsten Moment mit einem
       durchs Zimmer tanzte.
       
       Ich bin nicht wütend auf meine Eltern, jedenfalls nicht, weil sie selbst
       irgendetwas in sich getragen haben. Aber weil sie sich nicht gekümmert
       haben. Ich finde nicht, sie hätten unbedingt eine Therapie machen müssen.
       Aber sie hätten sich um sich – und damit auch um mich und meine Brüder –
       kümmern müssen. Stattdessen haben sie mir das alles unreflektiert
       mitgegeben. Vielleicht konnten sie das damals nicht anders.
       
       Ich habe mit meinen Kindern gesprochen. Ich beobachte meine Kinder sehr
       genau, ob ich Symptome an ihnen erkennen kann. Und ich habe ihnen gesagt,
       dass sie auf sich achten sollen. Zum Glück ist bislang kaum etwas zu sehen,
       ich hoffe natürlich, das bleibt so. Natürlich tut mir leid, dass ich ihnen
       womöglich etwas mitgegeben habe, zumindest die Veranlagung dazu, aber was
       soll ich tun? Ich kümmere mich wenigstens. Ich habe drei Psychotherapien
       hinter mir und in den letzten fünf Jahren etwa acht Monate in Kliniken
       verbracht.
       
       Mit dem neuen Medikament komme ich besser klar. Zu Beginn der depressiven
       Phase, in der ich gerade bin, hatte ich das erste Mal das Gefühl: Ja, jetzt
       beginnt eine Depression, aber ich komme aus der auch wieder raus. Das ist
       schon eine Verbesserung. Das Loch ist immer noch genauso schwarz. Zumindest
       glaube ich daran, dass ich es wieder verlassen werde.
       
       In diesem Text werden Suizidgedanken geschildert. Wenn Sie sich selbst
       betroffen fühlen, kontaktieren Sie bitte die [1][Telefonseelsorge] . Unter
       der kostenlosen Hotline 0800-111 01 11 erhalten Sie Hilfe. Auch die
       [2][Deutsche Gesellschaft für Bipolare Störungen] bietet Beratung für
       Betroffene und Angehörige.
       
       19 Aug 2018
       
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