# taz.de -- Wohnungslose Frauen in Hamburg: Versteckte Not
       
       > Spezielle Angebote für wohnungslose Frauen sind selten. In Hamburg gibt
       > es mit dem Tagestreff Kemenate eine rühmliche Ausnahme.
       
 (IMG) Bild: Frauen ohne Obdach versuchen oft, ihre Notsituation unsichtbar zu machen
       
       Hamburg taz | In einem unauffälligen Mietshaus etwas abseits der Hamburger
       Innenstadt sitzen in einem warmen Wohnzimmer auf zwei orange-roten
       Ledersofas vier Frauen. Eine trägt eine grün-gemusterte Strickjacke, die
       Andere hat ihre Haare sorgfältig zu einem Zopf hochgesteckt. Würde man
       einer der Vier auf der Straße begegnen, so würde man eines ganz sicher
       nicht vermuten: zwei der Frauen, die an diesem Vormittag im Tagestreff
       Kemenate sitzen, sind wohnungslos.
       
       Tanja Lazarevic arbeitet hier, Gunda Schütt-Hoeffgen ist die Vorsitzende
       des zugehörigen Vereins, der in diesem Jahr sein dreißigjähriges Jubiläum
       feiert. Petra und Nicole, deren Nachnamen wir zu ihrem Schutz nicht
       veröffentlichen, sind regelmäßige Besucherinnen des Treffs. Beide haben
       keine Wohnung.
       
       Dass man ihnen ihre Notsituation nicht ansehen kann, ist nicht
       ungewöhnlich. Auch, wenn sich bei dem Wort Obdachlosigkeit das Bild von
       einem Menschen mit einem Einkaufswagen voll Eigentum am Hauptbahnhof vor
       unserem inneren Auge auftut, ist Obdach- und Wohnungslosigkeit unter Frauen
       meist verdeckt. „Das bedeutet,“ erzählt Lazarevic, „dass die Dunkelziffer
       bei der Erfassung weiblicher Wohnunglosigkeit besonders hoch ist.“
       
       Dies hänge damit zusammen, dass Frauen oft wohnungs-, aber nicht obdachlos
       seien. „Sie haben also keinen eigenen Wohnsitz, aber kommen irgendwo unter,
       heute auf diesem Sofa, morgen auf dem nächsten.“ Frauen seien im
       öffentlichen Raum als Wohnungslose deshalb wenig sichtbar. Außerdem wüssten
       viele Frauen wie Petra und Nicole, ihre Notsituation visuell zu verstecken
       – durch ordentliches Auftreten und makellose Kleidung.
       
       „Als ich für einige Zeit unter freiem Himmel gelebt habe, bin ich tagsüber
       oft an Parfümerien vorbeigekommen“, erzählt Nicole. Dort habe sie sich
       heimlich mit den Duftproben frisch gemacht. „Man findet so seine Mittel und
       Wege – Strategien zum Überleben, aber auch für das Wohlbefinden und den
       Selbstwert.“ Drei Jahre verbrachte die Frau ohne ein festes Dach über dem
       Kopf – erst in einem Auto, dann in einem Zelt und schließlich in einem
       Anhänger. Mit auslaufendem TÜV musste sie sich erneut auf die Suche nach
       einer Bleibe machen und ist fürs Erste bei Freund*innen untergekommen.
       
       Genau wie Petra besucht Nicole regelmäßig den Tagestreff der Kemenate. Ein
       geregelter Tagesablauf, so sagt sie, sei wichtig, wenn man schon kein
       geregeltes Wohnverhältnis habe. Der Tagestreff bietet den Frauen Raum,
       einen Alltag zu schaffen, der ohne festen Wohnort kaum möglich ist. Wäsche
       waschen, duschen oder kochen etwa. Und auch einen Telefon- und
       Internetzugang gibt es.
       
       Über die Grundsicherung hinaus versuche das Hamburger Projekt außerdem das
       Wertgefühl der Frauen zu steigern, um sie zu befähigen, ihre Lebensumstände
       in die Hand zu nehmen. Dazu gehören etwa Besuche von Frisör*innen und
       Fußpfleger*innen aber auch Beratungsgespräche oder regelmäßig aktualisierte
       Wohnungs- und Unterstützungsangebote an einer Pinnwand.
       
       ## Hilfe ohne Versicherung
       
       Obwohl der Tagestreff staatlich finanziert wird, lebt ein Großteil des
       Angebots von Spenden, etwa Kleidung und Hygieneartikel. Eine Ärztin kommt
       im Winter und impft kostenlos und ohne Krankenversicherungsnachweis gegen
       Grippe – für die Impfstoffe hat sie ebenfalls Spenden gesammelt.
       
       In ganz Norddeutschland finden sich keine vergleichbaren Einrichtungen.
       Kaum eine Stadt bietet so umfassend Unterstützung und Schutz. Dabei ist der
       Bedarf groß – die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe schätzt die
       Zahl der obdachlosen Menschen in Deutschland 2018 auf 1,2 Millionen. Über
       25 Prozent sollen davon Frauen sein. Schütt-Hoeffgen ist sich sicher: die
       Dunkelziffer liegt deutlich höher.
       
       Die Mitarbeiter*innen der Kemenate treibt in ihrer Arbeit neben der
       Unterstützung in schwierigen Lebenslagen ein feministischer Gedanke an:
       „Wir verstehen die Obdachlosigkeit von Frauen nicht allein als
       individuelles Schicksal“, sagt Tanja Lazarevic. „Oft trägt strukturelle
       Diskriminierung eine Mitschuld an der Notsituation der Frauen.“
       Geschlechterungerechtigkeit auf dem Arbeitsmarkt, Ungleichverteilung von
       Hausarbeiten in der Familie und Partnerschaft, strukturelle
       Abhängigkeitsverhältnisse, aber auch die sexuelle Ausbeutung der Frauen
       machten die Situation weiblicher Obdachloser besonders schwierig.
       
       Das musste auch Petra erfahren. Sie wurde durch eine psychische Erkrankung
       arbeitsunfähig und verlor im Anschluss nicht nur ihre monetäre
       Lebensgrundlage, auch Mann und Kind verließen sie. Sie erhielt Angebote,
       gegen sexuelle Leistungen zu wohnen – so wie die meisten Frauen in diesen
       Notlagen. „Oft wird mit diesen Angeboten von Männern auf die Angst der
       Frauen gebaut, öffentlich und damit auf der Straße zu schlafen“ sagt
       Lazarevic.
       
       ## Sichtbar bleiben
       
       Nicoles Erfahrungen bestätigen das. Sie hat sich anfangs bewusst einen
       sichtbaren Schlafplatz gesucht, auch wenn das bedeutete, von mehr
       Passant*innen wahrgenommen zu werden. „Ich habe immer gedacht: wenn ich im
       Busch versteckt bin, dann ist es ein möglicher Gewalttäter auch.“ Die
       Reaktionen auf sie, so erzählt Nicole, seien aber meist positiv und
       mitfühlend gewesen. „Oft kamen Frauen entsetzt zu mir und sagten, ich könne
       doch nicht wirklich hier schlafen. Doch, habe ich dann gesagt, das kann ich
       schon seit einer Weile recht gut.“ Auf das ihr zustehende Arbeitslosengeld
       verzichtet Nicole. „Ich will keine Rechenschaft für meinen Lebensstil
       ablegen müssen, mir nicht in meine Pläne reinreden lassen“.
       
       Auch Petra hadert mit dem System. Kurz nach der Rückkehr aus einer Kur hat
       sie den Bescheid bekommen, dass ihre Krankengeldzahlung verkürzt würde.
       „Das war ein Schock, ich stand von heute auf morgen ohne finanzielle Hilfe
       da“, erzählt sie. Ein bürokratischer Riesenaufwand sei es gewesen, bis sie
       wieder Geld bekam.
       
       Sie lebt heute in einem kleinen Zimmer in einer Unterkunft für
       Wohnungslose. Nachdem sie die Zahl ihrer Umzüge kaum noch an den Händen
       abzählen kann, ist sie froh über die Bleibe – auch wenn es im Winter nicht
       einmal warmes Wasser zum Duschen gibt. „Dafür“, so sagt sie, „gehe ich dann
       eben in die Kemenate“.
       
       6 Nov 2018
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Lea Schweckendiek
       
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