# taz.de -- Betreuer über seelisch kranke Obdachlose: „Vom System ausgespuckt“
       
       > Straßensozialarbeiter Julien Thiele und Psychiater Richard Becker suchen
       > Obdachlose mit psychischen Problemeauf. Der Handlungsbedarf wird
       > unterschätzt.
       
 (IMG) Bild: Stark verwahrlost und schwer anzusprechen: die Betreuung lehnt sich oft zurück
       
       taz: Herr Becker, Herr Thiele, schleppt beinahe jeder Obdachlose eine
       seelische Erkrankung mit sich herum? 
       
       Richard Becker: Jetzt werde ich gleich gehässig: Definieren Sie seelische
       Erkrankung.
       
       Alles mögliche von Suchterkrankung über psychotische Störungen bis hin zu
       Depression und Messie-Syndrom. 
       
       Julien Thiele: Sie spielen mit Ihrer Frage auf die bisher größte deutsche
       Studie zum Zusammenhang von Wohnungslosigkeit und psychischen Erkrankungen
       an, die Seewolf-Studie, oder? Die ist genau mit dieser Grundannahme auf
       viel Kritik gestoßen.
       
       Deshalb gebe ich die Frage an Sie weiter, denn Sie arbeiten ja als
       Straßensozialarbeiter und Psychiater mit dieser Gruppe Menschen. Oder darf
       man da so nicht rangehen? 
       
       Becker: Doch, doch. Julien und ich machen jetzt mit dem Caritas-Projekt
       „Citymobil“ seit über einem Jahr mittwochs zwei Stunden aufsuchende
       Straßenarbeit. Und zwei Stunden in der Woche sind wir in der Praxis und
       bieten eine kostenlose psychiatrische Sprechstunde an. Ich habe in dieser
       Zeit keinen Menschen getroffen, den ich nicht als Patient bezeichnen würde.
       Da stellt sich sofort die Frage: Sprechen wir hier von psychischen
       Störungen oder von unverarbeiteten Traumatisierungen? Und: Was war zuerst
       da, die Henne oder das Ei?
       
       Und? Henne oder Ei? 
       
       Becker: Da würden wir noch ewig hier sitzen, ohne zu einem Ergebnis zu
       kommen. Aber den Bedarf nach psychiatrischer oder psychischer Begleitung
       haben meines Erachtens alle, die auf der Straße leben und in deren Leben
       wir einen, wenn auch diskreten, Einblick in ihre Leben haben. Ich kann mir
       allerdings kein Urteil über all die Menschen aus Syrien, Afghanistan und so
       weiter erlauben, weil da die gemeinsame Sprache fehlt.
       
       Thiele: Zu den Zeiten, als die Migration noch nicht so stark war, konnte
       man bei den deutschen Obdachlosen aber davon ausgehen, dass eine psychische
       Störung vorlag. Ich kämpfe als Sozialarbeiter dennoch erst mal dafür, bei
       Menschen mit psychischer Erkrankung diese Erkrankung nicht zum
       Hauptgegenstand der Hilfe zu machen.
       
       Wie kommen Sie an die Menschen ran, um ihnen Hilfe anzubieten? 
       
       Thiele: Ich bin regelmäßig auf der Straße unterwegs und habe die Leute
       schon auf dem Schirm. Wenn ich mit Richard draußen bin, versuche ich
       gezielt, die entsprechenden Leute zu finden, von denen ich denke, sie haben
       ein Problem, bei dem Richard helfen könnte.
       
       Und wen suchen Sie da gezielt auf? 
       
       Thiele: Sei es eine Frau, die immer alle abweist, oder eine Person, die den
       ganzen Tag viele Rollwägen immer wieder ein Stück weiterschiebt, oder
       jemand, der ganz viele Taschen ansammelt. Und dann versuchen wir, Kontakt
       aufzunehmen. Viele von ihnen haben Angst vor den Institutionen, auch vor
       dem medizinischen Hilfesystem, und weisen uns erst mal ab. Denn manchmal
       ist die psychische Erkrankung auch der Auslöser der Wohnungslosigkeit
       gewesen.
       
       Was passiert in solchen Fällen? 
       
       Thiele: Wir erleben, dass Menschen in eine psychische oder psychiatrische
       Behandlung gehen, vielleicht zwangseingewiesen werden, und in dieser Zeit
       alles andere verlieren, weil sich niemand mehr kümmert, zum Beispiel
       Angehörige oder Sozialdienste in den Behandlungszentren. Wir reden in der
       Regel von bereits vereinsamten Menschen.
       
       Becker: Die Menschen wissen also in der Regel, wenn sie sich so oder so
       verhalten, kommen sie in die Klapsmühle, und wenn sie in Hamburg ganz
       großes Pech haben, kommen sie nach Ochsenzoll. Die Bereitschaft, sich
       helfen zu lassen, ist darum sehr gering. Julien und ich haben uns daher
       darauf geeinigt, zu sagen, dass ich Arzt bin. Was ja keine Lüge ist, ich
       bin Arzt. Wenn im Gespräch rauskommt, dass ich Psychiater bin und auch noch
       in Ochsenzoll gearbeitet habe, ist manchmal die Kacke am Dampfen. Niemand
       möchte als verrückt abgestempelt werden. Ich bin darum dazu übergegangen,
       den Leuten zu sagen: „Sie haben ein seelisches und ein soziales Problem.
       Herr Thiele ist zuständig für das soziale und ich für das seelische, für
       die Gespräche.“ So kommen wir ganz gut an die Leute ran.
       
       Thiele: Die Kombi aus Psychiater und Sozialarbeiter, die zusammen die
       Menschen auf der Straße aufsuchen, funktioniert gut. Wir können besser
       Vertrauen aufbauen und auch erkennen, wo das Problem des einzelnen Menschen
       liegt und wie wir vielleicht helfen können. So schaffen wir es vielleicht
       auch, den Psychiater durch eine neue Art des Erstkontaktes wider positiv zu
       besetzen, und dann trauen die Menschen sich, diese Hilfe auch anzunehmen.
       
       Becker: Aber mit den paar Stündchen, die ich da habe, ist es schwer,
       wirklich dahinterzusteigen, was mit einem Menschen los ist, der auffällig
       ist. Wenn man mit einem Menschen nicht in Kontakt treten kann, ist ja schon
       jede Verdachtsdiagnose eine Anmaßung. Es wäre mehr als wünschenswert, wenn
       regelhaft Psychiater, die an eine Klinik angebunden sind, mit auf die
       Straße gehen würden und ein sinnvolles Stundenkontingent hätten, denn wir
       finanzieren uns nur aus Spenden.
       
       Wieso gibt es dafür keine Mittel? 
       
       Thiele: In Hamburg besteht eigentlich ein Bewusstsein für dieses Problem.
       Hier gibt es Pläne im aktuellen Koalitionsvertrag, die psychisch kranke
       Menschen in den Blick nehmen und auf explizit angepasste Angebote abzielen.
       Da ist mein Erachtens nur bisher nichts geplant oder umgesetzt worden. Es
       wird immer darauf verwiesen, dass es bereits ein gutes Hilfesystem gibt.
       Aber die psychische Erkrankung ist eben genau die Hürde, diese Hilfe auch
       anzunehmen.
       
       Becker: Es gibt in Hamburg kein koordiniertes System, mit dem man die
       Wohnungslosigkeit angeht. Es ist Stückarbeit. Es fängt damit an, dass Ärzte
       in den Krankenhäusern, die eingelieferten Menschen, auch die Wohnungslosen
       mit einer psychischen Störung, beurteilen sollen. Dann gibt es Richter, die
       eine Vorstellung einer Karriere vor sich haben, aber vorher auch durch das
       tiefe Tal der Obdachlosigkeit müssen, und dann gibt es gesetzliche
       Betreuer, die ihr Geld damit verdienen, dass sie einen chronisch psychisch
       Kranken betreuen. Deren Bezahlung ist ziemlich reduziert worden und darum
       sind da viele, sehr engagierte Leute verschwunden. Zwischen den Systemen
       besteht wenig Kontakt und wenig direkte Abstimmung untereinander und mit
       den Betroffenen.
       
       Thiele: Und alle arbeiten mit sehr hohen Fallzahlen.
       
       Becker: Genau. Dann gibt es noch die sozialpädagogischen Einrichtungen, die
       diese Menschen betreuen und ganz am Ende der Kette gibt es Leute wie
       Julien, die die Menschen auf der Straße aufsuchen. Wir verlieren die
       psychisch kranken Obdachlosen, sie werden vom System, auch vom
       medizinischen System, einfach ausgespuckt. Lassen Sie mich ein Beispiel
       nennen: Wir haben Frau S. kennengelernt. Wie lange bist du in ihrem Fall
       dem Gericht und der Betreuung hinterhergeeiert?
       
       Thiele: Bestimmt ein halbes Jahr.
       
       Becker: Wenn ein Sozialarbeiter da Unterstützung zum Beispiel vom Gericht
       bekäme und sich reinhängen könnte und nicht noch durch zig andere Fälle in
       Anspruch genommen werden würde, dann wäre diese Geschichte in zwei Monaten
       zu lösen gewesen.
       
       Wie ist die Geschichte von Frau S.? 
       
       Thiele: Das ist eine über 80-jährige Frau, die aus der Schweiz kommt,
       dement ist und sie ist psychotisch, schizophren irgendwie. Sie hatte hier
       natürlich keine Ansprüche und konnte zum Beispiel das Winternotprogramm gar
       nicht in Anspruch nehmen, weil sie es am Tag verlassen musste, und nach
       einer Stunde wusste sie gar nicht mehr, wo sie letzte Nacht geschlafen
       hatte, geschweige denn, wie sie dahin zurückkommt. Und dann haben wir sie
       aufgenommen.
       
       Wie kam der Kontakt zustande? 
       
       Thiele: Per Zufall, wir haben sie am Hauptbahnhof getroffen.
       
       Becker: Einer unser besten Mitarbeiter ist der Zufall.
       
       Thiele: Wenn wir unterwegs sind, sprechen wir Menschen an, die
       offensichtlich obdachlos sind und können da natürlich immer nur nach
       Stereotypen gehen. Aber unser Projekt Citymobil ist ja auch genau für
       diesen Personenkreis konzipiert, der sehr auffällig, stark verwahrlost und
       schwer anzusprechen ist und das Hilfesystem gar nicht in Anspruch nimmt.
       Und genau wie die Menschen scheitern dann auch wir an Hürden. Denn hier
       lehnt sich die Betreuung oft zurück und sagt: „Mehr als ihr tut, können wir
       ohnehin nicht tun.“ Sobald die gesetzliche Betreuung besteht, haben wir es
       nicht mehr in der Hand und können nur nachfragen, wie weit die Hilfen sind.
       Selten wird unser Angebot der Unterstützung angenommen. Und bei Frau S. war
       es der klassische Fall: Es passierte einfach gar nichts.
       
       Und dann? 
       
       Thiele: Wir erfuhren dann, dass die gesetzliche Betreuerin ihre Kosten
       abgerechnet hat und die Betreuung eingestellt wurde.
       
       Mit welcher Begründung? 
       
       Thiele: Dass Frau S. hier keinen Anspruch hat, die Schweiz ist auch nicht
       in der EU und so, man fühlte sich nicht zuständig und war einfach
       überfordert. Ich war wirklich erschrocken über das Gesetz. Die Dame konnte
       sich einfach nicht selbst versorgen.
       
       Und dann? 
       
       Thiele: Wir haben hier so ein Container-Projekt für obdachlose Frauen und
       da haben wir sie untergebracht. Wir haben unser Angebot extra für sie
       erweitert, haben hier morgens und abends extra Essen gemacht, ich habe sie
       zum Duschen motiviert, habe ihr die Wäsche gewaschen, habe ihren Container
       gereinigt, habe versucht, sie zum Arzt mitzunehmen, den Arzt sogar zu ihr
       gebracht und habe versucht, ihr eine Perspektive zu erarbeiten. Und dann
       kam vom Gericht die Ansage: „Sie wissen ja gar nicht, ob sie sich nicht
       doch selbst versorgen kann, warten sie es doch mal zwei Wochen ab und
       fahren sie ihr Angebot runter.“ Aber wir haben ja schon gesehen, wie groß
       die Not war und dass sie es alleine nicht kann. Dann haben wir nichts mehr
       gehört vom Gericht. Wir haben sie bis in ihre Heimat, die Schweiz,
       zurückbegleitet und da lebt sie heute auch noch.
       
       Ist das ein klassischer Fall? 
       
       Thiele: Ja. Sei es den hohen Fallzahlen geschuldet oder sei es nur
       Überforderung mit der Situation. Wenn wir einen gesetzlichen Betreuer
       beantragen, machen wir ja die Dringlichkeit deutlich und merken dann oft,
       dass unsere Fälle offenbar ganz nach unten in den Stapel wandern, weil die
       Bearbeiter auch wissen, dass man hier nicht viel machen kann.
       
       Stimmt das nicht irgendwie auch? 
       
       Thiele: Ja, ein gesetzlicher Betreuer kann da alleine tatsächlich wenig
       machen, aber in Kombination mit einem Sozialarbeiter, der die Leute auf der
       Straße aufsucht, geht schon einiges. Um die psychisch kranken Obdachlosen
       zu erreichen, müssen wir rauskommen aus den Institutionen und zu den
       Menschen hingehen.
       
       Becker: Als ich hier im Projekt anfing, habe ich mal die rund 2.000
       Patienten der Schwerpunktpraxen im Computer durchgesehen, da waren auch die
       Diagnosen vermerkt, und es war überwiegend Alkoholismus. Psychiatrische
       Erkrankungen im engeren Sinne nicht mal eine Handvoll.
       
       Was waren das für Diagnosen? 
       
       Becker: Schizophrenie, Persönlichkeitsstörung, Depression. Ich habe es mir
       dann zur Aufgabe gemacht, eine Verdachtsdiagnose zu vermerken, die
       wenigstens ein bisschen Substanz hat. Wir finden auf der Straße kaum
       jemanden, der nicht gerade ein Bier gekippt hat. Du kannst also allen
       Alkoholismus unterjubeln. Hamburg täte gut daran, einen Psychiater mit
       Anbindung an eine Klinik zu haben, der mindestens 50 Prozent seiner
       Arbeitszeit auf der Straße verbringt und die Sozialarbeiter auf der Straße
       kennt und so auch irgendwann die psychisch kranken Obdachlosen kennt und
       eine Idee von der Lebenslage hat. Das ist die Mindestforderung.
       
       Thiele: Wir erleben auch in unseren anderen medizinischen Hilfsprojekten,
       dass das eine ohne das andere gar nicht geht. Viele Betroffene wissen
       selbst, wie schwer es ist, wieder in Wohnraum zu kommen, auch ohne eine
       psychische Störung. Sie haben oft schon die Erfahrung gemacht, dass es
       nichts für sie gibt, vielleicht sind sie schon aus Einrichtungen
       rausgeflogen, weil sie sich nicht anpassen können. Die Menschen sind eben
       kompliziert für das Regelsystem und überfordern alle, die Kliniken, aber
       auch die Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe, haben teilweise Hausverbot.
       In Hamburg gibt es zum Beispiel kaum Einzelzimmer für Männer in
       Notunterkünften, es gibt kaum Anlaufstellen, die psychiatrischen
       Sprechstunden sind in fast allen Einrichtungen weggebrochen.
       
       Bremen widmet jetzt eine Flüchtlingsunterkunft in 28 Einzelzimmer für
       psychisch kranke Wohnungslose um. Ist das eine gute Idee? 
       
       Thiele: Ja, man muss es nur hinkriegen, dass die Menschen sich nicht
       gegenseitig negativ beeinflussen. Wir erleben das ja mit unserem
       Container-Projekt für Frauen, das ist total niedrigschwellig, man muss
       keine Bedingungen erfüllen, wer ein Einzelzimmer braucht, bekommt eines und
       dann ist erst mal gut. Wir erleben, dass die Menschen das annehmen können.
       Es ist jedoch klein und muss als Zwangsgemeinschaft verstanden werden.
       
       Wieso wurde in Hamburg die Versorgung für psychisch Kranke zurückgefahren?
       Der Bedarf ist ja nicht kleiner geworden, oder? 
       
       Thiele: Es gab ein Projekt der Stadt mit der Uni Hamburg und man hat
       festgestellt, dass es ganz gut ist, Menschen zu behandeln, die nicht im
       Regelsystem ankommen. Hierfür gibt es drei Schwerpunktpraxen, eine in Hand
       der Caritas, aber psychiatrische Sprechstunden sind schwer zu besetzen und
       daher kaum gegeben. Es ist auch schwer, Psychiater zu finden, die sich mit
       diesem Personenkreis befassen. Bei den anderen Medizinern, die zum Beispiel
       mit dem Krankenmobil rausfahren, ist das Interesse hingegen rege.
       
       Wieso? 
       
       Thiele: Ich glaube, weil die Hilfe greifbarer ist. Man klebt dieses
       Pflaster auf. Man gibt diese Tablette mit. Und dann gibt es eben ein
       größeres System, in dem ein besserer Hilfeprozess ablaufen kann.
       
       Hat man denn das Problem mit den psychischen Erkrankungen überhaupt schon
       richtig erfasst? 
       
       Thiele: Alle Seiten wissen, dass es dieses Problem gibt. Es ist ja auch
       weithin sichtbar im Hamburger Stadtbild. Und es bleibt dabei: Man muss
       einfach raus auf die Straße, dahin, wo die Leute sind, und als Grundlage
       Räume schaffen, die fast bedingungslos Eintritt gewähren und Spielräume
       lassen. Wenn Sie einen Obdachlosen fragen, wo es medizinische Hilfe gibt,
       können Ihnen die meisten genau sagen, wann welche Sprechstunden sind, wann
       wo das Krankenmobil steht und so weiter. Aber wenn ich die Betroffenen
       fragen würde, „Wisst ihr, wo ihr hingeht, wenn ihr mal mit jemandem reden
       wollt oder ein psychisches Problem habt“, würden die meisten sagen: „Nein.“
       
       11 Nov 2018
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ilka Kreutzträger
       
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