# taz.de -- Prozessauftakt gegen 94-jährigen Nazi: Der vergessliche KZ-Wächter
       
       > Der Angeklagte Johann R. will von den Nazi-Verbrechen im KZ Stutthof
       > nichts mitbekommen haben. Dabei war der SS-Mann dort selbst Wachmann.
       
 (IMG) Bild: Johann R. zum Prozessauftakt am 6. November im Landgericht Münster
       
       MÜNSTER taz | Der Angeklagte trägt einen verbeulten grünen Hut, als er von
       einem Justizbeamten im Rollstuhl in den Sitzungssaal geschoben wird. Er
       nimmt ihn ab. Johann R., grauer Haarkranz, weißes Hemd unter dem dunklen
       Mantel, grüßt mit erhobener Hand, bevor er seinen Platz, zwischen seinen
       beiden Anwälten gelegen und ganz rechts in dem holzvertäfelten Saal,
       erreicht. Der Mann ist 94 Jahre alt. An diesem sonnigen Novembertag beginnt
       der Prozess gegen R. Die Anklage gegen ihn lautet auf mehrere hundert Fälle
       der Beihilfe zum Mord, begangen im ehemaligen Konzentrationslager Stutthof
       bei Danzig.
       
       Prozesse wie dieser in Münster sind selten geworden. Die meisten
       Verdächtigen, Greise inzwischen, [1][sind verhandlungsunfähig oder
       verstorben]. Das letzte Verfahren gegen einen NS-Verbrecher liegt zwei
       Jahre zurück: 2016 verurteilt das Landgericht Detmold [2][den früheren
       SS-Unterscharführer Reinhold Hanning], der in Auschwitz eingesetzt worden
       war, zu fünf Jahren Haft.
       
       Mit dem Münsteraner Verfahren rückt nun ein Konzentrationslager in den
       Fokus, dass den wenigsten Deutschen bekannt sein dürfte – obwohl es
       tatsächlich schon sehr früh bestand. Der Holocaust geschah eben nicht nur
       in Auschwitz und Treblinka, er fand an vielen Orten statt, von Maly
       Trostinez in Weißrussland über Sobibor im besetzten Polen bis eben
       Stutthoff, wo ab 1944 vor allem Jüdinnen zu Tausenden eingeliefert und
       ermordet wurden. Insgesamt sind dort mehr als 40.000 Menschen ums Leben
       gekommen. Eine Beteiligung daran wirft die Staatsanwaltschaft Johann R.
       vor.
       
       R. spricht mit leiser, aber deutlicher Stimme. Mehr als 70 Jahre sind
       vergangen, seit der junge Johann, von seinen Kameraden damals „Bubi“
       genannt, dort als SS-Wachmann Dienst geschoben hat. Auf Schwarz-Weiß-Fotos
       aus der Zeit ist ein junger Mann mit vollem dunklem Haar zu erkennen. Weil
       R. damals unter 21 Jahre alt war, findet das Verfahren vor einer
       Jugendkammer des Landgerichts im westfälischen Münster statt. R. ist nicht
       geständig. Zwar sei er zwischen Juni 1942 und September 1944 in Stutthof
       eingesetzt gewesen, das gibt er zu, doch habe er von Morden dort nichts
       mitbekommen, äußerte er sich in einer Vernehmung.
       
       ## 70 Jahre ungestörtes Leben
       
       Mehr als 70 Jahre konnte R. ein ungestörtes Leben führen, unbehelligt von
       seinen Jugendjahren in der 3. Kompanie des SS-Totenkopfsturmbanns Stutthof,
       wo er am 1. Februar 1943 zum SS-Sturmmann befördert worden war. Der
       ursprünglich aus Rumänien stammende Mann heiratete, bekam drei Kinder,
       promovierte und stieg zum Direktor einer Fachschule für Gartenbau in
       Nordrhein-Westfalen auf und ging mit 65 Jahren in Rente. R. sitzt nicht in
       Untersuchungshaft, er lebt in einem kleinen Ort in der Nähe von Münster.
       Keine Fluchtgefahr.
       
       An diesem Dienstag, in diesem Gerichtssaal in Münster, holt ihn seine
       Vergangenheit ein. Was er aber in den zwei Jahren in Stutthof getrieben
       haben soll, das wird deutlich, als der Dortmunder Oberstaatsanwalt Andreas
       Brendel die Anklage verliest. Er beginnt geradezu harmlos, redet in
       nüchternem Ton von den Wachmannschaften, die 24 Stunden am Tag die Türme
       des Lagers besetzt hielten, tagsüber die Arbeitskommandos begleiteten und
       bewachten und in Postenketten eingesetzt worden seien: „Die Arbeitszeiten
       der Wachleute waren sieben Tage in der Woche zehn bis zwölf Stunden pro Tag
       bzw. Nacht bei zwei Wochen Urlaub zuzüglich zwei Reisetagen pro Jahr“, sagt
       Brendel.
       
       Johann R. hört ihm aufmerksam zu, ohne dass eine Regung in seinem Gesicht
       zu sehen wäre. Brendel spricht weiter, kommt zu den Tötungshandlungen, wie
       das im Juristendeutsch genannt wird. Da geht es um „Tötungen mittels des
       Giftgases Zyklon B zunächst in der Gaskammer neben dem Krematorium und
       später auch in den Waggons der Schmalspurbahn, welche in das Lager
       hineinführte“. Und Brendel sagt: „Die Menschen, die sich der Einwurfstelle
       am nächsten aufhielten, nahmen das Gift als erste auf.
       
       Die weiter entfernt stehenden Menschen bemerkten die Symptome und den
       Todeskampf der zuerst Betroffenen und mussten diesen mit ansehen, bevor
       sich die Symptome bei ihnen selbst entwickelten.“ Der Tod, so Brendel, sei
       im Allgemeinen innerhalb einiger Minuten eingetreten, „wobei der Todeskampf
       der Opfer bei niedrigen Temperaturen u.a. in den Eisenbahnwaggons auch
       deutlich länger dauern kann“. Die Rufe und Schreie der Opfer seien auch
       außerhalb zu hören gewesen.
       
       ## Zur Täuschung Arztkittel getragen
       
       Der Angeklagte hört weiter zu, während Andreas Brendel, am anderen Ende des
       Gerichtssaals stehend, fortfährt. Da geht es um Tötungen durch die
       Lebensverhältnisse – fehlende schützende Kleidung, die miserablen
       Unterbringungsverhältnisse in hölzernen und überfüllten Baracken, die
       schwere Arbeit, unzureichende medizinische Versorgung und vor allem um den
       Hunger. Der Staatsanwalt kommt auf die Erschießungen in einem Nebenraum des
       Krematoriums zu sprechen, die vor Inbetriebnahme der Gaskammer gang und
       gebe gewesen waren. Sie betrafen vor allem Juden, die Brendel
       „antisemitisch Verfolgte“ nennt.
       
       „Die Opfer wurden jeweils von einem SS-Angehörigen in Empfang genommen, der
       aus Täuschungsgründen eine weißen Arztmantel trug“, verliest Brendel. Die
       Opfer seien in einen Nebenraum geschickt worden, wo man ihnen vorgaukelte,
       ihre Größe zu vermessen. „So traten die Häftlinge jeweils im Glauben, dass
       man ihre Körpergröße messen wolle, mit dem Rücken zur Messlatte. In einem
       Schlitz verlief ein Querstab, welcher der Person auf den Kopf gelegt wurde.
       
       War dieser Querstab auf die Größe des Opfers eingestellt, so war durch ein
       sich verschiebendes Brett eine Öffnung nach hinten abgegrenzt. Diese
       Öffnung befand sich in Höhe des Genicks des Opfers. Sie mündete in einem
       weiteren Nebenraum, in den sich die als Schützen betätigenden SS-Männer
       befanden“, sagt Brendel. Für 40 Menschen benötigte die SS etwa zwei
       Stunden.
       
       Dem Angeklagten in Münster wird nicht vorgeworfen, selbst gemordet zu
       haben. Dafür liegen keine Hinweise vor. Es geht um Beihilfe zu Mord,
       begangen durch seine Wachtätigkeit in Stutthof, Damit, so der Vorwurf, habe
       R. die arbeitsteilige Tötung von Zehntausenden Menschen ermöglicht. Er habe
       gewusst, in welcher Art und Weise die Morde durchgeführt wurden. Brendel
       ist zusammen mit einem LKA-Ermittler selbst in der heutigen Gedenkstätte
       des ehemaligen KZ Stutthof gewesen. Sie haben Vermessungen durchgeführt und
       sind auf die Wachtürme gestiegen.
       
       Sie wollten wissen, wie viel ein Wachmann von den Morden mitbekommen
       musste, selbst wenn niemand bei geselligen Abenden darüber gesprochen
       hätte. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass der Mord in Stutthof für die
       Wachmänner ein offenes Geheimnis gewesen ist.
       
       ## 17 Nebenkläger
       
       Der Prozess dauert jetzt bereits fast eine Stunde an, doch der Angeklagte
       zeigt keine Ermüdungserscheinungen. Wegen seiner eingeschränkten
       Verhandlungsfähigkeit sind die Verhandlungen auf jeweils zwei Stunden
       beschränkt. Zwischen den Verhandlungstagen muss ein Tag Pause eingelegt
       werden. Warum mussten mehr als 70 Jahre vergehen, bis R. vor Gericht
       gestellt wurde, nun, im November des Jahres 2018? Warum so viel Zeit?
       
       Diese Frage treibt auch einige der 17 Nebenkläger an. Es sind Opfer, die
       Stutthof überlebt haben. Keiner von ihnen ist heute vor dem Gericht
       erschienen, denn auch sie sind sehr alt geworden, zu gebrechlich für die
       lange Reise aus Israel oder den USA nach Deutschland. Sie werden durch ihre
       Anwälte vertreten, die ganz links im Saal sitzen.
       
       Tatsächlich hätte es gegen Männer wie R. vor gut zehn Jahren keinen Prozess
       gegeben. Dafür, so die langjährige und im Sinne der Täter durchaus
       hilfreiche Begründung, war auch beim Vorwurf der Beihilfe zum Mord ein
       individueller Mordvorwurf notwendig. Erst seit wenigen Jahren ist die
       bundesdeutsche Justiz zu der Überzeugung gekommen, dass alleine die
       Anwesenheit in einem Lager, in dem Menschen planmäßig vernichtet wurden,
       für eine Verurteilung ausreichen kann. Deshalb muss sich heute in Münster
       ein Greis verantworten. Die allermeisten seiner SS-Kameraden sind davon
       gekommen, weil sie längst verstorben sind.
       
       ## „Diese Gerechtigkeit kommt zu spät“
       
       Die Opfer sprechen heute in Münster – auch wenn sie nicht da sind. Einige
       ihrer Anwälte verlesen persönliche Erklärungen ihrer Mandanten. Der
       Angeklagte bekommt Kopfhörer gereicht, damit er die Nebenklagevertreter
       auch gut verstehen kann. Judith Meisel ist 88 Jahre alt, lebt in
       Minneapolis im US-Bundesstaat Minnesota und hat das KZ Stutthof überlebt.
       Ihr Anwalt Cornelius Nestler liest ihre Erklärung vor: „Dass der Angeklagte
       am Ende seines Lebens doch noch mit seiner Beteiligung an diesen mit
       menschlichen Maßstäben nicht greifbaren Verbrechen konfrontiert wird, ist
       schlicht eine Frage der Gerechtigkeit. Diese Gerechtigkeit kommt spät,
       allzu spät. Dieses Strafverfahren bedeutetet für mich Gerechtigkeit, und es
       bringt späte Gerechtigkeit für meine ermordete Mutter.“
       
       Und dann lässt Marga Griesbach ausrichten, dass sie „kein Groll, keinen
       Hass und keine Wut“ hege. Dass Gerechtigkeit kein Verfallsdatum habe. Und
       dass gerade jetzt dieses Verfahren ganz besonders wichtig sei, heute, wo
       „wieder gegen Minderheiten gehetzt“ werde, und eine „einwandererfeindliche
       Rhetorik“ in ihrer neuen Heimat, den USA, verbreitet sei.
       
       Die Vertreter der Nebenkläger stellen den Antrag, dass das Gericht nach
       Stutthof reisen möge, um sich selbst ein Bild zu machen. Die Verteidigung
       schließt sich dem Begehren an. Gut möglich, dass die Verfahrensbeteiligten
       bald die KZ-Gedenkstätte in Polen besuchen. Nein, der Angeklagte würde
       nicht mitreisen. Dann, es ist noch nicht einmal zwölf Uhr, ist das
       Verfahren für den heutigen Tag beendet. Ein Justizbeamter fährt den
       Angeklagten in seinem Rollstuhl aus dem Gerichtssaal. Übermorgen, am
       Donnerstag, geht es weiter. Die Kammer hat Termine bis in den Februar
       gemacht.
       
       Der angeklagte Dr. Johann R. wird auch nicht jünger.
       
       6 Nov 2018
       
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