# taz.de -- Demonstration gegen Rassismus: Abstimmung mit den Füßen
       
       > „Unteilbar“: Ein Slogan macht mobil. 40.000 sollten nach Berlin kommen,
       > über 200.000 sind es geworden – was für ein Erfolg!
       
 (IMG) Bild: Das Gegenbild zum dumpfen Deutschland: am Samstag nahe der Berliner Siegssäule
       
       Berlin taz | Vielleicht ist es einfach noch zu früh, 12 Uhr am Samstag,
       keine gute Zeit für BerlinerInnen. Rund um den Alexanderplatz stehen die
       Lautsprecherwagen locker verteilt in der Sonne, der entgangen zu sein
       scheint, dass es längst Herbst geworden ist. Dazwischen aber ist noch viel
       Platz. Grüppchen schlendern etwas ziellos hin und her.
       
       Vor dem Lastwagen, von dessen Ladefläche die RednerInnen der
       Auftaktkundgebung sprechen sollen, ist nur eine kleine Menge versammelt.
       Ryanair-Beschäftigte werfen Papierflieger mit ihren aufgedruckten
       Forderungen über die Köpfe der Anwesenden. Ein Gebärdensprachdolmetscher
       steht auf der Bühne. 40.000 Menschen hatte das #unteilbar-Bündnis
       angekündigt. Schon das war niedrig angesetzt. Alles darunter, das weiß
       jeder hier, würde als Pleite gewertet.
       
       Doch bevor sich unter den Veranstaltern wirklich Nervosität ausbreiten
       kann, ändert sich das Bild. Auf Twitter machen Meldungen von völlig
       überfüllten U-Bahnen die Runde. Immer mehr Menschen strömen auf den Platz.
       
       Um 13 Uhr ist auch Jeannette Böhme dabei, die sich am nördlichen Rand des
       riesigen Platzes mit einer Freundin verabredet hat. Die Sonne knallt, die
       38-jährige Berlinerin mit kurzen dunklen Haaren hat eine Jeansjacke
       umgeknotet, die sie in den nächsten Stunden nicht brauchen wird. Zu diesem
       Zeitpunkt stehen schon tausende Menschen dicht an dicht. Wer von einer
       Straßenseite zur anderen kommen will, braucht Geduld.
       
       ## Von der Taxi-Innung bis zu den Eisbären – viele sind dabei
       
       Schon im Vorfeld war klar, dass diese Demonstration vielfältig werden
       würde: Über 30 thematische Blöcke haben ihre Teilnahme angekündigt. Die
       antirassistische Seebrückenbewegung ist dabei und die Berliner Taxi-Innung,
       es gibt einen Fußballblock und einen, in dem sich AnwältInnen sammeln, die
       Berliner Eisbären haben genauso aufgerufen wie die Interventionistische
       Linke oder die SPD.
       
       Bei einem so großen Bündnis blieben Angriffe nicht aus: Teile der Berliner
       CDU wetterten gegen die Zusammenarbeit mit „Linksextremisten“, andere
       kritisierten die Beteiligung des Zentralrats der Muslime. Jedoch: Das
       Bündnis hielt. Die Angriffe schienen abzuperlen.
       
       Und das, ohne die Widersprüche totzuschweigen: „Auf diesem Platz stehen
       heute auch Menschen, die offen zum Boykott Israels aufrufen. Wie gehen wir
       damit um?“, sagt Lala Süsskind vom Jüdischen Forum für Demokratie und gegen
       Antisemitismus während der Auftaktkundgebung. Der Antisemitismus, sagte
       Süskind, „vereint heute viele Gegner der Demokratie“. Juden würden heute in
       Deutschland auch „von denen angegriffen, angespuckt und beleidigt, die
       selbst von Rassisten angegriffen, angespuckt und beleidigt werden.“ Wer
       sich gegen Rassismus wende, müsse sich gleichermaßen gegen Antisemitismus
       aussprechen.
       
       ## Jeannette Böhme muss bis zum Start lange warten
       
       Jeannette Böhme steht zwei Stunden nach ihrer Ankunft immer noch an
       derselben Stelle. Sie wartet darauf, dass sich der feministische Block, in
       dem sie mitlaufen möchte, endlich in Bewegung setzt.
       
       Dass sie bei #unteilbar dabei sein würde, sei klar gewesen, seit sie im
       Sommer von der Mobilisierung gehört habe, sagt Böhme, die bei Medica
       Mondiale arbeitet. Die Organisation ist aktiv gegen sexualisierte
       Kriegsgewalt und setzt sich dafür ein, dass Überlebende eine angemessene
       Unterstützung erhalten.
       
       „Ich bin ein politischer Mensch“, sagt sie, „aber ich bin nicht jedes
       Wochenende auf Demos unterwegs.“ Auf die Frage nach ihrer letzten
       Demonstration muss sie eine Weile überlegen: Vor ein paar Jahren in Köln
       war das, sagt sie schließlich. So ganz genau erinnert sie sich nicht, worum
       es ging – aber mit dem Rechtsruck hatte es wohl schon damals zu tun.
       
       Es ist nicht so, dass es an Gelegenheiten gemangelt hätte in den letzten
       Jahren, gegen rechtes Gedankengut auf die Straße zu gehen. Aber diese
       Demonstration heute ist etwas anderes: Als die Demospitze gegen 15 Uhr die
       Straße des 17. Juni erreicht, hat sich das Ende des Zugs am Alexanderplatz,
       dort, wo Böhme steht, noch nicht einmal in Bewegung gesetzt. Viereinhalb
       Kilometer Route liegen dazwischen.
       
       ## Die kühnsten Hoffnungen übertroffen
       
       40.000 Menschen hatte das Bündnis erwartet, auf mehr als 50.000 gehofft. Ob
       es vielleicht auch 100.000 werden könnten, war in den Tagen zuvor
       diskutiert worden, als immer mehr Menschen in Berlin den Eindruck hatten,
       es gebe niemanden in ihrem Bekanntenkreis, der für diesen Samstag etwas
       anderes geplant habe. Doch es sind noch viel mehr: Nachdem sie anfangs von
       150.000 gesprochen hatten, korrigieren die Veranstalter ihre Zahl später
       auf 242.000 Menschen. Die Polizei gibt keine eigene Angabe heraus. Wer die
       Demonstration an sich vorbeiziehen lässt, dem erscheint eine Zahl von
       deutlich über 200.000 realistisch.
       
       Als es auch für Jeannette Böhme endlich losgeht, nickt sie: „Erste Hürde
       genommen“, sagt sie zufrieden. Einige kapitulieren nach der langen Warterei
       in der Sonne da bereits: Ein Paar überlegt, bis wohin es wohl mitlaufen
       werde. „Ich find das nicht okay“, sagt Böhme halb im Scherz: „Wenn schon,
       denn schon.“
       
       Das Datum von #unteilbar habe sie sich sofort in den Kalender eingetragen.
       Sie mache sich große Sorgen über das, was gerade in Deutschland passiere:
       „Der wachsende Antifeminismus, der mit dem Rechtsruck einhergeht, ist eine
       Bedrohung“, sagt sie. Rechtspopulistische und konservative AkteurInnen
       versuchten gerade, Frauen ihre Selbstbestimmungsrechte über den eigenen
       Körper wieder zu nehmen, sagt Böhme. „Aber ein Frauenbild von 1933 ist 2018
       nicht hinnehmbar.“
       
       Nun ist sie mit einer Freundin vom Gunda-Werner-Institut für
       Geschlechterdemokratie unterwegs, die ihrerseits mit fünf, sechs weiteren
       Personen verabredet ist. Im Gewühl ist das pinkfarbene Stoffbanner des
       Instituts, das drei Menschen an Holzstöcken hoch über ihren Köpfen tragen,
       eine gute Orientierung. „Feminismus ist #unteilbar“ steht darauf.
       
       Zwischen Trommeln, Musik und Redebeiträgen muss man schreien, um sein
       eigenes Wort noch zu verstehen. Das Wummern der Bässe aus den verschiedenen
       Lautsprechern geht ineinander über, manche halten sich die Ohren zu, aber
       fast alle scheinen ihre gute Laune zu behalten. Weite Teile der
       Demonstration laufen ganz ohne offensichtliche Begleitung der Polizei – für
       Berlin ein ungewohntes Bild.
       
       Als an der Siegessäule die Abschlusskundgebung beginnt, stehen hier nur
       einige Tausend vor der Bühne – der Rest ist noch lange nicht angekommen. So
       viele haben aufgerufen, so viele wollen sprechen: 44 Punkte umfasst das
       Programm der Abschlusskundgebung, fast sechs Stunden soll es dauern.
       
       ## Eine Demonstration für alle
       
       „Ja, so groß hatte man das nicht erwartet“, sagt am Abend Sabrina Zajak.
       2013 hat sie das Institut für „Protest und Bewegungsforschung“ gegründet,
       deren Vizechefin sie bis heute ist. Ihre Erklärung für die Resonanz lautet,
       dass der Aufruf auf die Frage der Teilhabe gesetzt hat. „Da kommen die
       streikende Ryanair-Stewardessen und der von Abschiebung bedrohte Kosovare
       zusammen“, sagt sie, „beim Gefühl, nicht teilhaben zu können.“ Die Menschen
       würden spüren, dass gesellschaftlicher Zusammenhalt zu zerbrechen drohe.
       „Das bedroht grundlegende Normen und Werte und da sagen eben viele: Hey, so
       nicht.“
       
       Ist die Klammer aber am Ende nicht so weit gefasst, dass nach diesem Tag
       alles wieder in Partikularität zerfällt? Zajak glaubt das nicht. Für sie
       sind Ereignisse wie #unteilbar „kulturelles Handeln“, das Bewegungen nach
       vorne bringt. „Bewegungen müssen in den Köpfen ankommen“, sagt sie und die
       Geschichte zeige, dass es Tage wie dieser Samstag seien, „die langfristig
       eine breite Bewusstseinsbildung ermöglichen“.
       
       Auch Böhme ist mittlerweile an der Siegessäule angekommen. „Ich bin ganz
       schön platt“, sagt sie. Sie sei sehr beeindruckt von der Demonstration:
       „Man hat gemerkt, dass die Leute ein Anliegen haben“, sagt sie. Sie
       empfinde es als „total stärkend“, „dass so viele Menschen auf die Straße
       gegangen sind: „Ich bin sehr erleichtert, dass die Mehrheit der Menschen
       offenbar nicht ins Jahr 1933 zurück will.“ #unteilbar sei etwas, was im
       Gedächtnis bleiben werde: „So ein breites Bündnis gibt es nicht oft – und
       so ein klares Zeichen gegen rechts und für soziale Gerechtigkeit auch
       nicht.“
       
       Dass Breite nicht Beliebigkeit bedeuten muss, merkt man am Programm der
       Abschlusskundgebung. Dort gibt es überwiegend Deutliches, eindeutig Linkes
       und wenig Weichgespültes zu hören. „Es geht hier nicht darum, ein Zeichen
       zu setzen. Es geht um eine soziale Bewegung, die nachhaltig wirken soll“,
       sagt etwa die Publizistin Carolin Emcke. „Wir kämpfen nicht nur darum, dass
       die AfD verschwindet. Wir kämpfen für eine ganz andere Gesellschaft“, sagt
       die Moderatorin Thelma Buabeng später, und Zehntausende applaudieren.
       
       „Überwältigend“, nennt Anna Spangenberg den Tag. Seit zehn Jahren leitet
       sie das brandenburgische Aktionsbündnis gegen Fremdenfeindlichkeit in
       Potsdam, in den letzten Wochen war sie vor allem die Sprecherin von
       #unteilbar.
       
       Der Aufruf habe sich bewährt. Jüdinnen und Muslime hätten gemeinsam
       gesprochen. Auf solche Dinge komme es doch an, sagt sie. Es sei „fünf vor
       zwölf“ heißt es in dem Video, das das Bündnis vor der Demonstration gemacht
       hat. Was würde denn um zwölf geschehen, wenn es nicht noch schnell
       abgewendet wird? Spangenberg überlegt kurz. Dann sagt sie dasselbe wie die
       Bewegungsforscherin Zajak: Dass der soziale Zusammenhalt zerbreche. Und ist
       das, was heute passiert ist, genug, um das zu verhindern? „Es war ein
       Höhepunkt und wir hoffen, dass es auch ein Auftakt war“, sagt sie.
       
       In der früheren Version des Artikels hieß es, die Teilnehmerzahl von
       242.000 Menschen sei von der Leipziger Forschungsgruppe Durchgezählt
       berechnet worden. Das war ein Irrtum, deswegen haben wir diese Angabe
       gestrichen.
       
       14 Oct 2018
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Malene Gürgen
 (DIR) Patricia Hecht
 (DIR) Christian Jakob
       
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