# taz.de -- Klimapolitik in den Niederlanden: Der Treibhaus-Effekt
       
       > Die Niederlande haben ein Klima-Gesetz vorgelegt, das als vorbildlich
       > gilt. Macht das Land ernst mit dem Ausstieg aus Kohle, Gas und Öl?
       
 (IMG) Bild: Eine Landschaft voller Gewächshäuser: die Niederlande
       
       Maasdijk/Den Haag taz | Tomaten, so weit das Auge reicht. Die Früchte
       hängen an den Pflanzen, die sich etwa fünf Meter hoch bis unter das
       Glasdach ranken: oben noch klein und grün, unten satt und rot, reif zur
       Ernte. Reihe um Reihe ziehen sich die Tomatensträucher im Gewächshaus von
       Wilko Wisse hin, einem Raum, so groß wie fünf Fußballfelder. „Unsere
       Strauchtomaten gehen auch nach Deutschland, zu Edeka und Aldi“, sagt Wisse,
       ein kräftiger Mann mit zupackenden Gesten und schneller Sprache, der für
       die Firma Lans in Maasdijk arbeitet. „Wir ernten davon 26 Millionen Kilo
       rund ums Jahr.“ Hinter ihm schnaubt und rattert die Maschine, die die
       5-Kilo-Boxen mit den roten Früchten für den Transport verpackt.
       
       80 Prozent der niederländischen Tomaten gehen in den Export. Das kleine
       Land, das seine Fläche dem Meer abgetrotzt hat, ist der zweitgrößte
       Exporteur von Agrargütern in der Welt. Dafür haben seine Ingenieure und
       Tüftler die Landwirtschaft vom Land völlig getrennt. Im Südwesten des
       Landes nahe der Hauptstadt Den Haag reiht sich Glashaus an Glashaus,
       dazwischen Autobahnen und Kanäle. Hier wachsen Tomaten, Gurken, Paprika,
       aber auch Chrysanthemen und Orchideen. In den Treibhäusern gibt es
       konstante Temperaturen, künstlichen Regen, künstliche Ernährung, künstliche
       Nächte. Wisses Tomaten brauchen nicht einmal Erde – ihre Wurzeln stecken in
       Mineralwolle. Sie bekommen Dünger und Wasser über Schläuche und Rohre.
       Mensch und Maschine haben in dieser Tomatenfabrik alles unter Kontrolle.
       
       So soll das jetzt auch mit dem Klimaschutz laufen. Ende Juni haben drei
       Viertel der Abgeordneten im Parlament der Niederlande ein Gesetz vorgelegt,
       das als Vorbild für die ganze Welt gilt: Es schreibt fest, dass die
       klimaschädlichen CO2-Emissionen des 17-Millionen-Volks bis 2050 verbindlich
       um 95 Prozent gegenüber 1990 sinken müssen. Bis 2030 sollen es schon minus
       49 Prozent sein. Ab 2019 muss die Regierung alle fünf Jahre eine Strategie
       vorlegen, wie diese Ziele zu erreichen sind. Und jedes Jahr muss sie mit
       einem „Klimatag“ die Öffentlichkeit informieren. Die holländische Antwort
       auf den Treibhauseffekt ist so ausgeklügelt wie die Bedienungsanleitung für
       Wilko Wisses Tomatenanbau.
       
       ## Landwirtschaft ohne Land
       
       Schon erklingt überall Lob. Ein „inspirierendes Beispiel und ein neuer
       Maßstab klimapolitischer Führung“ sei das Projekt, sagt Christiana
       Figueres, die für die UN das Pariser Klimaabkommen verhandelt hat. „Andere
       Länder sollten folgen.“ Die anderen Länder kämpfen erst mal damit, dass die
       USA aus dem Klimaschutz aussteigen wollen und dass es vor der
       entscheidenden UN-Konferenz im Dezember großen Streit um die Details des
       Pariser Abkommens gibt. Es gibt aber auch positive Beispiele: Länder wie
       Großbritannien, Schweden, Mexiko, Frankreich oder Costa Rica haben ähnliche
       Regeln erlassen.
       
       In Deutschland, wo die Große Koalition ein Klimagesetz versprochen hat,
       blicken viele neidisch zum westlichen Nachbarn. Für eine Reduktion um 95
       Prozent nach holländischem Muster hat sich immerhin schon die staatliche
       „Deutsche Energieagentur“ ausgesprochen.
       
       Minus 95 Prozent, das bedeutet: In 32 Jahren ist Schluss mit den
       Kohlekraftwerken, den Gasheizungen, den Autos mit Verbrennungsmotor. Das
       heißt aber auch: eine völlige Umstellung in den Stahlwerken, Raffinerien
       und Chemieanlagen. Und es erfodert neue Ideen für die „Land“wirtschaft in
       den Treibhäusern, die bislang den Großteil der Energie im Agrarsektor
       verbrauchen.
       
       ## Kein Vorreiter beim Klimaschutz
       
       „Es haben noch nicht alle verstanden, welche gewaltige Aufgabe da auf uns
       wartet“, sagt Tom van der Lee. Der Abgeordnete der Groenlinks-Fraktion im
       niederländischen Parlament „Tweede Kamer“ hat drei Jahre lang für das
       Klimagesetz gekämpft. Aus seinem Büro im altehrwürdigen Gebäude in der
       Mitte von Den Haag wurden früher die holländischen Kolonien verwaltet.
       Jetzt sitzt hier van der Lee, blauer Anzug, offenes weißes Hemd, sorgfältig
       frisierte kurze schwarze Haare mit grauen Spitzen. Über ihm an der Wand
       hängt ein Plakat der Ausstellung „Links in der Krise“. Und van der Lee
       erzählt, wie schwierig es war, sieben Fraktionen hinter das Gesetz zu
       bekommen.
       
       Grüne und Sozialdemokraten haben das Gesetz vorangetrieben. Einfach war das
       nicht. Denn die Niederlande sind keineswegs Vorreiter beim Klimaschutz. Im
       Stromnetz fließen nur 14 Prozent Ökostrom, in Deutschland sind es bereits
       36. Das Klimaziel für 2020 von minus 25 Prozent wird das Land verfehlen.
       Und selbst dieses Ziel gibt es nur, weil 2015 die Umweltgruppe „urgenda“
       mit 900 Bürgerinnen und Bürgern die Regierung auf mehr Klimaschutz
       verklagte – und überraschend recht bekam.
       
       Der konservativen Regierung unter Mark Rutte war Klimaschutz bis dahin
       ziemlich egal gewesen, nun verkündete sie im Herbst 2017 ein umfangreiches
       Regierungsprogramm, von dem deutsche Umweltschützer bisher nur träumen:
       Ende der Kohlekraftwerke bis 2030, ein nationaler Mindestpreis für CO2 von
       18 Euro, Druck auf die EU zu mehr Klimaschutz. 2030 soll auch Schluss sein
       mit der Gasförderung im Meer bei Groningen. Der Grund dafür ist allerdings
       weniger der Klimaschutz als die vielen Erdbeben bis Stärke 3,8, die die
       Bohrungen in der Gegend hervorrufen.
       
       Und jetzt also die nationale Front für die Umwelt – nur die rechten
       Populisten sind nicht dabei. „Das Gesetz verpflichtet alle kommenden
       Regierungen langfristig zum Klimaschutz“, sagt van der Lee. Die Bedingungen
       sind günstig, findet der Linksgrüne: Die öffentlichen Kassen sind voll, die
       Pensionsfonds suchen nach Anlagechancen, die Umstellung der Wirtschaft sei
       eine gute Investition in die Zukunft. Dazu kommt, dass die Niederlande es
       gewohnt sind, Konsens herzustellen. Was in Deutschland der „runde Tisch“
       ist, heißt hier „Polder-Modell“, das noch aus der Zeit stammt, als alle
       anpacken mussten, um das Land vor dem Wasser zu schützen: Man sitzt
       zusammen, redet, bis es einen Kompromiss gibt.
       
       ## Das Polder-Modell
       
       Das Niveau ist allerdings manchmal niedrig. Das zeigt sich am 10. Juli im
       großen Saal des „Sozial-Ökonomischen Rats“ (SER), einem Betonbunker neben
       dem Hauptbahnhof von Den Haag, praktisch dem Heiligen Gral des
       Polder-Modells. Die Reihen sind gut gefüllt mit Journalisten, Lobbyisten
       und Politikern, an der Wand grüßen farbenfrohe Gemälde. Die großen
       Glasfenster gehen ins Grüne, vorn blühen zwei riesige Blumensträuße, und im
       vollbesetzten Saal steigt wie in einem schlecht geführten Treibhaus langsam
       die Temperatur. Der „Klimabeirat“ der Regierung stellt seinen
       „Klimaatakkoord“ vor.
       
       Vier Monate lang haben Beamte, Industrievertreter und Umweltgruppen darum
       gerungen, wie der künftige Kurs aussehen soll. Das 85-seitige Konzept ist
       nur an wenigen Punkten konkret. Die größten Schnitte sind bei der
       Stromerzeugung vorgesehen: Weg mit der Kohle, Windstrom aus dem Meer soll
       bis 2030 verfünffacht werden. Gebäude sollen mit erneuerbarer Wärme geheizt
       werden, überall lässt sich Energie sparen und auf grünen Strom umstellen.
       Bei anderen Fragen, etwa beim Verkehr oder der riesigen Fleischproduktion,
       bleibt der Pakt vage.
       
       Genaue Vorgaben gibt es dagegen für die Treibhäuser: Deutlich weniger
       CO2-Ausstoß bis 2030 und „klimaneutral“ bis 2040, heißt es. Die
       Tomatenfarmer von Maasdijk jedenfalls haben schon mal angefangen. Wilko
       Wisses Firma Lans zapft mit anderen Firmen in der Gegend die Erdwärme an,
       um die Treibhäuser im Winter auf gemütlichen 18 bis 20 Grad Celsius zu
       halten. Noch gibt es technische Probleme, aber langfristig wollen sie so
       etwa die Hälfte ihres Energieverbrauchs einsparen.
       
       Schließlich sind die Tomatenfarmer Spezialisten für den Treibhauseffekt.
       Schon lange leiten sie zusätzliches CO2 in die Treibhäuser, um das Wachstum
       der Pflanzen anzuregen. Weltweit machen sich Klimaforscher Sorgen, weil der
       Anteil am CO2 an der Luft bereits von 350 ppm (Moleküle pro eine Million
       Luftmoleküle) auf über 400 ppm geklettert ist. In den Treibhäusern bei
       Maasdijk sind es 800 ppm.
       
       ## Übertriebene Kostendebatte
       
       An der freien Luft wären solche Werte eine Katastrophe. Um die zu
       verhindern, kommen gewaltige Veränderungen auf die Niederlande zu. „Wir
       haben keine Wahl“, sagt Eric Wiebes, Minister für Wirtschaft und Klima von
       der konservativen VVD, als er vor dem SER um Verständnis für den Pakt
       wirbt. „Wir haben das Pariser Abkommen unterzeichnet und deshalb ist unser
       Klimaziel minus 49 Prozent bis 2030 nicht ambitionierter als bei anderen
       Ländern. Wir beginnen nur früher.“
       
       In der Tat: Deutschland plant sogar minus 55 Prozent bis 2030. Allerdings
       fehlen hierzulande bisher ein Klimagesetz und die Beschlüsse zur Zukunft
       der Kohle, der Gebäude und des Verkehrs. Die sollen erst bis Ende des
       Jahres in den zuständigen Kommissionen gefunden werden – natürlich am
       besten ebenfalls im Konsens. Das ist auch Wiebes Rat an die Deutschen:
       „Jeden einbinden und neue Techniken voranbringen.“ Sein Ressort heißt nicht
       zufällig Wirtschaft und Klima: „Unsere Maßnahmen bis 2030 werden ein halbes
       Prozent unserer Wirtschaftsleistung kosten. Das ist so viel, wie wir für
       Tabak ausgeben.“
       
       ## Gewerkschaft der Kohlearbeiter murrt
       
       Allerdings beschweren sich bereits die Gewerkschaften der Kohlearbeiter,
       dass der Kohleausstieg verkündet wurde, ohne sie zu fragen. Ein Insider aus
       der Gas-Industrie wundert sich, wie die Regierung bei der Schließung des
       Groningen-Gasfelds gleichzeitig auf Einnahmen verzichten und ihre Ausgaben
       erhöhen will.
       
       Ganz entspannt gibt sich die Industrievereinigung VNO-NCW. Deren Direktor
       Cees Oudshoorn hat von seinem Büro im zwöften Stock den Überblick über die
       Hauptstadt. „Der Klimaplan ist erst einmal nur ein Papier, es kommt drauf
       an, wie er umgesetzt wird“, sagt er und lehnt sich in seinem Stuhl zurück.
       Die Kostendebatte hält er für übertrieben: „Unser Gesundheitssystem kostet
       uns ein Mehrfaches, 12 Prozent der Wirtschaftsleistung.“
       
       Allerdings macht Oudshoorn auch klar, was er von der Regierung erwartet:
       Subventionen für die Industrie beim Umbau. Die dafür nötigen 550 Millionen
       bis 1 Milliarde Euro jährlich sind eine der ganz wenigen konkreten Zahlen
       im „Klimaatakkoord“. Hinter den Kulissen wurde darum hart gekämpft,
       berichten Teilnehmer. Die Industrie habe darauf beharrt: „Wir zahlen gar
       nichts.“
       
       Auch deshalb bleiben die Umweltschützer von „urgenda“ skeptisch gegenüber
       Industrie und Regierung. Das Klimagesetz sei „größtenteils symbolisch“,
       sagt Dennis van Berkel, Jurist bei der Organisation. Es beschränke sich
       darauf, den Klimawandel bei 2 Grad zu bremsen – und nicht bei 1,5 Grad, wie
       ebenfalls im Pariser Abkommen angepeilt. Vor allem aber: Die Regierung hat
       trotz aller Erklärungen und Pläne zum Klimaschutz ihren Einspruch gegen das
       Urteil von 2015 nicht aufgegeben. Am 9. Oktober entscheidet die nächste
       Instanz, ob die Regierung den Klimaschutz tatsächlich ernst nehmen muss.
       
       2 Aug 2018
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Bernhard Pötter
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Pariser Abkommen
 (DIR) Schwerpunkt Klimawandel
 (DIR) Niederlande
 (DIR) Treibhauseffekt
 (DIR) Cannabis
 (DIR) Protest
 (DIR) Schwerpunkt Klimawandel
 (DIR) Nachhaltigkeit
 (DIR) Europäische Union
 (DIR) Niederlande
 (DIR) Emissionshandel
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Klischeefreies Kiffen in Groningen: Das besondere Küstengefühl
       
       Die Niederländer*innen haben einen entspannten Umgang mit Cannabis. Für
       viele Studierende aus Oldenburg ist das ein Grund für einen Besuch.
       
 (DIR) Klimaproteste gegen Kohle: Holland in Klima-Not
       
       Die niederländische Politik windet sich gegen das geplante Klimagesetz.
       AktivistInnen drängen auf einen schnelleren Ausstieg aus fossiler Energie.
       
 (DIR) Anton Hofreiter zum Klimaschutz: „Die größte Aufgabe der Menschheit“
       
       Die Grünen wollen Klimaschutz in der Verfassung verankern. Fraktionschef
       Anton Hofreiter erklärt, was das ändern würde.
       
 (DIR) Aktion für mehr Nachhaltigkeit: Friesland testet Mobilität ohne Fossile
       
       Umstieg auf nachhaltige Fortbewegung: Mit „Friesland fossilfrei“ probierte
       eine niederländische Provinz den Abschied von Gas und Öl.
       
 (DIR) EU einigt sich auf mehr Energie-Effizienz: Sparschwein statt Ökosau
       
       Strom und Wärme sollen bis zum Jahr 2030 um ein Drittel besser genutzt
       werden. Neue Quoten sind allerdings rechtlich nicht verbindlich.
       
 (DIR) Niederlande wird Nachhaltigkeitsboss: Die Klimastreber aus Den Haag
       
       Die neue Mitte-rechts-Koalition macht die Niederlande zum neuen weltweiten
       Ökovorreiter. Allerdings kam das alles nicht ganz freiwillig.
       
 (DIR) Debatte Klima: Sonne und Wind trotz Kioto
       
       UN- Klimaschutzverhandlungen sind voller Beschränkungen und ziehen negative
       Effekte nach sich. Wer das anerkennt, kann über Alternativen sprechen.