# taz.de -- Kolumne Gott und die Welt: Berichte aus den Todeslagern
       
       > Es gibt immer weniger Überlebende von Nazi-Verbrechen. Schriftliche
       > Zeugnisse werden wichtiger.
       
 (IMG) Bild: Der Arm von Robert Cohen, einem ehemaligen Häftling des KZs Auschwitz-Birkenau.
       
       Die vor Kurzem in Berlin eröffnete aufsehenerregende
       Jugendgerichtsverhandlung gegen einen jungen Syrer, der im Stadtteil
       Prenzlauer Berg [1][einen Kippa tragenden Mann angegriffen hatte] und dabei
       gefilmt wurde, hat die Frage nach obligatorischen Gedenkstättenbesuchen
       migrantischer Jugendlicher erneut auf die Tagesordnung gesetzt. So treibt
       die Frage, ob zumal Jugendliche, sofern sie aus muslimischen Ländern kommen
       und daher erwartbar ein gewisses Maß an israelbezogenem Antisemitismus
       mitbringen, obligatorisch Besuche in KZ-Gedenkstätten absolvieren sollen,
       noch immer die Szene der politischen Bildung um.
       
       Und das, obwohl die Zahl dieser Immigranten deutlich zurückgegangen ist,
       obwohl – wie eine Allensbach-Umfrage jüngst ergeben hat – der
       Antisemitismus in Deutschland insgesamt zurückgeht, aber unter AfD-Wählern
       besonders stark ausgeprägt ist. Aus langjährigen Begleitforschungen zu
       derartigen Besuchen lässt sich gesichert sagen, dass sie – sofern nicht
       intensiv vorbereitet und penibel nachbereitet – wegen mangelnder
       Nachhaltigkeit ebenso gut unterbleiben können.
       
       Wenn etwas nicht gebraucht wird, dann eine Form von kurzlebigem
       KZ-Tourismus, der von den Besuchern im besten Fall als interessanter
       Aufenthalt, im schlechtesten Fall als nur noch abzuwehrende Zwangsmaßnahme
       erfahren wird. Das wäre besonders der Fall, wenn derartige Besuche
       ausschließlich von kürzlich eingewanderten Jugendlichen unternommen werden,
       nicht aber, wenn dies – was für eine staatsbürgerliche Bildung im Sinne des
       Grundgesetzes unerlässlich ist – von allen Schülerinnen und Schülern
       erwartet wird.
       
       Tatsächlich steht einer Pädagogik des Eingedenkens ein tiefgreifender
       Umbruch bevor. Politikern und Pädagogen, KZ-Gedenkstätten sowie in Schulen
       engagierten Lehrerinnen und Lehrern ist bewusst, dass die letzten
       Zeitzeuginnen und Zeitzeugen aufgrund ihres hohen Alters, ihrer ohnehin
       angeschlagenen Gesundheit und dem absehbaren Ende ihres Lebens als
       authentische Zeugen immer seltener zur Verfügung stehen.
       
       Über Jahre hinweg galt es als Königsweg, Überlebende der
       nationalsozialistischen Verbrechen einzuladen. Deren erschütternde
       Lebenszeugnisse sowie ihr großer Altersabstand zu den Schülerinnen schufen
       eine Atmosphäre des Respekts ebenso wie der Berührbarkeit: eine
       unübertroffene Chance, die schwierige, spontan abstoßende Thematik Kindern
       und Jugendlichen, die sich in der Lebensphase des Aufbaus ihrer
       persönlichen Identität befinden, nahezubringen.
       
       ## Literarische Zeugnisse werden wichtiger
       
       Bei dem daher jetzt zu vollziehenden Übergang vom „kommunikativen zum
       kulturellen Gedächtnis“ (Jan und Aleida Assmann) werden künftig
       schriftliche, ja literarische Zeugnisse eine immer größere Rolle spielen.
       Dabei wird es nicht nur um das „Tagebuch der Anne Frank“ gehen, sondern
       auch und gerade um Berichte aus den Todeslagern selbst. Gleichwohl wird man
       zumal jüngeren Jugendlichen die literarischen Werke etwa des ungarischen
       Literaturnobelpreisträgers Imre Kertész nicht zumuten können.
       
       Umso besser geeignet ist für diesen Zweck jedoch ein bisher nicht genügend
       beachtetes, noch 2017 erschienenes Buch, das der Frankfurter Verleger
       Abraham Melzer in einer luziden deutschen Übersetzung vorgelegt hat. Das
       Buch von Shalom Weiss, veröffentlicht unter dem Titel „Wie konntest du
       Mensch sein in Auschwitz? Drei Generationen versuchen zu verstehen“, stellt
       nicht nur einen äußerst anschaulichen Bericht über das ungarische Judentum
       der Vorkriegszeit, die Todeslager und den Aufbau des jungen Staates Israel
       dar, sondern – vor allem! – eine außerordentliche pädagogische Leistung.
       
       Denn: Der vierte Teil des Buches enthält auf rund einhundertfünfzig Seiten
       die Fragen sowohl der Kinder des Erzählers als auch die Fragen seiner
       Enkel, auf die er jeweils ebenso klar und engagiert, aber auch authentisch
       emotional antwortet.
       
       Wer als Lehrerin oder Lehrer, als Sozialpädagogin oder Sozialarbeiter mit
       Jugendlichen zusammenarbeitet, lernt an diesem Bericht, wie man das überaus
       schwierige Thema lebensnah, aber auch historisch informiert und leicht
       fasslich präsentieren kann. Es ist dieses Buch, das beispielhaft zur
       Vorbereitung für die allen Schülern zumutbaren Besuche von KZ-Gedenkstätten
       dienen kann.
       
       5 Jul 2018
       
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 (DIR) Micha Brumlik
       
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