# taz.de -- Äthiopien im Umbruch: Man kann wieder frei atmen
       
       > Die politischen Häftlinge sind entlassen. Ein neuer Premierminister
       > regiert. Der Rebell Jibril Ummar bleibt dennoch vorsichtig.
       
 (IMG) Bild: Endlich freie Luft: Straßenszene aus der quirligen Hauptstadt Addis Abeba
       
       Adama/Addis Abeba taz | Menschen eilen durch die Straßen, um dem
       Nieselregen zu entkommen. Am Busbahnhof schleppen Passagiere Gepäck, und
       die Fahrer rufen ihre Ziele aus. Straßenhändler laden zum Kauf, Schuhputzer
       kümmern sich um ihre Kunden. Alltagstreiben im Städtchen Adama, 80
       Kilometer südöstlich der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba.
       
       Die Ruhe ist wieder eingekehrt in einem der Zentren der Revolten gegen die
       autokratische Regierung der EPRDF, wie de regierende Revolutionäre
       Demokratische Front der Äthiopischen Völker abgekürzt genannt wird. Nach
       brutaler Gewalt mit Hunderten Toten und harter Repression wechselte die
       Partei Anfang April dieses Jahres ihren Vorsitzenden aus, der zugleich als
       Regierungschef der starke Mann Äthiopiens ist. Neuer Premierminister wurde
       der Reformer Abiy Ahmed.
       
       Jetzt bestehen in dem brodelnden 100-Millionen-Land riesige Erwartungen,
       und das Reformtempo ist enorm. Zehntausende politische Gefangene sind frei,
       Hardliner der mächtigen Sicherheitsorgane pensioniert. Es gibt wieder eine
       freie Presse. Und am Sonntag reichte Abiy – in Äthiopien ist der erste Name
       immer der entscheidende – sogar dem Erzfeind Eritrea die Hand.
       
       Diese Änderungen spürt man bei den Menschen. Sie sind heiterer als früher
       und sprechen lauter auf der Straße, in Kneipen und in den Parks. Es liegt
       eine ungewohnte Frühlingsstimmung über dem Land. Dabei hat Äthiopien
       keinerlei Erfahrung mit demokratischen Prozessen.
       
       Etwa 20 Millionen Äthiopier leben in Armut – viel weniger als früher, nach
       Jahren des zweistelligen Wirtschaftswachstums, aber immer noch sind es 20
       Prozent der Bevölkerung. „Die Mehrheit hat bis jetzt wenig vom Wachstum
       mitbekommen“, relativiert Ökonom Bisrat Teshome (35) in der Hauptstadt
       Addis Abeba. „Die Menschen wollen Demokratie, etwas, das wir in diesem Land
       kaum gekannt haben. Aber sie wollen auch ein besseres Leben.“
       
       ## Der erfolgreiche Aufstand der Oromo
       
       Gegen den Kurs der Regierung hatten vor allem die Oromo rebelliert, die
       größte Volksgruppe des Landes. In ihrer Region liegen die Hauptstadt Addis
       Abeba und auch die Stadt Adama. Ihr Aufstand gefährdete das Regime
       existenziell. Nun ist mit Abiy erstmals ein Oromo äthiopischer
       Premierminister.
       
       „Qeerroo“ nennen sich die Oromo-Aufständischen, das Oromo-Wort für junge,
       energische und unverheiratete Männer. Einer von ihnen ist der 28-Jährige
       Jibril Ummar. Er handelt mit Computern und Mobiltelefonen. In einem
       Hotelgarten in Adama erzählt der stämmige junge Mann mit dem Körperbau
       eines Rugbyspielers beim Kaffee vom Aufstand – und von seinen Hoffnungen.
       
       Ummar konnte sein Studium der Elektrotechnik nicht beenden, weil er wie so
       viele Aktivisten im Gefängnis landete, als die Armee damit begann, de
       Oromo-Proteste gegen Landnahme und Benachteiligung gewaltsam
       niederzuschlagen. „Seitdem haben ich reichlich neue Freunde, die ich im
       Kality-Gefängnis in Addis Abeba erstmals getroffen habe“, erzählt er. „Dort
       teilten wir Flöhe und Läuse, es war kalt, und wir litten an mangelnder
       medizinischer Versorgung. Das schafft eine enge Bindung.“
       
       In Äthiopien sind etwa 65 Prozent jünger als 25 Jahre. An der Rebellion der
       Qeerroo waren auch viele Oberschüler beteiligt. „Diese Schüler waren schwer
       zu kontrollieren. Sie zerstörten regelmäßig das Eigentum von anderen
       Leuten, und gerade das wollte die Bewegung nicht“, sagt Ummar. Man habe
       öfters Zusammenkünfte organisiert, um die jungen Demonstranten zu Vernunft
       zu mahnen.
       
       ## Die Heirat muss verschoben werden, Politik geht vor
       
       Wer der Anführer der Qeerroo-Bewegung ist, bleibt bis heute ein Geheimnis.
       Die Mitglieder sind in Gruppen mit jeweils einem Leiter dezentral
       aufgeteilt. Sie konnten sich organisieren, obwohl die Regierung das
       Internet abgestellt hatte und Textnachrichten unmöglich machte. Ummar
       grinst: „Viele von uns wissen Bescheid über IT, und davon haben wir
       profitiert.“
       
       Die Sonne ist herausgekommen und Jibril Ummar lädt zu einem Spaziergang
       durch das Städtchen ein. Es geht am imposanten Bogeneingang des
       Universitätsgeländes vorbei, wo die nun ehemaligen Demonstranten wieder
       Vorlesungen verfolgen. Auch in den Oberschulen sitzen die Protestler jetzt
       wieder in den Schulbänken.
       
       Trotz großer Hoffnungen auf bessere Zeiten will Ummar noch nicht dem Wunsch
       seiner Eltern folgen und heiraten. „Ich muss der Politik genau folgen und
       habe keine Zeit für Ablenkungen“, sagt er. „Wenn es uns nicht gefällt,
       müssen wir nämlich zurück auf die Straße. Wir sind stolz auf unseren Bruder
       Abiy, aber wir können auch nicht vergessen, dass er Teil der autokratischen
       Regierungspartei war, die sich jetzt unter seiner Führung hoffentlich für
       immer ändert.“
       
       Das baumreiche Adama ist ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt. Die Straße nach
       Süden führt nach Kenia. Östlich geht es nach Dschibuti, dessen Hafen am
       Roten Meer von entscheidender Bedeutung für Äthiopiens Import und Export
       ist. Zahllose Lastwagen fahren über die Hauptstraße, Dutzende stehen
       geparkt. Auch die Lkw-Fahrer spielten ihre Rolle in der äthiopischen
       Revolte. Die Blockade der Öltanklaster auf dem Weg von Dschibuti nach Addis
       Abeba war wohl der letzte Anstoß für die politische Umwälzung. „Die
       Chauffeure haben gerne mitgemacht bei der Blockade. Wir brauchten sie kaum
       zu überzeugen“, lächelt Ummar.
       
       ## Handgranaten gegen den neuen Regierungschef
       
       Jibril Ummar lehnt die Frage nach einem Foto ab. Er zieht es vor, im
       Schatten zu bleiben. „Ich bin auch nicht auf Twitter und Facebook zu
       finden. Es reicht mir, dass die Qeerroo meiner Gruppe wissen, wie ich
       aussehe, und dass sie meine Telefonnummer kennen, falls Abiy uns enttäuscht
       oder seine Gegner versuchen, ihn zu stoppen“, sagt er.
       
       Bei einer Regierungskundgebung Mitte Juni in der Hauptstadt flog eine
       Granate auf den neuen Premierminister. Abiy blieb unverletzt, aber zwei
       Menschen wurden getötet. Das Attentat macht deutlich, dass der junge
       Reformer noch gefährliche Feinde im Machtapparat hat.
       
       Nicht nur die jungen Frauen und Männer, die unter Lebensgefahr auf den
       Straßen protestierten, schufen den Wandel. Auch zahlreiche Journalisten,
       Blogger und Internetaktivisten spielten hinter den Tastaturen ihrer
       Computer eine große Rolle. Viele kamen in Haft, andere flohen ins Ausland.
       
       „Es gab überall Polizei und Armee auf der Straße. Jeder schaute über die
       Schulter, um zu sehen, wer mithörte“, erzählt Atnaf Berhane, ein bekannter
       junger Blogger, der im Kality-Gefängnis gesessen hat, über die alten
       Zeiten. Er sitzt entspannt auf einer Terrasse des Taitu-Hotels, des ersten
       und ältesten Hotels in Addis Abeba. In dem ein wenig verfallenen Bau aus
       dem Baujahr 1905 sammeln sich oft junge Aktivisten, trinken unendlich viel
       Kaffee und reden über Politik. Noch vor wenigen Monaten wäre das undenkbar
       gewesen.
       
       ## Glitzernde Metropole und verarmte Bauern
       
       Das freiere Klima in Addis Abeba folgt auf Jahre des Umbaus, die die einst
       beschauliche äthiopische Hauptstadt verwandelt haben. Die Stadt im
       zentraläthiopischen Hochland ist heute ein Dschungel von eng aneinander
       gebauten Glas- und Beton-Hochhäusern. Die neuen Hauptstraßen, gebaut vor
       allem von Chinesen, sind ständig verstopft. Zwischen Autos, Bussen und
       Fußgängern laufen Mehlsäcke transportierende Esel – sie wirken wie ein
       Relikt einer vergangenen Ära, die tatsächlich nicht lange vergangen ist.
       
       Am Rande der Hauptstadt endet das Hochhausmeer abrupt in Äckern und Wiesen.
       Vor vier Jahren startete die Regierung eine umfangreiche Umwidmung von
       Ackerland für Industriegebiete und Wohngebäude. Die Bauern aus dem
       Oromo-Volk protestierten vergeblich: In Äthiopien gilt alles Land als
       Staatseigentum, die Landwirte haben nur ein Nutzungsrecht, das ihnen
       entzogen werden kann.
       
       Studenten schlossen sich den Bauern an. Die großen Pläne für eine riesige
       Erweiterung von Addis Abeba verschwanden wieder in den Büroschränken, aber
       die Proteste hielten an und entwickelten eine Eigendynamik bis hin zum
       Machtwechsel.
       
       Was sagen jetzt die Landwirte? „Unsere Proteste waren der Beginn der
       hoffnungsvollen Veränderung. Aber uns geht es nicht besser“, sagt der
       ehemalige Bauer Alemu Yirgu. Der 68-Jährige sitzt mit ein paar anderen
       Männern vor einer Reihe von Einzimmerhäuschen, gebaut aus Lehm und Stroh
       mit Wellblechdach, im Dorf Sefer Addis. „Mit der Entschädigung für die
       Enteignung unseres Landes konnten wir uns nur solche Wohnungen leisten.“
       
       Sefer Addis liegt am Ende einer Asphaltstraße, eine Siedlung für ehemalige
       Bauern, die der Modernisierung weichen mussten. Aus der lokalen Bar kommt
       laute traditionelle Musik, während auf dem Abfallhaufen gackernde Hühner
       nach etwas Essbarem suchen. In der Ferne ist die Skyline von Addis Abeba zu
       sehen.
       
       Die Regierung übernahm die Äcker dieser Bauern für einen Investor, der
       einen großen Betrieb darauf baute. „Das passierte, kurz bevor die
       Demonstrationen begannen. Wir wagten es nicht, abzulehnen, sonst wären wir
       als unpatriotisch gebrandmarkt worden, weil wir die Entwicklung Äthiopiens
       stoppen würden“, sagt Dita Sebora, ein 48-jähriger ehemaliger Bauer. Er
       verbringt seine Tage in der Siedlung mit seinem jüngsten Sohn, während
       seine Frau in Addis Abeba putzen geht und das Einkommen der Familie
       verdient.
       
       „Die Industrie verjagt die Landwirtschaft“, sagt der alte Alemu Yirgu. Die
       anderen Männer murmeln zustimmend. „Es ist gut, wenn wir Teller
       produzieren, aber darauf soll Essen kommen – und dafür haben wir gesorgt.“
       
       Die ehemaligen Bauern, alle Oromo, freuen sich über die Veränderung im
       Land, aber sie werden Premierminister Abiy erst wirklich trauen, wenn er
       die kleine Entschädigung, die sie bisher bekommen haben, deutlich erhöht.
       „Wir hören und sehen gute Sachen, aber wir möchten selbst eine positive
       Änderung spüren“, meint Alemu Yirgu.
       
       Ochsen ziehen den Pflug, Unkraut wird mit der Hacke entfernt, geerntet wird
       mit der Hand. Etwa 80 Prozent der Äthiopier leben von der Landwirtschaft,
       die oft noch sehr primitiv geführt wird. Meist wird die Ernte von der
       Bauernfamilie konsumiert, die wenigen Überschüsse gehen mit Pferd und Wagen
       oder auf dem Esel zum nächsten Markt. Diese uralte Subsistenzwirtschaft
       wird immer wieder von Dürren belastet – in diesem Jahr werden wohl acht
       Millionen Äthiopier auf staatliche Nahrungsmittelhilfe angewiesen sein.
       
       Für Äthiopiens Regierung hatte Industrialisierung lange Zeit Vorrang vor
       einer Modernisierung der Landwirtschaft. Diesen Kurs unterstützen auch
       junge Geschäftsleute wie Henok Gelatte, Inhaber des
       Plastikflaschenbetriebes „Aqua Plastic Business“. Das Werk des 32-Jährigen
       befindet sich in einem kleinen Industriegelände in einem Arbeiterviertel
       von Addis Abeba, wo es keine breiten Straßen gibt wie im Zentrum, sondern
       schmale Wege mit vielen Löchern. Hier und da sickert Regen durch das
       Fabrikdach.
       
       „Wir müssen industrialisieren“, findet Henok Gelatte. „Das meiste, was wir
       im täglichen Leben brauchen, muss importiert werden. Wir sollten es selbst
       fabrizieren.“ Der junge Unternehmer hat Ringe unter den Augen nach einem
       Nachtflug aus China, wo er eine neue Maschine gekauft hat. „Ich bin nicht
       gut ausgebildet“, berichtet er. „Ich hatte kaum Startkapital, aber ich
       hatte Expertise. Das hat innerhalb von vier Jahren ein erfolgreiches
       Unternehmen ermöglicht“, sagt er sichtbar stolz. „Es war das vorige Regime,
       das mir auf die Beine geholfen hat.“ Die ersten fünf Jahre braucht er keine
       Steuer auf den Gewinn zu zahlen und kann investieren.
       
       Gelatte war zwar solidarisch mit den Protestierenden, aber selbst ist er
       nicht auf die Straße gegangen. Er freut sich über die Veränderung der
       letzten Monate. „Aber nicht alles an der alten Führung war schlecht. Es gab
       einige gute Wirtschaftspläne. Ich bin mir noch nicht ganz sicher, ob der
       ehemalige Militär Abiy auch eine gute Wirtschaftspolitik entwickeln kann.“
       
       Der Anfang zu einem „neuen Äthiopien“ ist geschafft – aber die härteste
       Aufgabe, nämlich den Menschen ein besseres Leben zu ermöglichen, hat Abiy
       Ahmed erst noch vor sich. Ökonom Bisrat Teshome im Restaurant in Addis
       Abeba schaut um sich auf die vielen jungen Frauen und Männer, die
       konzentriert auf ihre Laptops schauen. „Abiy muss sehr viele Arbeitsplätze
       schaffen. Es gibt eine unendliche Zahl von jungen Menschen, die hoffen,
       dass er ihnen eine gute Zukunft bietet mit einem Job. Wenn nicht – dann
       können sie sich in eine Protestarmee verwandeln, die fähig ist, die
       Mächtigsten nach Hause zu schicken.“
       
       10 Jul 2018
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ilona Eveleens
       
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