# taz.de -- Carles Puigdemont über Kultur: „Ein Funke Anarchie“
       
       > Was die katalanische Kultur ausmacht? Unter anderem Anpassungsfähigkeit,
       > findet Carles Puigdemont, der ehemalige Präsidenten Kataloniens.
       
 (IMG) Bild: Carles Puigdemont auf einer Pressekonferenz in Berlin
       
       Unsere Autorin traf Carles Puigdemont, den ehemaligen Präsidenten
       Kataloniens, der zurzeit noch in Berlin auf die Entscheidung der Gerichte
       über eine mögliche Auslieferung an Spanien wartet, am Rand einer Debatte in
       der TU Berlin. Die Gelegenheit nutzte sie, um ihn als Begründer der
       englischsprachigen Zeitschrift Catalonia Today nach der Kultur seines
       Landes zu befragen, die im Europäischen Kulturerbejahr 2018 im Zentrum der
       katalanischen Tourismuswerbung steht.
       
       taz am wochenende: Herr Puigdemont, wie erklären Sie hier in Deutschland
       den Menschen, was Katalonien ist? 
       
       Es ist eine alte europäische Nation karolingischen Ursprungs mit
       Gebräuchen, Traditionen und gesellschaftlichen Organisationen, wie sie auch
       den meisten anderen europäischen Nationen eigen sind. Dabei hat diese
       Nation es geschafft, obwohl sie sehr klein und von zwei großen Mächten,
       Spanien und Frankreich, umgeben ist, seit über tausend Jahren zu überleben.
       Oft musste sie sich gegen ernsthafte Bedrohungen verteidigen, gegen
       Versuche, ihre Sprache und Institutionen zu vernichten. Insofern ist es ein
       kleines Wunder, dass eine Kultur, die so viele Jahrhunderte hindurch
       bedroht und verfolgt war, immer noch existiert. Und das ist etwas, auf das
       Europa stolz sein und das es beschützen sollte, weil es Teil seiner
       Vielfalt und seines kulturellen Reichtums ist.
       
       Welches sind die Identitätszeichen der katalanischen Kultur? 
       
       Es ist eine Kultur, die sich zusammen mit den jeweiligen Bedingungen
       verändert. Vor hundert Jahren gab es zum Beispiel in Katalonien eine
       weitgehende Akzeptanz des Stierkampfs. Heute gilt er als etwas
       Verabscheuungswürdiges. Und ich denke, darin liegt gerade die Stärke des
       Charakters, in der Fähigkeit, sich an die verschiedenen Einflüsse
       anzupassen und auch den Einwanderungswellen der letzten Jahrhunderte
       gegenüber offen zu sein. Das hat zum Glück auch das Entstehen eines
       ethnischen Nationalismus verhindert, der im 19. und 20. Jahrhundert
       teilweise in Mode war. Wir fragen ja nicht: Wer ist Katalane? Sondern: Wer
       will Katalane sein?
       
       Doch was ist nun das spezifisch Katalanische? 
       
       Wir haben zum Beispiel keine Bodenschätze, dafür aber eine strategische
       Position, was die Einflüsse verschiedener Kulturen angeht. Zu dieser
       Mischung von äußeren Einflüssen gesellt sich ein großes kreatives
       Potenzial. Das kann man am Modernisme, den Avantgarden vor und nach den
       Kriegen, ablesen, und jetzt beispielsweise an der Küche oder der
       Architektur. Aber Katalonien war auch immer ein Land, das Innovation und
       Forschung begünstigt hat. Es ist dieses Gleichgewicht zwischen Altem und
       Neuem, zwischen Seny (Vernunft, Anm. d. Red.) und Rauxa (Leidenschaft),
       zwischen dem Lokalen und dem Kosmopolitischen, zwischen einer offenen
       Weltstadt wie Barcelona und den Pyrenäen.
       
       Wo kann ein deutscher Tourist konkret erleben, was katalanische Kultur ist? 
       
       Je nachdem, was er sucht. Er kann das bei Tisch im Celler de Can Roca
       erleben oder auch in der Miró-Stiftung in Barcelona. Er kann den Modernisme
       erleben oder den Surrealismus im Dalí-Museum von Figueres. Man kann, wenn
       man durch den Call von Girona läuft, tiefste Spiritualität erleben und auf
       den Spuren der großen Kabbalisten wandeln. Oder ob es die romanischen
       Bauwerke von Taüll in den Pyrenäen sind – in jedem Winkel kann man
       sozusagen eine Geschmacksprobe von katalanischer Kultur bekommen.
       
       Neben mehr als einem Dutzend Bauwerken gehören auch katalanische Feste zum
       Weltkulturerbe der Unesco. Bei einigen Festen gibt es ganz verrückte Dinge
       wie die Nit de Sant Joan, bei denen viel Feuer im Spiel ist. 
       
       Ja, das sind der Seny und die Rauxa. Und genau dieses glückliche
       Zusammenwirken von beidem ist kennzeichnend für Katalonien. Natürlich führt
       das nicht immer zu einem glücklichen Ergebnis. Manchmal ist die Rauxa nicht
       angebracht. Es gab Exzesse wie zum Beispiel im Spanischen Bürgerkrieg …
       
       Würden Sie in der jetzigen Situation auch von einem Exzess sprechen? 
       
       Nein, im Gegenteil. Ich glaube, dass sie ein schönes Beispiel für das
       besagte Gleichgewicht ist. Wenn wir die großen Mobilisierungen seit 2012
       analysieren, können wir sehen, dass Millionen von Menschen in absolut
       friedlicher Weise auf die Straße gegangen sind, ohne einen Teller zu
       zerschlagen. 50.000 haben in Belgien protestiert mit einer Brigade, die
       hinterher noch die Straße sauber gemacht hat. Die Menschen sind zu großen
       Mobilisierungen wie am 1. Oktober fähig. Aber der Punkt dabei ist, dass wir
       keine Gewalt mögen.
       
       Aber das Feuer schon. Woher kommt diese Affinität der Katalanen zum Feuer
       bei vielen Festen, die oft etwas Anarchisches haben? 
       
       Ja, ein Funken Anarchie ist dabei. In jedem Katalanen steckt auch ein
       kleiner Anarchist, aber im positiven Sinn. Das sorgt für die Kreativität.
       
       Wenn die katalanische Tourismusagentur 2018 zum Jahr der Kultur ausgerufen
       hat, hat das für Sie auch eine politische Bedeutung? 
       
       Nein, die Politik muss vielmehr die Mittel bereitstellen, damit die Kultur
       ihre Rolle als Transformator der Gesellschaft erfüllen kann, egal, ob uns
       das gefällt oder nicht. Wir haben einen sehr ernsthaften Konflikt mit dem
       spanischen Staat wegen der Verfolgung von Musikern, von Rappern, deren
       Texte vielleicht provozieren und beleidigen. Aber das ist Teil der
       Kreativität. So etwas darf man nicht kriminalisieren. Die Kultur muss
       kreativ sein und nicht nur Freizeitbeschäftigung oder Konsum.
       
       Wobei in Katalonien auch die Gefahr besteht, dass die Kultur, zum Beispiel
       Gaudí, allzu stark vermarktet wird. 
       
       Natürlich ist es auch wichtig, die Kultur zu demokratisieren und sie für
       jeden zugänglich zu machen. Mag sein, dass der Tourismus eine gewisse
       Gefahr darstellt, aber er ist auch eine unverzichtbare Hilfe für die
       Kultur. Und die Vorstellung, dass der Tourist ein unsensibles Wesen ohne
       wirkliches Interesse an der Kultur ist, erscheint mir als eine unzulässige
       Verallgemeinerung. Wir sind doch alle Touristen. Wenn wir hier in Berlin
       sind, wollen wir auch die Kultur kennenlernen, an ihr teilhaben.
       
       Aber es gibt gewisse Exzesse, gegen die auch die Einwohner von Barcelona
       protestieren. 
       
       Ja, mit denen muss man richtig umgehen. Und es ist nicht leicht, dafür die
       ideale Formel zu finden. Aber die Mobilität und Freiheit der Menschen sind
       ein hohes Gut. Wobei ich glaube, dass ein Land wie Katalonien in einer
       besseren Lage ist als ein Land, das nur ein einziges touristisches Produkt
       anbietet. Wir haben ein Umland, das viele Menschen aufnehmen kann. Wir
       müssen den Leuten, die es nach Barcelona zieht, sagen, dass man mit dem Zug
       in 39 Minuten von Barcelona nach Girona kommt oder in ein paar Minuten mehr
       in die Pyrenäen zum Wandern kann. Wenn wir es richtig anstellen, können wir
       die Auswirkungen einer Venezianisierung Barcelonas in Grenzen halten. Denn
       es ist wichtig, dass wir unsere Umwelt, unser Erbe, unsere Traditionen
       erhalten. Wenn wir das nicht tun und uns nur darauf beschränken, die
       ökonomischen Gewinne einzustreichen, bedeutet das für die Zukunft Armut.
       
       23 Jun 2018
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ulrike Wiebrecht
       
       ## TAGS
       
 (DIR) taz.gazete
 (DIR) Carles Puigdemont 
 (DIR) Katalonien
 (DIR) Katalonien
 (DIR) Carles Puigdemont 
 (DIR) Katalonien
 (DIR) Katalonien
 (DIR) Katalonien
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Kommentar Auslieferung Puigdemont: Doch keine Rebellion
       
       Die deutsche Justiz will Kataloniens Ex-Regierungschef nur wegen
       Veruntreuung ausliefern. Spanische Kollegen fordern eine härtere Strafe.
       
 (DIR) OLG zu katalanischem Separatistenführer: Auslieferung Puigdemonts zulässig
       
       Richter erlauben Überstellung des Katalanen Carles Puigdemont. Aber nur
       wegen Untreue, nicht wegen Rebellion.
       
 (DIR) Neue Regionalregierung in Katalonien: Verhandlungsbereit mit Madrid
       
       Kataloniens Ministerpräsident Quim Torra hat sein Kabinett vorgestellt. Die
       Separatisten setzen nun auf den neuen Chef der spanischen Zentralregierung.
       
 (DIR) Präsidentschaftswahl in Katalonien: Puigdemont setzt auf Plan D
       
       Ex-Regierungschef verzichtet vorläufig auf seine Kandidatur, um die
       Blockade der Justiz zu umgehen. Joaquim Torra soll ihn erstmal ersetzen.
       
 (DIR) Regionalparlamentswahl in Katalonien: Absolute Mehrheit für die Separatisten
       
       Die Unabhängigkeitsparteien stellen nach der Wahl 70 der 135 Abgeordneten
       im Parlament. Mehren sich jetzt die Zweifel an Ministerpräsident Rajoys
       Krisenpolitik?